Intelligente Netze Kampf um das Stromnetz 2.0

Wind- und Sonnenenergie mögen die Umwelt schonen – für Stromnetze bisheriger Bauart sind sie Gift. Um die Technikführerschaft im Milliardenmarkt der neuen, intelligenten Strominfrastruktur ist ein harter Kampf entbrannt.

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Netz-Kontrollwarte

Michael Fiedeldey könnte Geschichte schreiben. Der Geschäftsführer der Allgäunetz in Kempten will noch in diesem Jahr das erste komplette intelligente Stromnetz in Deutschland in Betrieb nehmen. Die Pläne sind fix und fertig. „Jetzt gehen wir zügig an die Umsetzung“, sagt der Strommanager entschlossen. In einem Feldtest mit 300 Haushalten wollen fünf Stadtwerke aus dem Ostallgäu vormachen, wie die neue Energiewelt aussehen könnte.

Es ist eine Welt, in der Kunden nicht mehr nur Strom abnehmen, sondern ihn über Wind- und Solaranlagen sowie Minikraftwerke auch selbst erzeugen und verkaufen werden. In der regenerative Energiequellen, obwohl nur schwankend verfügbar, große Teile der Stromversorgung übernehmen, ohne die Stabilität der Netze zu gefährden. Eine Welt, in der – neben Elektrizität – auch millionenfach Daten durch die Leitungen fließen. Denn Trockner, Waschmaschine und Klimaanlage sollen nicht nur minütlich den Verbrauch übermitteln, sondern sich auch per Steuersignal übers Netz abschalten lassen, wenn Energie knapp wird.

Mit der Berechenbarkeit ist es vorbei

Kein Thema beschäftigt Energiemanager weltweit derzeit mehr als die informationstechnische Aufrüstung der Stromnetze zu einem Internet der Energie. Denn ihre Steuerung ist kompliziert geworden, seit sie immer mehr Wind- und Sonnenstrom verkraften müssen. Klar ist: Mit der alten Infrastruktur lässt sich die Integration des Ökostroms nicht bewältigen. Es steht ein radikaler Umbau der Stromnetze an – von der Steuertechnik über neue Stromzähler und Endgeräte bis zur Möglichkeit, die Stromnachfrage der Kunden über variable Tarife zu beeinflussen. Es geht um ein Milliardengeschäft: Die weltweiten Umsätze mit Komponenten und Systemen für das intelligente Netz werden sich nach einer Studie des US-Beratungsunternehmens Zpryme bis 2014 gegenüber 2009 weit mehr als verdoppeln – von rund 70 auf gut 171 Milliarden Dollar.

Auslöser des Booms ist der Aufstieg des Ökostroms. Früher folgte die Elektrizitätsversorgung überall auf der Welt einem einfachen Prinzip: Gestützt auf langjährige Erfahrung, passten die Energieunternehmen die Stromproduktion an den im Tagesverlauf schwankenden Strombedarf an. Mit Berechenbarkeit aber ist es seit dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien vorbei. Frischt der Wind an den Küsten in Norddeutschland auf, schießen plötzlich Tausende Megawatt zusätzlich in die Leitungen. Die Netzbetreiber müssen dann andere Kraftwerke herunterfahren oder Käufer für die überschüssige Strommengen finden. Denn das Netz bleibt nur stabil, wenn Erzeugung und Bedarf im Einklang sind. Sonst droht der Kollaps.

Regionale Versorger tappen im Dunkeln

Flaut der Wind wieder ab, müssen die Versorger schnell Reservekraftwerke zuschalten können, um den Zusammenbruch zu verhindern. Deren Bau und Betrieb ist teuer und treibt die Strompreise. Vor allem aber ist die heutige Energie-Infrastruktur nicht für abrupte Lastwechsel ausgelegt. „Die Netze sind nicht beliebig belastbar“, warnt Dierk Paskert, Vorstand beim Stromriesen E.On Energie.

In Deutschland verschärft sich das Problem noch durch den wachsenden Wettbewerb im Energiemarkt und die damit verbundene Flut neuer Tarife – ähnlich dem Preischaos im Handygeschäft. Die Vielfalt, fürchten Experten, führe zu noch stärkeren Ausschlägen der Stromnachfrage, je nachdem, ob Strom gerade teuer oder billig ist. Technisch sind die heutigen Netze aber auf den Monopolbetrieb ausgelegt. Auch deshalb ist ihr Umbau überfällig.

Die Betreiber der großen Übertragungsnetze können anhand von Windprognosen zumindest noch abschätzen, wie viel Ökostrom ihre Hochspannungskabel fluten wird. Regionale Versorger mit ihren Verteilnetzen dagegen tappen im Dunkeln. Denn die bisherige Technik liefert ihnen keine Informationen, wie viel Elektrizität aus Solarzellen, Biogasanlagen oder Minikraftwerken ihre Leitungen strapaziert. „Da sind wir blind“, sagt Allgäunetz-Chef Fiedeldey. Ihr Pilotprojekt einer intelligenten Stromversorgung soll den bayrischen Stadtwerkern künftig Klarheit verschaffen. Denn vorbei ist die Zeit, als nur ein paar Hundert Kleinkraftwerke an ihr Verteilnetz angeschlossen waren. Heute sind es Tausende und täglich kommen 40 bis 50 neue Anträge hinzu.

Künftige Stromversorgung für das Ostallgäu Quelle: Illustration: Harvey Symons

Viele andere Regionalversorger stehen vor dem gleichen Problem. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft hat mehr als 470.000 Anlagen für erneuerbare Energien mit einer Leistung von gut 38.100 Megawatt gezählt. Das ist fast ein Drittel der aktuellen Kapazität klassischer Kraftwerke in Deutschland.

Um vor unangenehmen Überraschungen gefeit zu sein, setzen die Allgäunetz-Manager als eine Maßnahme auf den Einbau neuartiger Stromzähler. Die informieren sie künftig über den aktuellen Stromverbrauch der Pilotkunden und die Energieproduktion der Dachkraftwerke und Windräder. Zudem fassen die Stadtwerker die regenerativen Anlagen zu einem virtuellen Großkraftwerk zusammen, das sich einfacher steuern lässt als Dutzende Kleinerzeuger. Zusätzlich erproben sie, ob steigende Preise die Stromkunden dazu bewegen, den Wäschetrockner oder die bäuerliche Kühlanlage für die Milch erst anzuschalten, wenn ausreichend Strom im Netz ist und er billig zu haben ist.

Gläserne Stromkunden

Das entscheidende Problem jedoch ist, ob Großkonzern oder Regionalversorger: Bisher existieren die meisten Ideen nur als Gedankenspiele. Passen sich die Verbraucher tatsächlich dem jeweiligen Stromangebot an, und wie stark müssen die Preissignale sein? Wie viele Energiespeicher müssen vorgehalten werden? Wie bewältigen die Energieversorger die Datenflut, die künftig in ihre Rechner strömt. Bleiben Datenschutz und Privatsphäre gewahrt, wenn die Versorger mithilfe der intelligenten Schaltkästen nachvollziehen können, wann ein Kunde Geschirr spült und Fernsehen schaut? Lassen sich die Netze zuverlässig gegen Hacker schützen? Und vor allem: Wer kommt für die Kosten auf, die die Totalrenovierung der Strominfrastruktur verursacht?

Antworten sollen auch sechs Pilotprojekte liefern, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) – ähnlich dem im Allgäu – nun in Cuxhaven, im Ruhrgebiet, im Ostharz sowie in Aachen, Mannheim und Baden gestartet hat. 60 Millionen Euro stellt es dafür bereit. „Wir brauchen dringend Erfahrungen und handfeste Fakten, um die Idee des intelligenten Stromnetzes praxisreif zu bekommen“, sagt Ludwig Karg, Chef der Münchner Beratungsfirma Baum Consult, der die Projekte koordiniert.

Strom- und Datennetze wachsen zusammen

Auch private Konsortien versuchen mit ersten Praxistests Klarheit über Chancen und Risiken zu gewinnen. In Friedrichshafen am Bodensee etwa arbeiten die Deutsche Telekom und der Energietechnikspezialist ABB mit dem örtlichen Stadtwerk an einem Stromnetz der Zukunft. Erster Schritt war der Einbau von rund 2600 intelligenten Zählern. Für ABB-Vorstandschef Peter Smits ist das Zusammenwachsen von Strom- und Datennetzen nicht mehr aufzuhalten. „Das ist die Voraussetzung, um erneuerbare Energien wirtschaftlich und sicher in das Stromnetz zu integrieren.“

Weltweit fließen daher Milliarden in das Stromnetz 2.0. Die USA wollen dabei eine Führungsrolle übernehmen. Für Präsident Barack Obama haben der Aufbau des „Smart Grids“ – des intelligenten Netzes – und die Förderung erneuerbarer Energien höchste Priorität. Von den 36,7 Milliarden Dollar, die das Energieministerium aus dem im vergangenen Jahr verabschiedeten Konjunkturprogramm bekommen hat, fließen rund 3,4 Milliarden in Technologien und Pilotprojekte für den landesweiten Umbau des Stromnetzes.

Investitionen in intelligente Netze und Komponenten

Die veraltete Energie-Infrastruktur der USA ist dringend erneuerungsbedürftig: Allein 2009 kam es zu rund 100 großflächigen Stromausfällen, die mitunter mehrere Tage dauerten und laut Energieministerium alleine bei den US-Konsumenten Schäden von rund 150 Milliarden Dollar verursachten. Das Förderprogramm für den Aufbau des Smart Grids ist nur der Anfang. Nach Berechnungen des Beratungshauses Brattle Group muss die US-Stromwirtschaft bis 2030 gigantische 1,5 bis 2,0 Billionen Dollar in die Renovierung der Energie-Infrastruktur stecken.

Für die US-Regierung bietet der Umbau der Stromnetze aber auch die Chance, eine völlig neue Industrie im eigenen Land zu etablieren. Die staatlichen Investitionen sollen auch Anschub sein für Unternehmen, die die Technik für intelligente Stromversorgung produzieren. Die Vision ist, die USA zur weltweit führenden Nation in dem Segment zu entwickeln.

Das soll den USA auch auf dem Schlüsselmarkt China die technologische Führung verschaffen. Die Pekinger Regierung will in den nächsten zehn Jahren eines der modernsten Stromnetze der Welt aufbauen – und die USA wollen den Großteil der Technik dafür liefern. Schon in diesem Jahr wird China nach Schätzungen der Zpryme-Analysten 7,3 Milliarden Dollar in den Stromnetzausbau stecken – mehr als jedes andere Land der Erde.

Duell der Industrien

Dabei müssen deutsche und europäische Unternehmen nicht leer ausgehen – im Gegenteil. Roland Bent, Chef des Automatisierungsspezialisten Phoenix Contact im nordrhein-westfälischen Blomberg, weiß aus vielen Geschäftskontakten, wie sehr die chinesische Führung die Kooperation mit Europa sucht. Die knapp 10.000 Beschäftigten des weltweit tätigen Unternehmens erwirtschafteten 2009 mehr als 950 Millionen Euro mit Schaltern, Sensoren und Steuerungen.

Neben dem Kampf der Wirtschaftsblöcke zeichnet sich auch ein Duell der Industrien um die Vormacht im Megamarkt der neuen Netztechnik ab. Dabei stehen den etablierten Netzausrüstern wie Siemens, ABB und General Electric (GE) Größen der Computer-Welt gegenüber wie Cisco, IBM und SAP.

Das Strom-Internet soll sich einst steuern lassen wie heute das World Wide Web. Da wähnt sich die Rechnerfraktion wegen ihrer Erfahrungen mit großen Datenmengen und IT-Infrastruktur klar im Vorteil. Der deutsche Softwareriese SAP etwa hat bereits rund 100 US-Stromversorger in der Kundenliste.

Investition in eine sichere Energiezukunft

Doch kampflos werden die traditionellen Anbieter das Feld nicht räumen, betont Reinhold Achatz, der Chef der zentralen Siemens-Forschung: „Wir sind Marktführer bei Energieautomatisierung und Steuerungstechnik für die Netze und wollen auch bei der Aufrüstung der Netze mit Intelligenz ganz vorn dabei sein.“ Ob die Hoffnung aufgeht, ist noch völlig offen.

Und nicht minder unklar ist bisher, ob die Kunden für die Integration der erneuerbaren Energien in die Stromversorgung am Ende draufzahlen oder ob sie womöglich gar über niedrigere Stromrechnungen profitieren. Siemens-Forschungschef Achatz allerdings hält diese Frage ohnehin für die falsche Diskussion. Der Umbau der Stromnetze sei kein Sparprogramm, sondern eine Investition in eine sichere und klimaverträgliche Energiezukunft. Und am Ende müsse die Kilowattstunde Strom dabei nicht einmal teurer werden. Seine Begründung: „Die Technik der erneuerbaren Energien steht erst am Anfang. Da gibt es noch ein ungeheures Potenzial zur Effizienzsteigerung.“

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