Hochgeschwindigkeitszüge Ferrari auf Schienen

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Fährtransport von Siemens-Velaro-Zügen

In der Theorie wären bei der 650-Kilometer-Strecke von Moskau nach St. Petersburg „Reisezeiten von knapp zweieinhalb Stunden möglich“, sagt Siemens-Manager Brockmeyer. Doch unter dem Namen „Sapsan“ — zu Deutsch: Wanderfalke — schafft die Russische Staatsbahn RZD nur eine Verkürzung um eine Dreiviertelstunde auf 3:45 Stunden mit einem Durchschnittstempo von 173 Kilometern pro Stunde. Die Spannung der 3000-Volt-Gleichstromleitung, die den Zug versorgt, ist für hohe Geschwindigkeiten zu gering. Die Oberleitungen würden heiß laufen.

Das ist ein besonders krasser Fall. Doch auch anderswo werden die Grenzen spürbar: Experten halten 400 Kilometer pro Stunde für das Limit — etwa auf europäischen Strecken von London nach Rom. Das ginge allerdings nur „im Idealzustand“, sagt Markus Hecht, Bahnexperte der Technischen Universität Berlin. Schnellere Züge würden sich nicht mehr lohnen.

Bei hohem Tempo verwandeln sich umweltfreundliche Schnellzüge zu unwirtschaftlichen Energiefressern. Das zeigt der Geschwindigkeitsrekord des TGV, der 2007 mit zwei zusätzlichen Loks 574 Kilometern pro Stunde schaffte. Die Loks verbrauchten 20 Megawatt Strom — weit mehr als doppelt so viel wie im Regelbetrieb. Würde so ein getunter TGV im normalen Verkehr eingesetzt, würde er noch deutlich mehr Energie aus dem Netz saugen: Im Versuch war die gezogene Last mit fünf Wagen nämlich eher gering.

Noch ungelöste Fragen

Die Physik ist für die Ingenieure das größte Problem: Der Luftwiderstand nimmt mit jeder Tempoerhöhung zu, aber nicht etwa linear, sondern im Quadrat. Das heißt: Jede Tempoerhöhung erfordert überproportional mehr Energie. Dafür bauen Ingenieure kräftigere Antriebsanlagen ein, die schwerer sind und einen noch höheren Energieeinsatz erfordern. Die Folge: Eine Verdopplung der Geschwindigkeit beispielsweise von 200 auf 400 Kilometer pro Stunde verachtfacht den Energieverbrauch. Irgendwann stelle sich „die Frage, ob man das bezahlen will“, sagt Experte Hecht.

Und nicht nur das: Es steigt auch der CO2-Ausstoß pro Passagier, der im Vergleich zum Auto noch bei einem Viertel liegt. Die Bahn verlöre ihren größten Wettbewerbsvorteil: ökologisches Reisen.

Verbesserungen an der Form der Züge, um den Luftwiderstand zu minimieren, sind zudem nur begrenzt möglich. Weil ICE & Co. auf beiden Seiten einen Triebkopf brauchen — etwa um Kopfbahnhöfe anfahren zu können — müssen die Hersteller „Kompromisse in der Aerodynamik“ eingehen, sagt Hecht. Windabrisskanten, die wie beim Auto am Heck störende Luftverwirbelungen verhindern, sind nicht möglich. Im Gegensatz zum Lärm, sagt Hecht, könne der Luftwiderstand „nicht optimal reduziert werden“.

Auch beim Thema Sicherheit stoßen Experten auf ungelöste Fragen. Die Deutsche Bahn schickt ihre ICE-Züge seit dem Unfall in Köln alle 30.000 Kilometer zur Ultraschalluntersuchung in die Werkstatt. Bahntechniker sollen Risse in Stahlrädern und -achsen rechtzeitig erkennen. Ursprünglich waren die Inspektionsintervalle alle 300.000 Kilometer angesetzt. Die verschärfte Wartung kostet die Bahn rund 350 Millionen Euro.

Siemens setzte die Maßstäbe

Doch trotz aller Sicherheitsvorkehrungen: Noch immer kann kein Experte sagen, wie die hohen Geschwindigkeiten dauerhaft auf das Material wirken. Viele Jahre gingen Wissenschaftler davon aus, dass Risse an Stahlrädern gar nicht erst auftreten, solange sich die Belastungen auf das Material innerhalb einer vorab berechneten Toleranzgrenze bewegen. Werkstoffe halten dauerhaft ohne Ermüdungserscheinungen, so die Philosophie. Heute wissen es die Fachleute besser.

Risse entstehen fast immer. Die Frage ist nur, wie und mit welcher Geschwindigkeit sie sich entwickeln. Einflüsse auf das Material wie Witterung oder auch Steinschläge wurden lange Zeit vernachlässigt, sodass „die ursprüngliche Festigkeit nicht mehr gewährleistet ist“, sagt Andreas Rupp, Experte für Messtechnik an der Hochschule Kempten. Insbesondere im Bereich des Hochgeschwindigkeitsverkehrs seien „noch viele Fragen zu den tatsächlichen Belastungen offen“. Eine Lösung: Die Stahlachsen müssten „um einige Millimeter dicker gemacht werden“, sagt Rupp. Der Nachteil: Dadurch nimmt das Gewicht zu und indirekt auch der Energieverbrauch.

Solange die Unsicherheiten bei der Rissentwicklung den Betrieb einschränken, können auch Neuentwicklungen bei den Antriebsachsen ihre Vorteile nur eingeschränkt ausfahren. Insbesondere Siemens und Alstom wetteifern hier um die technische Vormachtstellung. Schon vor der Jahrtausendwende setzte Siemens mit Triebzügen Maßstäbe. Statt eine Lok vor den Zug zu spannen, wird etwa der ICE 3 über die Achsen jedes zweiten Wagens angetrieben. Diese Triebzüge sind die wichtigste Innovation im Schnellzuggeschäft. Andere Hersteller ziehen nach.

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