Textil-Siegel Nachhaltig verwirrt im Baumwoll-Dschungel

Immer mehr Modefirmen wollen auf konventionelle Baumwolle verzichten. Wie sozial und ökologisch die Alternativen sind, lässt sich auf einer Reise zu äthiopischen Kleinbauern erfahren.

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In Afrika wird Baumwolle gepflückt, gereinigt, gesponnen und verpackt - wie fair das abläuft, ist einem europäischen T-Shirt leider nicht mehr anzusehen. (Alle Fotos: Jonas Gerding)

Achim Lohrie versucht gar nicht erst, den Verstand der "Endverbraucher" anzusprechen. So nennt er Tchibos Kunden und die, die es werden sollen. Der Nachhaltigkeitsbeauftragte des Hamburger Handelskonzerns möchte ihnen beibringen, weshalb sie afrikanische Kleinbauern und die Umwelt fördern, wenn sie Kleidung kaufen, die das Siegel "Cotton Made in Africa" (CmiA) trägt.

Um sie zu überzeugen, zeigt er ein Video, das weder afrikanische Kleinbauern noch deren Umwelt zeigt. Der knapp zweiminütige Imagefilm erzählt von zwei gleichaltrigen Mädchen: Mary in Afrika und Hannah in Deutschland, die trotz aller Unterschiede einen ähnlichen Schulalltag erleben. "Bildung ist für alle wichtig", wird schließlich eingeblendet. Marys Schule ist ein Hilfsprojekt, das mit Geldern aus dem Verkauf von CmiA-Produkten finanziert wurde.

"Die Endverbraucher fühlen sich unglaublich emotional angesprochen", erklärt Lohrie das Werbevideo, das bereits über 300.000 Mal auf Youtube angesehen wurde. Nachlesen und nachfragen, was es mit CmiA auf sich hat, können Interessierte ja dann immer noch. Emotion statt Erklärung - zu überfordert wären sie, wenn sie sogleich konfrontiert werden würden mit komplexen Informationen über Gentechnikverbot, Flächenbeschränkungen und Pestizidrichtlinien.

So sehr Lohrie auch hinter seinem Siegel steht, so weiß er doch auch um die Unübersichtlichkeit der konkurrierenden Zertifizierungen von nachhaltiger Baumwolle:  "Die Siegelvielfalt verwirrt natürlich den Endverbraucher." 

Abkehr vom konventionellen Stoff

Textilunternehmen werben nicht nur mit CmiA. Manche verweisen auch auf das Zertifikat der Better Cotton Initiative (BCI), setzen auf Fairtrade Baumwolle oder die Biokriterien des Global Organic Textile Standard (GOTS). Hauptsache, die Baumwolle kann als "nachhaltig" vermarktet werden. Bei H&M beispielsweise soll das 2018 bereits auf das komplette Sortiment zutreffen. 2020 wollen auch C&A, Adidas, Otto und Tchibo soweit sein. Im Jahr 2015 lag der Anteil "nachhaltiger" Baumwolle bei Tchibo bereits bei 85 Prozent.

Weich, praktisch und umstritten: Mit Öko-Siegeln soll afrikanische Baumwolle das Vertrauen europäischer Kunden gewinnen.

"Wir wollen keine konventionelle Baumwolle mehr", verkündet Lohrie. Und macht mit der Formulierung sogleich klar, wie schwer es für Kunden ist, sich etwas unter dem Label der nachhaltigen Baumwolle vorzustellen. In Europa grenzen sich Bio-Landwirte vom "konventionellen" Anbau ab. CmiA ist jedoch nicht mit einem Bio-Siegel zu verwechseln, weil bestimmte Pestizide erlaubt sind. Gleichzeitig ist es jedoch nicht das gleiche wie Fairtrade, obwohl die Bauern soziale Standards erfüllen müssen. 

Wie umweltfreundlich ist nachhaltige Baumwolle also wirklich? Antworten finden sich auf einer Reise in eines der Länder, wo die Pflanze angebaut wird: im ostafrikanischen Äthiopien.

Äthiopien ist etwa dreimal so groß wie Deutschland. Im tief gelegenen und heißen Nordwesten des Landes, nur wenige Kilometer von der sudanesischen Grenze entfernt, liegt das Städtchen Kokit. Schmutzige Straßen, von Lehmhütten, Geschäften und Bars gesäumt, führen zu einem staubigen Platz. Unter einem Schatten spendenden Baum haben sich etwa 40 Kleinbauern auf Schulbänken eingefunden. Darunter sind ein paar Frauen, überwiegend jedoch Männer in gewöhnlicher Straßenkleidung.

Ein Ampelsystem für Afrika

Aufmerksam hören sie zu, was Asefa Aga ihnen erklärt. Der Vorsitzende der äthiopischen Vereinigung der Baumwollproduzenten hat eine zweitägige Reise in die entlegene Region auf sich genommen, um den Landwirten im Auftrag von CmiA zu erklären, wie sich die Baumwollpreise entwickeln, wann sie zu sähen, wie richtig zu ernten und welche Regeln sie einhalten müssen, um nicht aus dem Programm von CmiA ausgeschlossen zu werden.

Asefa Aga beim Feld-Besuch.

Äthiopien ist das elfte afrikanische Land, in dem CmiA mit Kleinbauern zusammenarbeitet. 2005 hat Michael Otto, der Aufsichtsratsvorsitzende des gleichnamigen Unternehmens die Aid by Trade Foundation gegründet und in Benin, Burkina Faso und Sambia damit begonnen, Kleinbauern Zugang zu den Weltmärkten zu ermöglichen.

CmiA soll deren Baumwolle attraktiver machen für die großen Textilkonzerne. 750.000 afrikanische Baumwollfarmer verkaufen heute ihre Ernte unter dem Siegel; mehr als 200.000 sind es beispielsweise in Sambia und etwa 14.600 in der Region Metama in Äthiopien, wo die Stiftung seit eineinhalb Jahren aktiv ist.

CmiA kann nicht jeden einzeln von ihnen prüfen. Die Kontrolle übernehmen externe Untersucher. "Sie gucken auf die Liste der Farmer und nehmen sich willkürlich Farmer aus unterschiedlichen Gegenden als Probe", erklärt Asefa Aga das Vorgehen. Entscheidend dabei ist das Ampel-System, das CmiA eingeführt hat. "Es gibt bestimmte No-Go-Areas", erklärt Asefa. "Die Verwendung verbotener Chemikalien zum Beispiel führt automatisch zu einer Disqualifizierung".

Landwirten, die genmanipuliertes Saatgut einsetzen oder mehr als 20 Hektar bewirtschaften, würde die Stiftung ebenfalls rotes Licht geben. Gelbes bekommen sie beispielsweise, wenn der Boden umweltschonender bearbeitet werden könnte, so Asefa: "Durch Verbesserung lässt sich dann aber auch eine grüne erreichen."

Ein Portal klärt auf

Um Umweltschutz und Sozialstandards geht es bei allen großen Baumwoll-Siegeln. Die jeweiligen Kriterien weichen jedoch stark voneinander ab. Einen hilfreichen Vergleich bietet das Portal Siegelklarheit, das von der Bundesregierung initiiert und von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ausgeführt wird. Selbst Friederike Sorg, verantwortliche Expertin der GIZ, war anfangs verwirrt angesichts der vielen Standards mit ihren unterschiedlichen Kriterien. Gemeinsam mit weiteren Fachleuten der Branche nahm sie sich die Standards genauer vor und bereitete sie übersichtlich auf. "Das war eine lange Reise", sagt sie heute über die Arbeit, das Vergleichsportal für Laien aufzubauen.

Welchem Siegel man vertrauen kann, welche mit Vorsicht zu genießen sind und wie die afrikanischen Bauern profitieren, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Vor dem Spinnen müssen in einer Fabrik die Kerne aus der Baumwolle entfernt werden.

Der Biostandard GOTS blickt nicht nur auf die Zustände auf den Feldern, sondern auch auf die der Weiterverarbeitung. Siegelklarheit bescheinigt GOTS eine sehr hohe Umweltverträglichkeit; allerdings nur eine mittelmäßige Sozialverträglichkeit. Die Einhaltung von Menschenrechten und Arbeitsgesetzen beispielsweise werde kaum berücksichtigt.

Bei Baumwolle des Fairtrade Labels hingegen werden diese Kriterien stärker gewichtet, dafür aber Umweltaspekte wie der Wasserverbrauch vernachlässigt. Unterm Strich werden jedoch beide Siegel als "sehr gute Wahl" bewertet.

Lediglich eine "gute Wahl" seien BCI und CmiA. Zwar erfüllen beide die Mindestanforderungen an Sozialverträglichkeit. Darunter fällt beispielsweise das Verbot von Kinderarbeit, das Recht auf eine Arbeitnehmervertretung und die Zahlung einheitlicher Löhne. Beim Umweltschutz jedoch werden die Mindestanforderungen nicht komplett erfüllt. So gibt es bei CmiA gibt keine Einschränkung von Kunstdüngern, wie das bei Bio-Produkten der Fall ist. Nur ohnehin verbotene Pflanzenschutzmittel lässt CmiA nicht zu.

Weder Bio noch Fairtrade

Friederike Sorg möchte mit dem Informationsportal auf verbesserungswürdige Punkte hinweisen. Trotzdem hat sie Verständnis für die Unterschiede zwischen den Anbietern. "Cotton Made in Africa ist ein Einstiegsmodell, damit Farmer in Trainingsprogramme kommen und sich über die Zeit hinweg verbessern können hinsichtlich der Nachhaltigkeit", sagt sie über die Hamburger Initiative. "Fairtrade ist viel strenger und fordert gleich zu Beginn sehr viel, das ist ein anderer Ansatz."

Diese Unterschiede spiegeln sich auch in den Handelszahlen wider, die die Bremer Baumwollbörse veröffentlicht. Während CmiA zuletzt 400.000 Tonnen Baumwolle jährlich produzieren ließ, waren es bei Fairtrade lediglich 16.000 Tonnen. Insgesamt liegt der Gesamtanteil von Bio-Baumwolle, BCI, CMIA und Fairtrade bei nur etwa zehn Prozent.

Fertige Baumwollpakete für den Export in wohlhabendere Länder.

Christina Ben Bella kennt die Kritik am Pestizideinsatz. "Im Nachhaltigkeitsstandard von CmiA spielen neben sozialen und ökonomischen auch ökologische Kriterien eine bedeutende Rolle", erwidert die Projektleiterin von CmiA. Von Hamburg aus kümmert sie sich unter anderem um Marketing- und die Öffentlichkeitsarbeit der dahinter stehenden Aid by Trade Foundation.

Unterschiedlich strenge Details

Sie verweist darauf, dass in anderer Hinsicht CmiA sogar höhere Standards als die der Bio-Zertifikate erfülle. "Es kann beispielsweise nur Regenwasser zum Anbau verwendet werden", sagt Ben Bella. "Im globalen Vergleich kann mit CmiA-Baumwolle mehr als 500 Liter Wasser pro T-Shirt gespart werden." Der Verzicht auf Bewässerungsanlagen lässt den durchschnittlichen Verbrauch von gigantischen 2000 Litern also erkennbar sinken. Dies sei wichtig für Länder wie Äthiopien, die ohnehin von Trockenheit geplagt sind.

Ben Bella arbeitet in einem unscheinbaren dreistöckigen Gebäude gegenüber dem weitläufigen Firmenkomplex der Otto Group, dessen Aufsichtsratschef Michael Otto das Projekt angestoßen hat. "Die Aid by Trade Foundation hat mit Cotton Made in Africa einen Nachhaltigkeitsstandard auf den Markt gebracht, der Unternehmen eine nachhaltige und zugleich massenmarkttaugliche Alternative zu konventioneller Baumwolle bietet."

Um ihnen nichts überzustülpen, müsse auf einem moderaten Level begonnen werden. "Unser Ziel ist, vielen Kleinbauern mithilfe von Trainings zu ermöglichen ihre Produktion Schritt für Schritt auf eine umweltfreundliche Grundlage zu stellen und sie dabei zu unterstützen, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern", sagt Ben Bella.

Dafür toleriert CmiA Abstriche bei der Ökologie. Wer dennoch die Biostandards anderer Siegel wie die des GOTS erfüllt, kann sie zusätzlich zum CmiA Siegel anrechnen lassen - und die Baumwolle unter dem Label "CmiA organic" vermarkten. In Tansania gehen tausende Kleinbauern diesen Weg.

Zuckersirup für die Zweifler

Asefa Aga teilt den pragmatischen Ansatz von CmiA. Bevor der Äthiopier zum Vertreter der Baumwollfarmer wurde, hat er selbst auf einer Farm gearbeitet. Landwirte würden sich nur von Veränderungen überzeugen lassen, von denen sie auch einen wirtschaftlichen Vorteil erwarten können, meint er. Am besten ließe sich dies am Ort des Geschehens vermitteln. Bei seinen Schulungen organisiert Asefa Aga deshalb Minibusse, um die Landwirte zu einem der Felder zu bringen. 

Zwischen brusthohen Baumwollpflanzen ist ein aufgeschlitzter gelber Kanister an einem Holzstock befestigt. Im Inneren klebt ein brauner Sirup. Nachtfalter verfangen sich in ihm beim Naschen des süßen Safts – und werden daran gehindert, zu den Baumwollknospen zu flattern und in ihnen ihre schädlichen Larven loszuwerden.

Zuckerfallen helfen den Bauern dabei, auf Pestizide verzichten zu können.

"Der afrikanische Bollwurm greift die Knospen an und verursacht 25, ja manchmal 35 Prozent Produktionsausfall", erklärt Asefa. Die Landwirte verzichten nicht allein aus ökologischen Gründen auf einen intensiven Einsatz von Pestiziden. Pestizide sind teuer - und Asefa zeigt in seinen Seminaren, dass es Alternativen gibt: "Dadurch wissen die Farmer, dass beispielsweise das Aufstellen einer Zuckersirupfalle tausendmal günstiger ist als Chemikalien zu sprühen."

Wenn noch etwas Überzeugungsarbeit nötig ist, greift Asefa schon einmal zu einer der Plastikflaschen, mit denen der Zuckersirup nachgefüllt wird und nimmt einen Schluck. Mit der zähen Flüssigkeit spült er auch die Bedenken der skeptischen Landwirte herunter.

Der 46-jährige Ayechew Mengiste gehört zu den erfahrenen Bauern.

Ayechew Mengiste ist einer der Baumwollfarmer, der nun CmiA beliefert. Bislang hat sich der 46-Jährige teilweise mit dem lokalen Markt begnügt und Sesam, Süßkartoffeln und Hirse angebaut. Jahrzehnte unter der Sonne und auf den Feldern haben Furchen in Gesicht und Hände des Landwirts gegraben Vor Jahren hatte er schon einmal Baumwolle angebaut. Damals hat es sich nicht rentiert. Als CmiA die Kooperation anbot, hat er wieder damit begonnen.

Ayechew gehört zur ersten Generation äthiopischer Kleinbauern, die nun Baumwolle anpflanzt, die schließlich weiterverarbeitet und als Shirts, Hosen und Bettwäsche in den Einkaufsregalen wohlhabender Länder ausliegen wird. "Wir Bauern wollen noch mehr Baumwolle produzieren", verkündet er zuversichtlich. "Wir haben keine Sorge mehr, an wen wir unsere Baumwolle verkaufen sollen."

Mit Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung, die diesen Beitrag mit ihrem Journalisten-Stipendium ermöglicht hat.

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