Zeitloser könnte sie ihr wahres Alter kaum verschleiern: arabische Ziffern bei jeder vollen Stunde, ein silbernes Zifferblatt mit einer kleinen Anzeige für die Sekunden, darauf zwei Zeiger mit leichtem Bäuchlein. Die H1 wird als neue Uhr verkauft, mit einer Garantie von 61 Monaten. Doch neu ist die H1 nur von außen. Ihr Inneres hat eine lange Geschichte hinter sich: Es stammt aus dem Jahr 1932 und wurde bis zu dem Tag, an dem es Andreas Hentschels Werkstatt in seine neue Heimat eingesetzt hat, noch nie benutzt. "So gute Werke wie damals produzieren viele industrielle Hersteller heute gar nicht mehr", sagt Uhrmacher Hentschel, dessen Nachname auch auf dem Modell H1 prangt.
Altes Leben in neuem Gewand, das ist das Motto von kleinen Betrieben wie dem von Hentschel, die alte Werke aufstöbern und sie in neuen Uhren verbauen. Auch große Uhrenmarken wie Officine Panerai, die zum Luxuskonzern Richemont gehören, haben Modelle präsentiert, in denen Jahre alte Uhrwerke von Rolex oder Angelus den Takt angaben. Die Uhrwerke mit der Typenbezeichnung 1130 in Hentschels H1 erzählen eine bewegte Geschichte: Hergestellt wurden sie von dem Unternehmen A. Schild aus Grenchen bei Biel, gegründet von Adolf Schild. 1978 fusionierte sein Unternehmen mit der ETA, dem heute größten Hersteller von Uhrwerken, der wiederum zur Swatchgroup gehört.
Hohe Nachfrage aus Asien
Einst konstruiert und gebaut nach den Anforderungen der deutschen Armee, wurde das Uhrwerk auch oft als "Wehrmachtskaliber" bezeichnet. Trotz seiner Robustheit und Präzision endete mit dem Aufkommen der Quarzuhr seine Karriere: Die Produktion wurde eingestellt. Die noch nicht verkauften Uhrwerke blieben im Lager, weil niemand so recht wusste, was man mit ihnen anfangen soll.
Hentschel hat jahrelang nach solchen Lagern gestöbert und die schönsten Werke gekauft. Sie warten in seiner Werkstatt auf Interessenten, die mit etwas Glück sogar ein Werk aus ihrem Geburtsjahrgang bekommen.
"Damals waren die Gehäuse nicht so stabil, da wurden die Uhrwerke robuster ausgelegt", meint Hentschel, der unter dem Mikroskop die Verschleißspuren historischer und aktueller Zahnräder untersucht hat. Dabei stellte er fest, dass die betagten Werke länger halten. Dennoch belässt er es nicht dabei, sie einfach einzubauen. Er zerlegt sie, verschönert sie auf Wunsch mit Schliffen, backt die Schrauben im Ofen, bis sie blau anlaufen, und baut sie anschließend neu zusammen.
Schmuck am Arm
Ganz ungehindert können die Kunden des Münchner Unternehmens Kunst am Werk auf die alten Uhrwerke schauen: Sie werden ohne Gehäuse und nackt, wie der Uhrmacher sie schuf, auf einer stählernen Platte befestigt, an dessen anderen Ende sich eine kleine Kugel befindet, mit der die winzigen Objekte am Manschettenärmel des Herrenhemdes befestigt werden. Inhaber Michael Görmann muss dafür stets zwei identische Uhrwerke finden, für Symmetrie an den Armen. Entfettet und gereinigt, wären sie im Prinzip sogar funktionsfähig, bei einigen Modellen schwingt der Rotor bei jeder Bewegung.
Ein Modell wirkt mit seiner orangefarbenen Spule wie ein ironischer Witz. Es erinnert in seinem zweiten Leben den Träger an die dunkelste Phase der Schweizer Uhrenindustrie, die mit den präzisen Werken aus Japan für Alltagsuhren nicht mithalten konnte und am Boden lag bis zur Wiederbelebung im Luxussegment in den Neunzigerjahren: Es ist ein Quarzwerk.