Medizin Alzheimer - die erfundene Krankheit

Von Medikamenten gegen Alzheimer ist die Wissenschaft - trotz jahrelanger Forschung - entfernter denn je. Buchautorin Cornelia Stolze glaubt sogar, das Leiden sei ein Hirngespinst – Alzheimer-Forscher Konrad Beyreuther widerspricht.

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Stolze und Beyreuther Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Die Zahlen des aktuellen Welt-Alzheimer-Reports sind Furcht einflößend: 36 Millionen Menschen seien von Demenz befallen, und im Jahr 2050 sollen es 115 Millionen sein, schreiben die Autoren der Organisation Alzheimers’s Disease International (ADI). Die geistige Umnachtung, die vor allem alte Menschen befällt, habe laut ADI vor allem eine Ursache: die Alzheimer-Krankheit.

Doch möglicherweise sitzen Ärzte, Demenzkranke, deren Angehörige und Politiker einem großen Trugschluss auf und jagen einem Phantom hinterher. Das behauptet jedenfalls die Hamburger Biologin und Wissenschaftsautorin Cornelia Stolze in ihrem Buch „Vergiss Alzheimer“. Ihre Kernthesen lauten:

Zu große Nebenwirkungen oder keine Wirkung

 Alzheimer ist als Krankheit weder klar definiert noch sicher zu diagnostizieren. Demenzkranke werden wahllos zu Alzhei‧mer-Kranken gestempelt. Patienten erhalten nutzlose und teure Medikamente, die nicht ihnen helfen, sondern nur deren Herstellern. Die wahren Ursachen der Demenz wie Medikamentennebenwirkungen, Infarkte im Gehirn, Depressionen, Alkoholismus, Austrocknung und viele andere werden übersehen. Weil die richtige Diagnose ausbleibt, erhalten Patienten die falsche Therapie und leiden unnötig.Stattdessen verdienen Mediziner viel Geld mit angeblichen Früherkennungstests, die gesunde Menschen mit der Fehldiagnose Alzheimer in Angst und Schrecken versetzen.

Tatsächlich haben die Alzheimer-Forscher in den vergangenen Jahren herbe Rückschläge hinnehmen müssen, vor allem bei der Medikamentenentwicklung. Allein zwischen 2004 und 2008 wurden 73 Projekte gestoppt – weil die Nebenwirkungen zu groß waren oder weil die Medikamente keine Wirkung zeigten.

Und die vier derzeit auf dem Markt befindlichen Alzheimer-Mittel erzielen zwar Milliardenumsätze (siehe Grafik), doch selbst der renommierte deutsche Alzheimer-Forscher Konrad Beyreuther sagt: „Sie halten den Krankheitsverlauf nicht auf.“

Cornelia Stolze Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Frau Stolze, der Fotograf Gunter Sachs hat sich im Mai im Alter von 78 Jahren umgebracht, weil er glaubte, an Alzheimer erkrankt zu sein. Sie behaupten, dass es die Krankheit gar nicht gibt. Ist Sachs einem Hirngespinst aufgesessen?

Stolze: Aus meiner Sicht ja. Er setzte sich die Pistole an den Kopf, weil er überzeugt war, an Alzheimer zu erkranken, und offenbar panische Angst davor hatte, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Dabei war er nicht einmal ansatzweise dement. Und selbst wenn, hätte kein Arzt sagen können, ob er an Alzheimer leidet oder nicht. Denn in Wirklichkeit weiß niemand, was Alzheimer ist. Auch nach mehr als 30 Jahren intensiver Forschung lässt sich diese vermeintliche Krankheit nicht eindeutig diagnostizieren.

Eine gewagte These. Tatsache ist doch, dass Millionen Menschen im Alter ihr Gedächtnis verlieren.

Stolze: Natürlich leiden viele alte Menschen an einer Demenz, also einem Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten. Sie sind verwirrt, verlieren die Orientierung, werden inkontinent oder verändern ihr Wesen. Diese Erscheinungen können aber viele Ursachen haben. Nur mit den Proteinablagerungen, die angeblich für Alzheimer charakteristisch sind und von denen es immer heißt, dass sie für den geistigen Verfall verantwortlich sind, hat das vermutlich nichts zu tun.

Wenn es nicht Alzheimer ist, was löst dann den geistigen Abbau aus?

Stolze: Bei meinen Recherchen bin ich auf viele Ursachen gestoßen, die demenzähnliche Symptome hervorrufen oder eine Demenz vortäuschen können. Das Erschreckende daran ist: Viele dieser Ursachen sind im Prinzip seit Langem bekannt – und werden trotzdem häufig übersehen. Das fängt bei schlichtem Flüssigkeitsmangel und Problemen mit dem Blutzucker an und reicht bis hin zu einer ganzen Palette von Medikamenten, die gerade ältere Menschen oft täglich einnehmen.

Welche Mittel sind besonders gefährlich?

Stolze: Es gibt mehr als 130 Medikamente, die eine dauerhafte Demenz oder einen akuten Verwirrtheitszustand mit Halluzinationen und Bewusstseinsveränderungen hervorrufen können. Das sind vor allem Schmerzmittel und Antidepressiva, aber auch Herzpräparate und Medikamente gegen Asthma. Besonders problematisch sind zudem Beruhigungsmittel, die oft in Altenheimen verabreicht werden.

Und die anderen Auslöser?

Stolze: Auch unbemerkte Schlaganfälle, Alkoholmissbrauch, erhöhter Hirndruck, Mangelernährung und selbst Einsamkeit können die Ursache sein, wenn das Gedächtnis mehr und mehr versagt. Ebenso können Depressionen, an denen zum Beispiel Gunter Sachs litt, Demenzsymptome hervorrufen. All das wird heute oftmals in einen Topf geworfen und mit dem Etikett Alzheimer versehen.

Ist es nicht egal, wie das Problem heißt?

Stolze: Ganz und gar nicht. Denn durch die Fixiertheit auf Alzheimer erkennen Ärzte häufig nicht die wahren Ursachen der Beschwerden. Viele Patienten leiden deshalb an geistigen Störungen, obwohl diese durchaus zu beheben wären.

Konrad Beyreuther Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Professor Beyreuther, Sie gelten als Deutschlands Koryphäe in der Alzheimer-Forschung. Sind Sie einem Phantom hinterhergerannt?

Beyreuther: Natürlich nicht. Ich finde Frau Stolzes Aussage, Alzheimer existiere nicht, reichlich mutig. Schließlich kennen wir eine Reihe von Gendefekten, die die Menschen schon mit 50 oder 60 Jahren in diese Krankheit und die dazugehörende Hilflosigkeit zwingen.

Stolze: Erblich bedingte Demenzerkrankungen sind die absolute Ausnahme.

Beyreuther: Tatsächlich ist zwar nur ein Tausendstel aller Alzheimer-Kranken von solch einem massiven Gendefekt betroffen. Aber die Veränderungen, die in den Gehirnen dieser Menschen ablaufen, sind identisch mit denen aller anderen Alzheimer-Patienten.

Stolze: Woher wollen Sie wissen, wer Alzheimer hat und wer nicht? Es wird doch kaum ein Patient nach dem Tod obduziert. Dabei heißt es in allen offiziellen Statements, dass nur eine Obduktion Gewissheit bringen kann, ob ein Gehirn die als typisch geltenden Proteinablagerungen im Gehirn aufweist. Das sind zum einen Amyloid-Plaques und zum anderen sogenannte Tau-Fibrillen.

Beyreuther: Da liegen Sie falsch. Man kann Alzheimer aufgrund des klinischen Befunds eines Patienten erkennen. Dazu gehört zum Beispiel ein ausführliches psychologisches Gespräch sowie Merk- und Konzentrationstests.

Stolze: In der Tat heißt es immer wieder, mit solchen Tests sei heute eine sehr zuverlässige Diagnose möglich. In Wirklichkeit gilt das Ausschluss-Prinzip: Wenn der Arzt nichts findet, was in seinen Augen erklärt, warum der Patient verwirrt ist, dann muss es wohl Alzheimer sein. Selbst in der 2009 herausgegebenen Leitlinie Demenzen, der

Beyreuther: Dann ist Deutschland wie so oft hinten dran. Im Februar dieses Jahres hat das National Institute on Aging, also die US-Behörde für Alternsforschung, mit der Alzheimer Association neue Leitlinien veröffentlicht. Sie berücksichtigen Bildgebung und Biomarker im Blut, die die Proteinablagerungen im Gehirn nachweisen und eine klare Alzheimer-Diagnose zulassen.

Ist das der Biomarker-Test, den Sie entwickelt und über die Firma Abeta vertrieben haben, an der Sie beteiligt waren?

Beyreuther: Er basiert zumindest auf unserem Test der Beta-Amyloide. Allerdings wurde das Unternehmen bereits 2003 an ein Schweizer Unternehmen verkauft, das es an Millipore weiterverkaufte. Millipore gehört heute dem Darmstädter Pharmakonzern Merck.

Und wessen Gehirn diese Ablagerungen oder Plaques aufweist, der hat Alzheimer?

Beyreuther: Nein, das ist keine klinische Diagnose, sondern der Nachweis des Proteinablagerungsprozesses, der zur Alzheimer-Krankheit führt.

Stolze: Dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg. Im Gegenteil. Seit Längerem weiß man, dass rund ein Drittel aller normal alternden Menschen, die bis zu ihrem Tod völlig klar im Kopf waren und nach ihrem Tod obduziert wurden, so viele Plaques im Gehirn hatten, dass der Befund eindeutig Alzheimer gelautet hätte. Das passt nicht zusammen.

Geschäft mit der Angst

Beyreuther: Doch, tut es. Ärzte definieren Krankheiten. Ich bin Molekularbiologe und erforsche die biochemischen Abläufe. Ablagerungen sind das Erste, was wir sehen, wenn der Krankheitsprozess angestoßen wird

Warum dauert es mal kürzer, mal länger?

Beyreuther: Das hängt sehr davon ab, auf welchem Niveau der Einzelne startet und welche geistigen Reserven er hat. Deshalb empfehle ich, sich möglichst lange im Alter geistig fit zu halten, sei es mit Denksport oder am Computer.

Stolze: Beides mag ja durchaus gut fürs Hirn sein. Sie behaupten aber, dass diese Strategien die Entwicklung der Alzheimer-Krankheit herauszögern würden. Aber das ist genauso wenig bewiesen wie der angeblich heilsame Effekt der Einnahme von Omega-3-Fettsäuren. Dennoch preisen Sie diese Präparate genauso zur Vorbeugung an wie vor einigen Jahren die vorsorgliche Einnahme von Cholesterinsenkern. Gleichzeitig haben Sie von den Herstellern dieser Medikamente jahrelang Forschungsgelder und Beraterhonorare kassiert. Ich frage Sie: Stehen hier unverrückbare wissenschaftliche Ansprüche hinter privaten Interessen zurück?

Beyreuther: Jetzt werden Sie unverschämt, dazu werde ich nichts sagen! Ich kann Ihnen nur versichern, dass die Wirkung von Blutfettsenkern gegen die Bildung von Plaques in Tierversuchen erwiesen ist…

Stolze: … aber nicht am Menschen.

Beyreuther: Doch. In sehr frühen Phasen der Erkrankung zeigten sie Wirkungen, nicht allerdings bei Patienten, bei denen die Erkrankung schon ausgeprägt war. Die Wirkung der Statine im Frühstadium sollte, da stimme ich zu, dringend nochmals in großen Studien getestet werden.

Wenn die Krankheit nicht aufzuhalten ist, was bringt dann ein Test?

Beyreuther: Herzlich wenig.

Stolze: Wie bitte? Noch vor Kurzem haben Sie den Test für jedermann angepriesen. Und Sie haben schon vor zehn Jahren behauptet, solche Tests würden ein nahezu 100-prozentig sicheres Ergebnis liefern, und versprochen, dass sich der Ausbruch der Krankheit mit Medikamenten verzögern ließe.

Beyreuther: Beides würde ich heute so nicht mehr sagen. Den Test würde ich nur noch dann einsetzen, wenn man ein neues Medikament erproben will und wissen muss, ob und in welchem Stadium die Studienteilnehmer Alzheimer haben.

Arbeiten Sie gerade an einem Medikament?

Beyreuther: Nein. Wir haben zwar versucht, die von uns entwickelten Antikörper für eine Impfung gegen Plaques einzusetzen. Andere Forschungsgruppen sahen bei ihren Impfungen starke Nebenwirkungen. Daher glaube ich heute nicht mehr daran, dass eine Impfung funktionieren wird. Auch wirksame Alzheimer-Medikamente sind in weiter Ferne. Hier gab es seit Jahren fast nur Rückschläge.

Stolze: Erst vorigen Sommer brach Eli Lilly die große Studie mit dem Präparat Semagacestat ab. Es konnte zwar die Plaques auflösen, aber die Gedächtnisleistung der Patienten kehrte nicht zurück, sie wurde sogar schlechter. Das spricht doch ebenfalls gegen die Plaque-Theorie.

Beyreuther: Nein, nicht grundsätzlich. Wir greifen einfach viel zu spät ein. Ich habe mir damals nicht klargemacht, dass ein Alzheimer-Patient nicht mehr therapiert werden kann, wenn die Scheune der Erinnerung bereits abgebrannt ist.

Aber es gibt doch vier Alzheimer-Mittel auf dem Markt - Aricept, Exelon, Ebixa und Reminyl. Wirke die nicht?

Beyreuther: Sie halten den Krankheitsverlauf jedenfalls nicht auf, sondern verbessern nur die Befindlichkeit. Damit machen sie Angehörigen und Pflegern den Umgang mit den Patienten angenehmer und senken die Pflegekosten.

Stolze: In erster Linie bringen diese Präparate den Herstellern Milliardengewinne. Allein mit Aricept erwirtschafteten Pfizer und Eisai vergangenes Jahr mehr als drei Milliarden Dollar. Übrigens haben die Forscher Werbebotschaften der Pharmakonzerne über Jahre bereitwillig auf Kongressen verbreitet. Sie alle konnten von dem Wirbel, den sie um Alzheimer machten, gut leben. Ich halte das für eine in weiten Teilen inszenierte Veranstaltung, die die wahren Ursachen von Altersdemenz außer Acht lässt und den Menschen nicht hilft.

Die internationale Alzheimer-Vereinigung ADI schätzt, dass die Zahl der Demenzkranken bis zum Jahr 2050 weltweit auf 115 Millionen anwachsen wird, Hauptursache sei Alzheimer.

Stolze: Das wundert mich nicht. Die ADI ist ein hocheffektiver Lobby-Verband der Pharmaindustrie, dessen Mitglieder umso mehr profitieren, je mehr Menschen mit teuren Medikamenten behandelt werden.

Beyreuther: Obwohl ich Ihre Annahme nicht teile und Alzheimer für eine Realität halte, gefällt mir Ihr kritischer Umgang mit dem Thema. Denn tatsächlich schüren solche Zahlen Angst. Ich bin aber der Meinung, dass wir den Menschen die Angst nehmen müssen, nicht nur vor Alzheimer. Denn Angst ist der größte Risikofaktor für gute Hirnleistungen. Angst und Stress bringen uns dazu, in gefährlichen Situationen davonzulaufen - ohne nachzudenken.

Stolze: Oder zum Alzheimer-Test zu rennen. Die Angst der Menschen, sie könnten dement werden, wird heute ausgenutzt. Sowohl von Ärzten und Kliniken, die nutzlose Tests anbieten, als auch von den Pharmaunternehmen, die nutzlose Mittel verkaufen.

Beyreuther: Was Sie da sagen, stimmt leider in weiten Teilen. Mir gefällt diese Panikmache auch nicht. Die Menschen müssen lernen, den Ausbruch der Krankheit so weit wie möglich nach hinten zu schieben und gegen eine bereits gestellte Diagnose anzukämpfen.

Und wie soll das funktionieren?

Beyreuther: Durch die Art der Lebensführung. Es gibt sieben Risikofaktoren, die jeder meiden sollte. Dazu zählen Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht, Depressionen, Diabetes sowie körperliche und geistige Starre. Aber auch der Kontakt zu Menschen ist wichtig.

Stolze: Gerade der fehlt alten Menschen oft.

Beyreuther: Richtig. Deshalb muss auch die Pflegeforschung gefördert werden. Pflege muss stimulierend sein. Davon sind wir heute weit entfernt. Außerdem müssen wir akzeptieren, dass Alzheimer zum Menschen und zum Altern gehört. 100 Prozent der 100-Jährigen haben alzheimertypische Ablagerungen im Gehirn.

Stolze: Das ist die Frage. Denn das hat bisher niemand untersucht. Fest steht aber, dass die Hirnleistung vieler Menschen im Alter abnimmt. Aber wenn wir mit 80 nicht mehr so schnell schalten wie mit 20, heißt das noch lange nicht, dass wir dement sind. Falten und graue Haare bezeichnen wir ja auch nicht als Krankheit.

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