Kernenergie Wie die Atomindustrie Jobs in Deutschland schafft

Die Atomindustrie in Deutschland blüht und wächst. Inmitten der Wirtschaftskrise gibt es sogar neue Arbeitsplätze und Aufträge aus dem Ausland.

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Areva-Chef Gräber: Das deutsche Atom-Know-how blüht acuh ohne Siemens Quelle: Robert Brembeck für WirtschaftsWoche

Ulrich Gräber zeigt sich von der lockeren Seite. In seinem geräumigen Büro erzählt er von der uralten Liebe zu Frankreich, die ihn als geborenen Pfälzer von Kindesbeinen an begleite. Daran habe sich bis heute nichts geändert. Nur – dass die Liebe inzwischen auch dem handfesten Geschäft gilt. Denn Gräber ist Chef des deutschen Ablegers von Areva. Das ist das Unternehmen, das in Paris seinen Hauptsitz hat und das weltweit Anlagen, Ausrüstungen und Großkomponenten für Atomkraftwerke baut.

Gräber koordiniert von der Deutschland-Zentrale im fränkischen Erlangen aus die fünf Konzernstandorte Erlangen, Offenbach, Karlstein, Duisburg und Lingen mit insgesamt 8000 Mitarbeitern. 4500 davon arbeiten ausschließlich im kerntechnischen Geschäft. Ihr täglich Brot ist, wovor andere sich fürchten: Brennelemente, Teststände für Atomkraftwerksanlagen, hermetisch abgeschirmte radiochemische Labore in Erlangen, wo die Kernspaltung simuliert wird.

Die Botschaft des Pfälzers an seine deutschen Landsleute ist so klar wie enthusiastisch: „Wir sind an allen Großprojekten von Areva weltweit beteiligt.“ Triumphierend hält der gelernte Ingenieur einen Ausschnitt aus der französischen Wirtschaftszeitung „Les Echos“ hoch. Darin steht in fetten Lettern, dass Areva-Weltchefin Anne Lauvergeon gerade eine Absichtserklärung mit der indischen Regierung unterschrieben hat, nach der Areva sechs Kernkraftwerke bauen soll. Klar, dass davon auch die deutschen Areva-Werke profitieren werden. Ob Ausstiegsvereinbarung der rot-grünen Koalition von 1998, der freiwillige Verzicht der deutschen Stromwirtschaft auf neue Atommeiler oder das Nein der SPD zur Kernkraft 1986 nach der Tschernobyl-Katastrophe – der mehr oder weniger offene Verzicht in Deutschland auf eine strahlende Energiezukunft hat die Atomindustrie hierzulande nicht ausgelöscht.

35.000 Arbeitsplätze in der Kernbranche

Schätzungsweise 35.000 Arbeitsplätze gibt es in der hiesigen Kernbranche. 30 Unternehmen arbeiten in Deutschland für den Bau, die Modernisierung oder die Wartung von Atomkraftwerken. Dabei ist die Instandhaltung der 17 deutschen Atomblöcke nur Teil eines weltweiten Geschäfts. Nicht nur die Steuerungsingenieure der Atomteststände in Erlangen, auch die Mitarbeiter der konventionellen Energieübertragungs- und Leittechnik zählen zu dem Wirtschaftszweig, die inzwischen unbefangener vor sich hinwerkelt als in den Hochzeiten des Antiatomprotests in den Achtziger- und Neunzigerjahren. In der deutschen Areva-Zentrale in der Paul-Gossen-Straße 100 zu Erlangen, wo der Firmenschriftzug knallrot an der Fassade prangt, gibt es keine Sicherheitsschleusen und keine uniformierten Security-Männer, die einschüchternde Personenchecks vornehmen.

Stattdessen gibt sich die boomende Branche offen und selbstbewusst: „Wir haben im vergangenen Jahr 800 Ingenieure in Deutschland im Bereich Nukleartechnik eingestellt“, sagt Gräber. Auch in diesem Jahr will er im großen Stil Jobs schaffen – wiederum 800 Ingenieure sollen zusätzlich eingestellt werden. Gräber: „Wir sind auf Wachstumskurs.“

Das könnte auch Siemens – Erbauer der Atomkraftwerke in Deutschland – von sich sagen, führe der Münchner Konzern im Nukleargeschäft nicht einen ganz eigenen Kurs. Denn Konzernchef Peter Löscher hat entschieden, das 34-Prozent-Paket am Gemeinschaftsunternehmen mit Areva aufzugeben. Weil er nicht mehr an die Zukunft der Kernkraft in Deutschland glaubte, hatte Löschers Vorvorgänger Heinrich v. Pierer die Siemens-Atomfabriken in Erlangen, Duisburg, Lingen, Offenbach und Karlstein in das Joint Venture mit Areva gebracht.

Dabei räumte er den Franzosen ein Vorkaufsrecht auf den Siemens-Anteil ein – sprich: auf die einstigen Atomfabriken der Bayern. Mit Blick auf das Comeback der Kernenergie wollen die Franzosen davon nun Gebrauch machen. Pech für Siemens. Zur Gesichtswahrung durfte Siemens dies als freiwilligen Ausstieg aus dem Gemeinschaftsunternehmen verkaufen. In einem halben Jahr sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein, in denen es um den Wert des Siemens-Pakets an Areva geht. Spätestens 2012 soll der Kaufpreis von Areva an Siemens fließen. Areva in Deutschland ist dann endgültig französisch – mit deutschen Arbeitsplätzen.

Brennelemente-Produktion in Lingen: Weltweite Aufträge für Atomkraftwerke in den Büchern Quelle: Areva

Mit dem Geld wollen die Münchner eine Allianz mit der russischen Atombehörde Rosatom eingehen, um den Verlust des kerntechnischen Know-hows an Areva zu ersetzen. Konzernchef Löscher setzt auf Ministerpräsident Wladimir Putin, der Siemens eine „vollwertige Partnerschaft“ anbot. Rosatom-Chef Sergej Kirijenko hält eine Siemens-Beteiligungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette für möglich – von der Urangewinnung über die Anreicherung bis hin zum Bau von Atomkraftwerken und der Stromerzeugung. Bis April will eine Arbeitsgruppe beider Konzerne die Möglichkeiten einer konkreten Zusammenarbeit ausloten. Siemens könnte zum Beispiel beim Bau russischer Atommeiler verstärkt mitarbeiten, zum Beispiel am geplanten Druckwasserreaktor in Kaliningrad oder am ersten Kernkraftwerk Weißrusslands. Im zweiten Schritt könnte die Kooperation in einem Gemeinschaftsunternehmen ausgebaut werden, das eigene Aufträge an Land zieht. Auch die Beteiligung an einer der mehr als 90 Töchter der Holding Atomenergoprom ist denkbar, etwa an der Exportfirma Atomstroiexport.

Während der Kern der künftigen Atomindustrie in Deutschland französisch wird, sieht Siemens die Zukunft vor allem in Russland. Bis 2015 will der Kreml für 25 Milliarden Dollar zehn neue Kernkraftwerke errichten lassen, der Bau weiterer zehn Meiler soll begonnen, die bestehenden modernisiert werden. Im Jahr 2020 soll die Zahl der russischen Atomreaktoren von derzeit 31 auf 59 fast verdoppelt werden; der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung könnte von 16 Prozent auf ein Viertel erhöht – und Gaskraftwerke vom Netz genommen werden.

Siemens sieht seine Kernenergiezukunft in Russland

Doch dem Land fehlen Kapazitäten und Know-how, die letzten Nuklearexperten wurden noch zu Sowjetzeiten ausgebildet und stehen kurz vor der Pensionierung. Allerdings kann sich in Russland niemand vorstellen, dass Siemens jemals mehr als eine Sperrminorität bekommen würde. Im Russland-Geschäft haben die Münchner schon die eine oder andere schallende Ohrfeige kassiert. In mehreren Anläufen scheiterte 2005 und 2007 die mehrheitliche Übernahme des russischen Kraftwerkausrüsters Power Machines. Auf Druck von Behörden musste sich Siemens mit einer Minderheitsbeteiligung von 25 Prozent plus einer Aktie zufriedengeben. Ob Siemens in Russland jemals mehr Einfluss haben wird als auf Areva, ist zweifelhaft.

Umso optimistischer blicken die ehemaligen Siemensianer unter dem Areva-Dach in Deutschland in die atomare Zukunft. Sie bauen an drei Großprojekten in der Welt – an einem Atomkraftwerk in Finnland, einem in Flamanville an der französischen Atlantikküste und an einem Meiler im chinesischen Tianwan. Alle deutschen Areva-Standorte sind darin eingebunden, der kerntechnische Anlagenbau in Erlangen und im hessischen Karlstein ebenso wie die Brennelementefabriken in Duisburg und in Lingen.

Nach Großbritannien schauen Gräber und seine Ingenieure, wo nach Planungen der britischen Regierung mindestens zwei Atomkraftwerke gebaut werden sollen. Die Standorte sind noch unbekannt. Auch die deutschen Versorger E.On und RWE wollen in den nächsten Jahren Kernkraftwerke im Vereinigten Königreich errichten – zusammen mit Areva. So ist E.On-Chef Wulf Bernotat mit Areva-Geschäftsführer Gräber eine Partnerschaft eingegangen. Beide Unternehmen wollen zusammenarbeiten beim Bau, aber auch auf den Gebieten Forschung und Entwicklung. Es geht dabei um die Entwicklung des Siedewasserreaktors. Auch die Modernisierung von Kernkraftwerken wollen beide Unternehmen im Ausland in die Hand nehmen. E.On und RWE haben sogar ein Joint Venture gegründet, mit dem Ziel, Meiler in Großbritannien zu errichten.

areva_karte

Siemens dagegen sucht sein Heil im Osten. Der gesamte Vorstand war vor zehn Tagen in Russland, um die geeigneten Partner für Atomkraftwerke zu erkunden. Gleichzeitig handeln die Siemens-Manager mit der alten Areva-Partnerin Lauvergeon aus, welche Wettbewerbsklauseln sie nach dem Verkauf ihres Areva-Pakets akzeptieren müssen. Am liebsten würde Madame Lauvergeon den Münchnern natürlich ganz verbieten, wenigstens acht Jahre lang Areva Konkurrenz zu machen. Eine solche Ausschlussklausel „würde heute allein aus EU-Wettbewerbsgründen vor keinem Gericht Bestand haben“, glaubt allerdings ein Siemens-Mann.

Siemens wird Sublieferant im Atomgeschäft – für konventionelle Kraftwerkstechnik wie etwa Turbinen. Das allein sei schon lukrativ, betont Siemens nimmermüde, schließlich stehe die Kraftwerks-Leittechnik für ein Drittel der gesamten Wertschöpfung beim Bau eines Atomkraftwerks. Siemens wirft deshalb ein Auge auf die drei verbleibenden Reaktorbauer neben Areva: die beiden amerikanisch-japanischen Bündnisse General Electric/Hitachi und Toshiba/Westinghaus sowie den russische Konzern Atomenergoprom. Zwar läuft die Produktion der Generatoren und der Leittechnik von Siemens für Kernkraftwerke zurzeit unter dem Dach von Areva in Deutschland. Doch die Produkte für die Atommeiler sind grundsätzlich nicht anders als für konventionelle Kraftwerke. Siemens könnte also technisch anknüpfen und schnell die Produktion einer eigenen Leittechnik aufziehen. Sollte es zu einer Zusammenarbeit mit dem russischen Reaktorbauer Atomenergomasch kommen, dürfte die Siemens-Leittechnik zum Zug kommen.

Allerdings ist dieser Schritt im Aufsichtsrat umstritten. „Muss sich Siemens mit seiner Kompetenz bei Kraftwerkskomponenten überhaupt an einen der Kernkraftanbieter binden?“, fragt ein Siemens-Aufsichtsrat von der Arbeitnehmerseite. „Bei diesen grundsätzlichen Fragen der Positionierung von Siemens im Kernenergiegeschäft besteht im Aufsichtsrat noch Diskussionsbedarf.“

Kleine Perlen im deutschen Atomgeschäft

Während Siemens und Areva um das große Geschäfts buhlen, gibt es in Deutschland auch kleinere Perlen, die im politisch ungeliebten Atomgeschäft mitmischen. Zu ihnen zählt zum Beispiel die deutsch-niederländisch-britische Firmengruppe Urenco im westfälischen Gronau. Dort wird der Rohstoff für die Brennelementeherstellung produziert, angereichertes Uran. Urenco setzte 2007 gut eine Milliarde Euro um. Von der Atomkraft profitiert auch die Firma Siempelkamp in Krefeld. Von ihr stammen zum Beispiel die bis zu 160 Tonnen schweren Castor-Behälter, in denen verbrauchte Brennelemente transportiert und gelagert werden. Aber auch das Kühlungssystem, das beim Schmelzen des Reaktorkerns im European Pressurize Reactor (EPR) verhindern soll, dass sich die glühende Metallmasse in den Untergrund bohrt, kommt von den Niederrheinern. Der EPR wurde von Siemens und der französischen Nuklearfirma Framatome entwickelt, einer Vorläuferfirma von Areva. Die ersten beiden EPR-Anlagen sind in Finnland und Frankreich im Bau.

Partner von Siempelkamp auf diesem Feld ist das Würzburger Unternehmen Babcock Noell. Die Franken machen besonders gute Geschäfte mit der Stilllegung kerntechnischer Anlagen. So war das Unternehmen am Abriss des Kernkraftwerks Großwelzheim beteiligt. Beim Kernkraftwerk Stade, das als Erstes dem deutschen Atomausstieg zum Opfer fiel, durfte Babcock Noell das Ende nur planen. Den eigentlichen Abbau besorgt Areva.

Die exotischste Atomware made in Germany stellt SGL in Wiesbaden her: Brennelemente für einen Hochtemperaturreaktor (HTR), der nach deutschem Vorbild in Südafrika errichtet wird. Der HTR wurde an der damaligen Kernforschungsanlage (heute Forschungszentrum) Jülich entwickelt. Der erste Großreaktor, der mit dieser Technik gebaut wurde, der THTR 300 im westfälischen Hamm-Uentrop, lief nur wenige Jahre. Seit einer Panne im Jahr 1989 ist er außer Betrieb. Der erste HTR in Jülich hatte 21 Jahre lang bis 1988 Strom produziert. Derzeit wird er von Experten der Energiewerke Nord (EWN) in Lubmin bei Greifswald abgerissen. EWN gehört bei der Entsorgung von kerntechnischen Anlagen zu den größten und erfahrensten deutschen Unternehmen. Die Ostdeutschen rissen das erste DDR-Kernkraftwerk Rheinsberg und fünf größere Blöcke ab, die bis zum Ende der DDR in Lubmin Strom erzeugten. Außerdem entsorgten sie die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe und mehr als 100 sowjetische Atom-U-Boote.

Eine Wende bringt es für die Spezialisten in der hiesigen Atomenergie, wenn die Endlagerung der strahlenden Abfälle im dafür diskutierten Salzstock im niedersächsischen Gorleben entschieden würde. Heute werden verbrauchte Brennelemente in Castorbehälter gepackt und in Hallen gelagert, die jedem Kernkraftwerk angeschlossen sind. In den Zwischenlagern in Gorleben und Ahaus lagern Castorbehälter mit strahlenden Abfällen aus den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague in Frankreich und Sellafield in Großbritannien.

Käme das Endlager, müssten die Brennelemente zerschnitten und in strahlendichte Behälter umgefüllt werden. Die 400 Millionen Euro teure Pilot-Anlage dafür wartet seit mehr als acht Jahren in Gorleben auf den Start. Sollte es nach der Bundestagswahl im Herbst zum Ausstieg aus dem Atomkraftausstieg in Deutschland kommen, wird bei Areva in Erlangen vermutlich eine Flasche Champagner geöffnet. Denn dann dürfte die Atomtechnik nach den Träumen ihrer Befürworter in Deutschland wieder hoffähig werden. Bis dahin hält es Areva-Deutschland-Chef Gräber für einen Standortvorteil, dass seine radiochemischen Labors, die Brennstäbeproduktion und die nuklearen Teststände, in der Öffentlichkeit und bei den Atomgegnern kaum bekannt sind und ungestört und profitabel wachsen können. „Manchmal glaube ich, der Umweltminister weiß gar nichts von unserer Existenz, der Wirtschaftsminister schon.“

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