Stauverstopfte Städte, Chaosbaustellen, ein komplett überschuldeter Staat und gleichzeitig ein unbändiger Konsumrausch der Bevölkerungsschichten, die es sich leisten können – Exzesse aller Orten und ohne Ende. Genau das attestiert der Bonner Soziologe Meinhard Miegel in seinem neuen Buch nicht nur uns Deutschen, sondern auch der gesamten westlichen Welt.
Eine „kollektive Hybris“ habe uns befallen, wie er in seinem Werk "Hybris. Die überforderte Gesellschaft" schreibt, ein blindes Immer-weiter-so habe die Industrienationen erfasst. Kein Land sei wirklich bereit, die Ausbeutung unseres Planeten zu stoppen, klagt er.
Miegel fordert darum von uns allen, sich endlich mit „Weniger“ zu begnügen. Zugegeben, eine gute und notwendige Idee. Aber leider wohl kaum massentauglich, oder?
Miegels Kritik zielt auf die Unmäßigkeit westlicher Kulturen. Beispiele dafür sind der Berliner Chaos-Flughafenbau, die Hamburger Elbphilharmonie mit ihren explodierenden Kosten, die zuletzt von einst geplanten 77 Millionen auf 789 Millionen Euro stiegen oder der tägliche Stau auf Deutschlands Straßen. Alles soll besser, schneller und effektiver werden, hoffen viele. Doch oft tritt nur das Gegenteil ein. Miegel spricht deswegen auch nicht von einer Krise, sondern von einem allgemeinen Erschöpfungszustand, der aus unserer Gier und Maßlosigkeit entstanden ist und letztlich alle überfordert.
Die Kunst der Beschränkung rettet die WeltMiegels Lösung: Er wirbt für die „Kunst der Beschränkung“. Mit ihr lasse sich die kollektive Hybris, die insbesondere die Industrienationen zum Dauerkonsum verführt hat, überwinden. Ein Beispiel: Der technische Fortschritt. Früher wurde nicht wirklich in der Politik über die Auswirkungen der Kernkraft nachgedacht – die Folgen sind bekannt.
Ähnlich unbefangen gehen wir heute mit der Digitalisierung unserer Welt um, meint Miegel. Wir akzeptieren sie mehr oder weniger ohne großen Aufschrei. Doch stellt die digitale Revolution Miegel zufolge wiederum eine Form menschlicher Hybris dar. Denn sie bringt die zivilisatorischen Ideale in Gefahr, glaubt der Autor. Auf dem Spiel stünde nichts „Geringeres als Menschenwürde, Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums, sein Anspruch auf eine respektierte und geschützte Privatsphäre“.
Miegel hält vor allem den Deutschen gnadenlos den Spiegel vor. Die Bundesrepublik ist für ihn ein Land, das trotz Urban Gardening, Carsharing oder sonstigen hoffnungsvollen Initiativen „noch längst keinen Abschied genommen hat von einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die beinhart die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört“.
Wir haben uns – so Miegel – in einen dichten Kokon der Selbstzufriedenheit eingesponnen. Und: „Die Bevölkerung dieses Landes ist weithin blind für die Lebensbedingungen und die Nöte der Völker um sie herum.“ Denn wie könnte sie sonst von „Hungerlöhnen“ bei Mitbürgern sprechen, deren Kaufkraft dreißigmal so hoch ist wie die einer schwer arbeitenden kenianischen Teepflückerin oder einer Näherin in Bangladesch?
Nicht Kapitalismuskritik, sondern MenschenkritikMiegels langjähriges Credo, dass die Menschen endlich erkennen sollten, „dass weniger mehr sein kann“, gilt auch für sein neues Buch. Nicht das System, den Kapitalismus, hält er für den Schuldigen, sondern die Menschen in ihrer Unersättlichkeit. Ein Paradigmenwechsel sei notwendig. Doch dafür gebe es weder eine Gebrauchsanleitung noch ein Rezept. Miegel setzt auf das Reflexionsvermögen eines jeden, auf Einfühlvermögen und auf die Bereitschaft, sich neuen Bedingungen anzupassen.
Selbst denken, selbst Akzente setzen, selbst handeln – solche Appelle sind nicht neu. Dennoch ist Miegels Buch ein wichtiger und lesenswerter Beitrag für alle, die sich in die Diskussion um Wachstum und Wohlstand einschalten wollen. Zugegeben: Miegels Hoffnung, die Gesellschaft möge innehalten und überlegen, wie man das bereits Erreichte besser nutzen kann, klingt angesichts unserer dominanten und übermächtigen, auf Rausch eingeschworenen Konsumgesellschaft sehr idealistisch. Aber solche Gedanken und vor allem solche Denker brauchen wir. Sonst ändert sich gar nichts.
Über den Buchautor:
Meinhard Miegel, Jahrgang 1939, ist Ökonom und Sozialforscher. Er ist Vorstand des wachstumskritischen Think-Tanks „Denkwerk Zukunft“. Er war Sachverständiger in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Sein Buch "Hybris. Die überforderte Gesellschaft" ist im Propyläen Verlag Berlin erschienen.
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Aufmacherbild via kate-berlin.de. Foto einer Plakataktion des Grafikers Stephan König (www.genausoundanders.de) in Berlin.