Innovationen Unternehmen nutzen Kunden als Ideengeber

Vom Startup bis zum Technologiekonzern: Im Internet entwickeln Unternehmen gemeinsam mit Kunden, Entwicklern und Fans neue Produkte. Das bringt ihnen frische Ideen, ungewöhnliche Perspektiven und mitunter viel Arbeit.

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Ein rollendes Internet-Café mit weißen Designerhockern, Displays, die am Eingang des Zuges die Zahl freier Plätze anzeigen, und ein Bordrestaurant mit geschwungenen Sitzecken, gehüllt in warmes, gelb-weißes Licht: Der Zughersteller Bombardier feilt an den Visionen für die Züge der Zukunft. Doch die Ideen für die Bahnen von morgen stammen nicht etwa aus der hauseigenen Entwicklungsabteilung. Es sind Entwürfe von Igor Krasnov, Sevennine79 und Irinaalexandru. Die drei Designer haben ihre Vorschläge ins Netz gestellt. Sie nehmen an dem im Oktober ausgelobten Designwettbewerb von Bombardier teil. Und der steht jedem offen: Kunden, Partnern, Bahnfahrern und, ja, auch Mitarbeitern des Unternehmens.

Schon kurz nach dem Start gingen rund 2000 Ideen aus aller Welt ein. Einige waren so originell, dass sie quer durch alle Abteilungen diskutiert wurden: Im Vorstandskreis ebenso wie beim Kantinenessen in der Berliner Deutschlandzentrale. „Wir waren überrascht von den ungewöhnlichen Ansätzen“, sagt Martin Ertl, Innovationschef bei Bombardier Transportation, „so weit traut man sich beim herrschenden Kostendruck im Alltag kaum noch zu denken.“

Erstmals in der Geschichte des Unternehmens kommunizieren die Ingenieure über die Internet-Seite des Wettbewerbs direkt mit den Passagieren. „Das“, sagt Ertl, „ist nichts weniger als ein Kulturwandel.“

Der vollzieht sich gerade quer durch die Wirtschaft: Ob beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble, dem Autohersteller BMW oder dem Kosmetikhersteller Beiersdorf: Umfassend wie nie zuvor öffnen sich die Unternehmen für Ideen von außen. Als Open Innovation bezeichnen Experten diesen Ansatz, externes Wissen in die Unternehmen zu bringen, Enterprise 2.0 nennen es andere.

Es ist eine Massenbewegung. Rund 54 Prozent der europäischen Unternehmen nutzen laut dem britischen Analysehaus Economist Intelligence Unit bereits die Ideen ihrer Kunden für Innovationen.

In der Theorie diskutieren Managementexperten das Konzept zwar schon seit Jahren. Doch erst mit dem Aufstieg des Web 2.0 erlebt der freie Wissenstransfer zwischen Unternehmen und dem Rest der Welt seinen Durchbruch. Soziale Internet-Netzwerke sind in der Lage, Menschen mit ähnlichen Interessen oder schlicht Probleme und Problemlöser auf der ganzen Welt zusammenzubringen. Das Social Web wird zum Erfinder-Web.

Enorme Schaffenskraft

Die Spanne der Themen ist riesig. Sie reicht von einer Mini-Kabeltrommel gegen Kabelsalat hinter der Stereoanlage, die auf der Ideenplattform Tchibo Ideas ausgezeichnet wurde, bis hin zu verbesserten Schmierstoffen für neue Motoren, die ein Automobilzulieferer sucht. In den weltweit geknüpften Netzwerken können Unternehmen auf das Wissen Tausender Menschen zurückgreifen, auf die Erfahrungen eines Münchner Chemiestudenten, die Ideen eines Ingenieurs aus San Francisco und die Anregungen eines pensionierten Professors aus Taiwan.

Welch enorme Schaffenskraft die Weisheit der Masse entwickeln kann, zeigt die Erfolgsgeschichte des Computer-Betriebssystems Linux ebenso wie der Aufstieg des Online-Lexikons Wikipedia. Beide sind Ergebnisse weltumspannender Kooperation von Menschen, die hierarchiefrei und aus Idealismus ein Produkt entwickelt haben.

Dieses Wertschöpfungsmodell macht nun eine bemerkenswerte Karriere.

Nicht mehr die Forschungsabteilungen allein bringen Innovationen hervor. Sie entwickeln Produkte nun gemeinsam mit Kunden, Zulieferern und freien Ingenieuren. Innovationsforscher Frank Piller von der RWTH in Aachen bezeichnet das als „Interaktive Wertschöpfung“ oder „Crowdsourcing“. Unternehmen lagern einen Teil des Innovationsprozesses sozusagen an die Crowd, ergo die Masse, aus.

Wenn Piller Vorträge zum Thema hält, sind die Plätze schnell ausgebucht: So gut wie alle deutschen Konzerne, sagt er, „befassen sich mit den Instrumenten der Open Innovation“.

Denn das Innovationsrad dreht sich immer schneller. Laut der Unternehmensberatung Accenture hat sich die Entwicklungszeit in der Autoindustrie in zehn Jahren um 20 Prozent verkürzt. Um den Anschluss zu behalten, planen europäische Industrieunternehmen, ihre Forschungsausgaben nächstes Jahr um 14 Prozent zu erhöhen, ergab eine Umfrage der Bonner Beratungsfirma Simon-Kucher & Partners. Ein großer Schritt. Alle eint dabei die Suche nach Innovationen, die sich schneller in Produkte umsetzen lassen. Diese Ideen zu prämieren ist auch das Ziel des Deutschen Innovationspreises, den die WirtschaftsWoche mit namhaften Partnern wie Accenture und EnBW ausschreibt.

Doch gerade bei dem Schritt, innovative Ideen in marktfähige Produkte zu verwandeln, hapert es: Weniger als 0,5 Prozent der in deutschen Industrieunternehmen verfolgten Ideen werden zu einem Erfolg, hat Simon-Kucher-Innovationsexperte Philip Grothe errechnet. „Open Innovation“, sagt Grothe, „kann diese Flop-Rate deutlich reduzieren.“

Weil die Unternehmen ihren Kunden besser zuhören. Und weil sie an Wissen gelangen, das sie selbst nicht haben.

Lebensrettende Erkenntnis

Dem kanadischen Minenbetreiber Goldcorp rettete die Weisheit der Massen die Existenz – und machte ihn zu einem der Pioniere im Wissensaustausch mit dem Publikum. Vor einigen Jahren rutschte das Unternehmen in die Krise. Der Goldabbau im ostkanadischen Ontario stockte, die Kosten gerieten außer Kontrolle.

Da entschied sich Goldcorp zum radikalen Schritt: Das Unternehmen stellte Hunderte Megabyte geheimer Firmendaten ins Netz. Aufzeichnungen über Bohrungen, geologische Gutachten und Lagepläne. Experten aus aller Welt sollten sich online an der Suche nach Gold beteiligen. Für Hinweise auf übersehene Fundstellen lobte Goldcorp 575.000 Dollar Finderlohn aus. Mehr als 1000 Geologen, Studenten, Rentner und Ex-Militärs aus 50 Ländern halfen, Dutzende neue Fundstellen zu entdecken. Goldcorp überwand die Krise und vervielfachte seinen Börsenwert.

Das Beispiel machte Schule. Kaum ein Unternehmen zapft das Wissen der Massen heute intensiver an als Procter & Gamble. Der Konsumgüterkonzern verschrieb sich 2001 dem Ziel, rund die Hälfte seiner Innovationen von außen einzukaufen. Diese Vorgabe erreichte das Unternehmen vor mehr als zwei Jahren. Wichtigster Baustein der Strategie war die Internet-Seite Connect + Develop. Hier können Kunden ihre Ideen einreichen und an konkreten Problemen des Unternehmens knobeln, wie etwa schmerzfreien Methoden der Haarentfernung oder wirksame Hilfe gegen Halsschmerzen.

Diese Ideen-Spielwiesen im Netz sind das wichtigste Instrument in der offenen Innovationswelt. Das Münchner Unternehmen Hyve hilft seinen Kunden, solche Plattformen aufzubauen. Und vor allem, sie bekannt zu machen. Denn nichts ist frustrierender, als wenn die Masse keine Antwort gibt: Neben sozialen Netzwerken wie Facebook und MeinVZ arbeitet Hyve dafür auch mit Universitäten.

Für den Schmuckhersteller Swarovski etwa brachten die Münchner einen Wettbewerb für innovative Uhren- und Schmuckdesigns ins Netz. In wenigen Wochen bildete sich um die Aufgabenstellung herum eine Designer-Community mit 1600 Menschen aus aller Welt, die mehr als 2000 Vorschläge einreichten. Die von Kunden am besten bewerteten Uhren-Entwürfe wurden umgesetzt.

Solche Wettbewerbe bringen nicht nur frische Ideen in die Unternehmen, „sie stärken auch die Bindung der Kunden an die Marke“, ist Hyve-Gründer Johann Füller überzeugt. Kosten so einer Aktion: 50.000 bis 100.000 Euro.

Das geht auch billiger. Wer keine eigene Web-Plattform will, kann seinen Wettbewerb für um die 4000 Euro auch auf Ideenmarktplätzen wie dem Schweizer Internet-Portal Atizo ausschreiben. BMW etwa sucht dort nach dem Motorrad der Zukunft. Die Community reichte bereits über 770 Ideen ein. Motorräder, so das Zwischenergebnis, müssten künftig vernetzt sein: mit GPS-Ortung und „Buddy-Finder“. Bei BMW ist man begeistert: Über den Wettbewerb „bekommen wir tiefere Einblicke in das, was potenzielle Kunden beschäftigt“, sagt BMW-Produktmanager Carsten Hesener.

Mitunter verraten Kunden ihre Ideen sogar, ohne es zu merken: Im Netz tauschen sie sich nämlich sowieso aus, in Blogs oder Communitys. Hier gibt es die Genies für lau. Ihre Themen reichen von Gadget-Tipps bis zur Bräunungscreme.

Kunden gestalten ihre Produkte

Die Expertise nutzt etwa Nivea-Hersteller Beiersdorf. Mittels eines Analysetools, das den Meinungsaustausch im Netz verfolgt, versucht das Unternehmen zu entschlüsseln, welche Probleme die Kunden mit Selbstbräunern haben – und: wie sie die lösen. Dass die Nutzer frustriert sind über Flecken verunglückter Bräunungsversuche, war bekannt. Nicht aber, dass Profi-Bräuner zum gleichmäßigen Auftragen der Cremes Lackierpistolen aus dem Baumarkt verwenden.

Ob sie es selbst merken oder nicht: Die Kunden sind nicht mehr das passive Publikum von einst. „Sie sind die wichtigste Quelle für Innovationen“, schreiben die Analysten der Economist Intelligence Unit in ihrer Open-Innovation-Studie.

Die Kunden übernehmen sozusagen die Gestaltung ihrer Produkte selbst.

Doch die Unternehmen fragen sie nicht nur nach Ideen. Mittlerweile beschäftigen sie die Netzgemeinde mit hoch komplexen Problemen. Zum Beispiel mit der Frage, welches Molekül Rotwein besser aus weißen Hemden löst. Die meisten Kunden dürften da überfragt sein. Nicht aber die Hundertschaften an Experten weltweit, die sich privat oder professionell mit ähnlichen Fragen befassen.

Sie treffen sich auf Internet-Seiten wie Innocentive. Hier lobte etwa die US-Online-Videothek Netflix eine Million Dollar aus für einen Algorithmus, mit dem das Unternehmen den Geschmack seiner Kunden besser vorhersagen kann. Die kürzlich prämierte Lösung lieferten sieben Statistiker und Programmierer aus den USA, Österreich, Kanada und Israel.

Die Aufgaben bei Innocentive erstrecken sich über alle Fachgebiete: 20.000 Dollar gibt es für neue Ideen, Mais vor Insekten zu schützen, 10.000 Dollar warten auf den Programmierer, dessen Software Kunden-Emotionen entschlüsselt, und 5000 Dollar bekommen Entwickler, die Alternativen für Plastikdeckel präsentieren. Charme des Modells: Gezahlt wird für die Lösung, nicht für den Versuch.

Trotzdem wird oft gezahlt: Laut einer Analyse der Harvard Business School wird jede dritte bei Innocentive gestellte Aufgabe gelöst. Denn die Plattform kann auf ein weltumspannendes Expertennetz zurückgreifen aus 180.000 Ingenieuren, Forschern, Erfindern und Studenten.

Aufgabensteller und Problemlöser lernen sich meist erst nach Abschluss des virtuellen Brainstormings kennen. Sicherheit geht vor. Denn auch wenn Open Innovation klingt wie Open Source: Die Rechte an den Ideen sind meist alles andere als frei. Auf Portalen wie Innocentive vereinbaren die Teilnehmer in der Regel Vertraulichkeit. Gewinnt ein Vorschlag, tritt der Urheber seine Rechte oft ab.

Die Motivation der Teilnehmer bremst das nicht, „sofern die Vereinbarungen als fair empfunden werden“, sagt Füller. Der Innovationsexperte hat sich lange mit der Frage beschäftigt, weshalb Menschen an Projekten im Netz mitarbeiten. Füller hat sogar ein paar Monate am MIT bei Boston dazu geforscht. „Sicher spielen die Preisgelder eine Rolle“, sagt er. Ebenso wichtig jedoch sei, dass Menschen, die sich für ein Thema interessieren, gern Wissen austauschen. Sie sind stolz, wenn sie eine schwierige Aufgabe lösen konnten. Dabei vertiefen sie zugleich ihr Know-how und treffen andere Experten ihres Fachgebiets. Oft, sagt Füller, reiche das als Motivation schon aus.

Die Motivation ist manchmal sogar so groß, dass die Fragesteller mit Vorschlägen regelrecht zugemüllt werden. Doch hier hilft neue Technik: Das Aachener Unternehmen Dialego hat ein Programm entwickelt, das die Zuschriften strukturieren und zu Themenclustern sortieren kann. „Das beste Instrument sind aber die Teilnehmer des Wettbewerbs“, sagt Füller. Gebe man den Nutzern die Möglichkeit, Vorschläge anderer zu bewerten, würden die besten an die Spitze gespült.

Der neue Innovationswerkzeugkasten bringt den Unternehmen nicht nur frische Ideen. Mitunter auch frisches Personal. Nach seinem Wirtschaftsstudium absolvierte Robin Thiemann ein Praktikum bei einem mittelständischen Nutzfahrzeughersteller. Eines Nachmittags wurde er auf einen Wettbewerb aufmerksam: Fujitsu Technology Solutions suchte Konzepte für das Rechenzentrum der Zukunft.

Angeregt durch seine Erfahrung entwarf er ein einfaches Datensicherungssystem für Mittelständler. Fujitsu hatte damals kein passendes Paket für sie im Angebot. Thiemanns Lohn: der erste Preis. Und weil den Fujitsu-Managern seine Art, Probleme zu lösen, gut gefiel, machten sie ihm wenige Tage nach der Preisverleihung ein Angebot. Seitdem arbeitet er in der Strategieabteilung des Unternehmens.

„Open Innovation bringt Wissen ins Unternehmen“, sagt Thiemann. „Und ermöglicht ihnen einen Perspektivwechsel.“ Dafür ist er das beste Beispiel.

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