Vordenker Jeremys Gratis-Welt

Steht der Kapitalismus vor dem Aus? Nicht ganz. Aber er wird massiv an Bedeutung verlieren, sagt der amerikanische Bestsellerautor Jeremy Rifkin voraus.

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Das Zeitalter des Kapitalismus geht zu Ende." Durchaus provokant beginnt Jeremy Rifkin, US-Ökonom, Bestsellerautor und Berater internationaler Konzerne, sein neues Buch. Der 69-jährige Visionär ist darin nicht etwa zu einem linken Theoretiker konvertiert. Vielmehr beschreibt er, wie ein bald allgegenwärtiges Internet die Wirtschaftsordnung untergräbt und auf den Kopf stellt. In "The Zero Marginal Cost Society" - zu Deutsch etwa: Die Umsonst-Gesellschaft - entwickelt Rifkin, basierend auf Zeitgeist und technischen Trends, einen Zukunftsentwurf der Welt - und stellt dazu fünf ambitionierte Thesen auf:

1. ARBEIT VERSCHWINDET

Zentrale Bedeutung hat für Rifkin das Internet der Dinge: Alle Gegenstände des Alltags - Autos, Haushaltsgeräte oder auch Kleidung - sind künftig mit Sensoren ausgestattet und übertragen Daten ins Internet. Umgekehrt lassen sie sich darüber steuern. Intelligente Selbstorganisation zum Beispiel der Produktion verdrängt den Menschen. "Fabriken ohne Arbeiter sind schon heute Realität", schreibt Rifkin.

2. JEDER WIRD ZUM FABRIKANTEN

Rifkin sieht die Vorboten dieser Entwicklung in der Kulturindustrie. So sei es Dank des Internets und günstiger Rechner und Kameras möglich, Videos, Fotos und Texte für extrem wenig Geld zu produzieren und im Internet zu publizieren. Ähnliches bahne sich nun in der realen Welt an. Jedermann könne am Computer eigene Produkte kreieren und auf 3-D-Druckern für sehr wenig Geld und mit wenig Aufwand herstellen. Entweder für den Eigengebrauch. Oder er vermarktet sie via Internet. Wenn Produktionskosten aber derart purzeln, werde jeder Mensch irgendwann zum Fabrikanten, so Rifkin.

3. KOSTEN FÜR STROM UND VERKEHR SINKEN

Wer früher einen Freund anrief, der auf einem anderen Kontinent lebte, zahlte sich dumm und dämlich. Heute hingegen kostet die globale Kommunikation via Web fast nichts. Eine ähnliche Entwicklung sieht Rifkin bei der Stromerzeugung und der Mobilität heraufziehen. Solaranlagen und Windräder würden immer billiger und hätten keine Brennstoffkosten. Die Anlagen lieferten elektrische Energie künftig fast umsonst. Und auch die Kosten für Mobilität würden rapide sinken, wenn Autos, Züge und Flugzeuge erst einmal autonom verkehrten. Ein Effekt: Waren und Materialien könnten sehr preiswert transportiert werden, auch das verbillige die Produktion.

4. TEILEN STATT BESITZEN

Schon heute verzichten Millionen Menschen weltweit aufs eigene Auto und mieten sich lieber bei Bedarf eines. Oder sie überlassen ihre Wohnung zeitweise anderen und nutzen Büros gemeinsam. Rifkin ist überzeugt: Der Trend, Produkte mit anderen zu teilen, wird sich in den nächsten Jahren enorm verstärken. Und das ist erst der Anfang einer viel weitreichenderen Entwicklung. Künftig würden sich Gleichgesinnte im Internet zusammenfinden und etwa ihr eigenes Auto konstruieren. Science-Fiction? Keineswegs. Der erste Wagen, dessen Einzelteile beinahe alle aus dem 3-D-Drucker kamen, entstand Anfang des Jahres in Kanada.

5. KOLLEKTIVE VERDRÄNGEN UNTERNEHMEN

Wenn künftig aber fast alles umsonst ist, wie Rifkin glaubt, was wird dann aus den Unternehmen? Ohne ausreichende Gewinne können sie kaum überleben. Rifkin erwartet, dass die Privatwirtschaft in ihrer heutigen Form massiv an Bedeutung verliert. An ihre Stelle treten, so seine Prognose, Zusammenschlüsse, die nicht auf Gewinn aus sind: Vereine, Non-Profit-Organisationen, Projekte von Ehrenamtlichen. Rifkin nennt sie "Collaborative Commons" (in etwa "kooperierende Allgemeinheit"). Sie stellten künftig den Großteil aller Produkte her. Dass der Kapitalismus in den nächsten 40 Jahren völlig verschwindet, glaubt der Vordenker indes nicht. Mit den Collaborative Commons erwachse ihm aber ein sehr ernsthafter Rivale.

Wie in jedem seiner Bücher scheinen Rifkins Thesen auf den ersten Blick gewagt, wenn nicht sogar vollkommen utopisch. Und tatsächlich: Die von ihm vor mehr als zehn Jahren beschriebene und vorhergesagte Wasserstoffwirtschaft hat sich bis heute nicht materialisiert. Stattdessen fahren Autos immer noch mit Benzin und Diesel. Andererseits: Rifkin war einer der ersten, der die durch das Internet ermöglichte Sharing-Economy und 1995 das Ende der Arbeit, wie wir sie kennen und die Umwälzungen in der Wirtschaft voraussagte. Eine These, die durch die zunehmende Computerisierung aller Lebensbereiche aktueller denn je ist. Ihn genau zu lesen, lohnt sich also.

Jeremy Rifkins Buch ist gerade auf Deutsch unter dem Titel "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus" im Campus Verlag erschienen. Anfang September stellt Rifkin sein Buch in Deutschland vor.

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