Wie lange reicht das Erdöl noch? Warum es so gefährlich ist, dass wir die Antwort nicht kennen

Ein Gastbeitrag

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Nein, die vom Club of Rome 1972 vorhergesagten Grenzen des Wachstums sind auch 2015 (noch) nicht eingetreten. Peak Oil, also der Höhepunkt der Erdölförderung, lässt auf sich warten. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie wenig belastbare Prognosen es zur Verfügbarkeit und dem Preis von fossilen Ressourcen gibt – folglich gedeihen die Fehlanalysen wie Unkraut.

Hier nur ein paar Beispiele:

Wer hat Mitte 2014 ernsthaft vorhergesagt, dass wir bis Ende des Jahres einen Preisverfall von dramatischen 60 Prozent beim Erdöl erleben, auf zwischenzeitlich rund 45 Dollar? Das hielten die Experten vor nicht allzu langer Zeit noch für ziemlich teuer und nicht ziemlich billig: Anfang des letzten Jahrzehnts galt ein Barrelpreis von mehr als 25 Dollar laut Aussage der Internationalen Energieagentur (IEA) als verheerend für die Weltwirtschaft.

Der Preisanstieg kam dann viel drastischer, aber das globale Wachstum fand trotzdem statt. Die aktuelle "Preiskorrektur" von plus 30 Prozent seit Januar 2015 wiederum lässt diejenigen schnell verstummen, die zur Jahreswende bereits wieder eine dauerhafte Phase billigen Öls kommen sahen.

Ein weiteres Beispiel völliger Fehlinterpretation: Angeblich stehen die USA laut zahlreicher Medienberichte dank Fracking und Tight Oil unmittelbar davor, Erdöl "Netto-Exporteur" und unabhängig von fossilen Importen zu werden. Was ausgemachter Quatsch ist angesichts der Tatsache, dass der tägliche Verbrauch von 18,9 Millionen Barrel pro Tag einer Eigenproduktion von rund zehn Millionen gegenübersteht.

Auch wenn der Import-Anteil am Gesamtenergieverbrauch so niedrig ist wie seit 29 Jahren nicht mehr, sind die USA noch weit davon entfernt, Netto-Exporteur zu sein.

Die Unsicherheiten überwiegen

Diese vielen kleinen Unsicherheit und Fehlinterpretationen verweisen auf eine viel größere Frage: Kann einer steigendenden Nachfrage nach Erdöl und fossilen Rohstoffen insgesamt mit Mengenwachstum begegnet werden, obwohl das Oberflächenerdöl auch laut Aussage der Internationalen Energieagentur zur Neige geht?

Und können die vorhandenen Bodenschätze mit einer Kapitalrendite geborgen werden, die hierfür auch die notwendigen Investitionen rentabel macht? Es gibt nämlich einen äußerst relevanten Unterschied zwischen theoretisch förderbaren Reserven sowie förderbarer Menge zum Preis von X.

Und ganz abgesehen von der Frage der Verfügbarkeit und der Entwicklung der Fördertechnologien stehen zusätzlich alle verantwortlich handelnden Entscheidungsträger vor der Frage: Wie viel fossile Rohstoffe dürfen wir überhaupt noch verbrennen, um die in internationalen Verträgen verabredeten Klimaziele einzuhalten?

Anhaltspunkte hierfür gibt es: So haben jüngst Wissenschaftler vom Londoner University College errechnet, dass zur Einhaltung des 2-Grad-Klimaziels noch etwa 1.000 Milliarden Tonnen Kohlendioxid emittiert werden dürfen. In den heute bekannten Reserven von Öl, Kohle und Gas ist hingegen die dreifache Menge gebunden.

Verloren im Nachrichtenwirrwar

Wir wissen also dank wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie viel fossile Energieträger wir noch fördern und verbrennen können. Was fehlt sind verlässliche wissenschaftliche Studien über die verfügbaren und zu welchem Preis förderbaren Vorkommen.

Während die Auswirkungen des Klimawandels seit 1988 von Tausenden von Wissenschaftlern im Rahmen des Weltklimarates (IPCC) studiert werden, gibt es hinsichtlich der Knappheiten fossiler Rohstoffe und ihrer Preisentwicklungen ein unübersichtliches Nachrichten-Wirrwarr mit zahlreichen sinnfreien Prophezeiungen aus dem "Analystenbereich".

Angemessene Institutionen und Verfahren, in denen vergleichbar dem IPCC wissenschaftliche Erkenntnisse zu den verfügbaren Vorkommen fossiler Rohstoffe systematisch erarbeitet, veröffentlicht, auditiert und in transparenten Verfahren ausgetauscht würden – Fehlanzeige.

Mit der – bisher vergleichsweise wenig beachteten - Joint Organisations Data Initiative (JODI) gibt es zwar bereits seit 2001 auf internationaler Ebene Ansätze, um zu transparenten Verfahren und Daten zu gelangen. JODI versucht monatlich, die Produktionsdaten von konventionellem Erdöl aller Ölförder-Länder zu erfassen und zu veröffentlichen. Aber die Frage, wie groß die Vorräte noch sind, bleibt auch hier unbeantwortet. An einer umfassenden wissenschaftlichen Befassung mit den fossilen Rohstoffen führt kein Weg vorbei – analog wie es das IPCC für den Klimaschutz gemacht hat.

Die Bundesregierung operiert beim Ölpreis übrigens nur mit technischen Annahmen, nicht mit eigenen Prognosen. Für die gesamtwirtschaftlichen Projektionen schreibe man den Ölpreis auf dem Niveau des Durchschnitts der letztens sechs Wochen vor Abschluss der Projektion bis Ende des Projektionszeitraums fort, so das Ergebnis meiner schriftlichen Anfrage aus dem Januar. Auch hier könnte also die Datenlage optimiert werden.

Ölpreis und Carbon Bubble?

Für den Ölpreis ist allerdings nicht nur entscheidend, welche Vorkommen zu welchen Kosten zu erschließen sind, sondern auch, ob sich Investitionen lohnen. Die Warnungen vor der Carbon Bubble – also einem Wertverfall von Öl- und Gasunternehmen - sind nicht neu. Aber der öffentliche Druck sich mit dem Problem zu befassen steigt, wie die aktuellen gerichtlichen Auseinandersetzungen und Proteste rund um die Investitionsstrategie der Harvard University zeigen, der reichsten Bildungseinrichtung der Welt.

Medienberichten zufolge haben bereits 180 Investoren entschieden, darunter der norwegische Pensionsfonds Storebrand, alle Investitionen aus fossilen Energieunternehmen abzuziehen. Übrigens nicht vorrangig aus Reputationsgründen, sondern weil das langfristige Risiko zu hoch sei.

Die Analysten von Bloomberg New Energy Finance veröffentlichten im August 2014 ein White Paper, das nahelegt, dass die Unternehmen, die mit der Förderung fossiler Brennstoffe ihr Geld verdienen, in absehbarer Zeit einen großen Teil ihres Werts verlieren. Wenn wir die Erderwärmung begrenzen wollen, wird ein Großteil der fossilen Energiereserven im Boden bleiben müssen und wäre somit finanziell wertlos.

Die Berater von McKinsey und dem Carbon Trust halten Vermögenswerteverluste von mehr als 30 bis 40 Prozent bei Öl- und Gasunternehmen für realistisch. Auf den drohenden Wertverlust der Anlagen von Öl-, Gas- und Kohleunternehmen hat Ed Davey, Minister für Energie und Klima im britischen Kabinett, unlängst hingewiesen.

Malcolm Webb, CEO von Oil and Gas UK, dem Verband der britischen Offshore-Industrie, reagierte verschnupft und sah dringend benötigte Investitionen gefährdet, die nötig seien, um die Fördermenge aufrecht zu erhalten. Quod erat demonstrandum. Ob er Davey mit seiner Kritik implizit recht geben wollte, sei dahingestellt.

Was folgt daraus?

Peak Oil scheint fern, der Ölpreis so niedrig wie lange nicht mehr; dauerhaft billiges Öl ist dennoch nicht das wahrscheinlichste Szenario. Unsicherheiten über die Höhe der tatsächlichen Vorkommen, den Förderaufwand und die damit verbundenen Kosten, die Investitionsbereitschaft von Unternehmen und die politischen Rahmenbedingungen – es gibt viele Unbekannte in der Gleichung, die auf den Ölpreis einwirken können.

Werden Kosten unkalkulierbar, steigt die Attraktivität anderer Investments. Für mich ist deshalb die Folgerung klar, dass trotz eines derzeitig niedrigen Ölpreises die wirtschaftliche Vernunft für Investitionen in Erneuerbare Energien spricht.

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Dieter Janecek ist Bundestagsabgeordneter und wirtschaftspolitischer Sprecher von Bündis 90/Die Grünen. Er engagiert sich unter anderem im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Bundestages.

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