Presseschau Falsche Debatte um mehr Hartz IV für Bio-Lebensmittel

Anton Hofreiter (Grüne) fordert eine nachhaltigere Landwirtschaft, es folgen mutwillige Missverständnisse, Verachtung und blanker Hass.

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Mutwillig missverstanden? Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Quelle: dpa

Der Grünen-Vorsitzende Anton Hofreiter hat ein Buch über Ernährung in Deutschland geschrieben. Im Gespräch mit der Welt schlug er daran anschließend vor, den Hartz-IV-Satz anzuheben, damit Empfänger nicht unter den steigenden Lebensmittelkosten leiden müssen.

Hofreiter fügte hinzu: Eine zunehmende Umstellung auf nachhaltige Landwirtschaft werde die Preise für Lebensmittel weiter anziehen lassen, bei "erheblichen Verbesserungen" um drei bis sechs Prozent. Aber auch: "Wir wollen ja nicht die gesamte Landwirtschaft sofort auf Bio umstellen."

Beim letzten Satz haben viele Kollegen schon nicht mehr hingehört, die Huffington Post titelte etwa "Grünen-Fraktionschef Hofreiter fordert mehr Hartz IV für Bio-Essen", analysiert dann aber treffender:

"Billigfleisch und Lebensmittelskandale haben zu Recht die Frage aufgeworfen, ob Deutschlands Essen zu billig ist, um gut zu sein. Es wäre also eine gute Sache, wenn auch die Ärmsten mehr Geld für Essen hätten. […] Aber die meisten Hartz-IV-Empfänger dürften vieles nötiger haben als Bioprodukte. […] Bio bleibt für dieses Klientel Luxus - zumal Bio-Produkte im Schnitt rund 30 Prozent teurer sind."

Für Debatten sind die Leser zuständig

Auf der anderen Seite zeigt sich, dass ungesunde Ernährung und geringe Einkommen oft zusammenhängen. Und "bio" hat einige Vorteile: Genauere Kontrollen, mehr Tierschutz, weniger Schadstoffbelastung durch Dünger oder Pestizide, keine Antibiotika und weniger Zusatzstoffe. Darüber könnte man debattieren.

Für die FAZ sind Hartz-IV-Empfänger aber einfach "nicht die typische Zielgruppe für ökologisch produzierte Lebensmittel", denn diese würden kaum an "nicht materialistischen Werten wie Prestige und Gesundheit" denken. Es folgt eine schöne Beispielrechnung über die Kosten einer Komplettumstellung auf Bio-Lebensmittel - "ein Anstieg von gut 75 Prozent".

Dass Hofreiter Teile der Landwirtschaft umstellen und nicht Hartz-IV-Empfänger zu einer Komplettumstellung auf Bio-Lebensmittel zwingen will – geschenkt. Die Autorin vermutet ohnehin, dass es nur um eine Ausrede zur Erhöhung der Sozialhilfe gehe:

Reine Verachtung in den Focus-Kommentaren

Die sachliche Diskussion findet dann immerhin in der Kommentarspalte von FAZ.net statt. "Wir können uns nicht einerseits über Massentierhaltung, billige Milch und Glyphosat beschweren und andererseits den Bedürftigen zumuten, genau diese Produkte zu kaufen, und dann möglichst noch vom billigsten Anbieter", schreibt ein Leser. "Die Vorstellung, das Geld würde einzig für Bio- oder gesunde Lebensmittel ausgegeben, egal in welcher Einkommensschicht, ist sehr naiv", wendet ein weiterer ein.

Bei Focus Online lässt man der moralisch und intellektuell abgehängten Zielgruppe unter einer Agenturmeldung zum Thema mal wieder freien Lauf. Ein Auszug: "Ich wusste gar nicht, dass es Bio Zigaretten und Bio Alkohol gibt denn das sind doch die Grundnahrungsmittel bei einem grossteil", "Nach Informtionen werden für einen Flüchtling 10-15€ pro Tag für Ernährung ausgegeben, für einen Polizeihund 6,20 € und einem Hartz IV Empfänger werden 4,32 € /Tag zugestanden...", "die das ganze bezahlen, die Idioten, die jeden Morgen gegen Halb 6 aufstehen und 10 Stunden arbeiten" (alle unbearbeitet).

Die mediale Ehrenrettung übernimmt ausgerechnet der junge Zeit-Jugendableger ze.tt und fragt einfach seine Leser, ob der Satz erhöht werden sollte. Dabei antworten 47 Prozent mit "Prinzipiell gute Idee, aber wer überprüft, was gekauft wird?" und 32 Prozent mit "Find ich gut! Jede*r sollte sich Bio leisten können." Nur 21 Prozent halten biologische Ernährung für überflüssigen Luxus. Und das ganz ohne Pöbeleien.

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