Medizin Die Macht der Placebos

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Placebo-Pillen: Wissenschaftler arbeiten an neuen Methoden und Placebo-Therapien Quelle: seen/Fotolia

Ein Jahr später taten sich die drei führenden europäischen Forscher auf diesem Gebiet zusammen: der Turiner Hirnforscher Fabrizio Benedetti, der Tübinger Psychosomatikforscher Paul Enck und der Essener Psychologe Schedlowski. Sie trugen alle diskutierten und möglichen Funktionsmechanismen im Gehirn zusammen, die die beobachteten Placebo- und Nocebo-Effekte erklären können, und publizierten die Arbeit in dem renommierten Fachmagazin „Neuron“. Es entstand der bisher umfangreichste Überblick über den Stand der Placebo-Forschung und ihrer Erklärungsmodelle.

Überdeutlich wird, wie stark unser Gehirn auch Heilungsprozesse steuert – vom Schmerzempfinden bis hin zur Mobilisierung der Immunabwehr. Zentrales Moment, so das Ergebnis vieler Studien, ist dabei die Erwartung der Menschen.

Damit wird auch verständlich, warum die Rolle des Arztes, der Krankenschwester, des Homöopathen oder des Akupunkteurs so wichtig ist: Unser Denkorgan interpretiert alles an deren Auftreten und Verhalten, um daraus abschätzen zu können, was uns erwartet. Glauben wir ihnen, wenn sie uns Heilung versprechen? Haben wir Vertrauen in ihre Urteilskraft?

Berufskleidung ist Teil der Zeremonie

Entscheidend ist dabei auch die Art und Weise, wie ein Medikament – oder im Experiment ein Nichtmedikament – verabreicht wird. Zahlreiche Studien belegen: Wortlos ausgehändigte Placebos wirken schlechter als solche, die mit ärztlicher Hingabe, einer sachten Berührung und den Worten „das wird Ihnen sicher helfen“, überreicht werden.

Tatsächlich können Rituale unbewusste heilungsfördernde Ressourcen aktivieren, sagt Georg Schönbächler vom Collegium Helveticum von ETH und Universität Zürich: „Zum medizinischen Wirkstoff, dem Pharmakon, gehört immer auch ein bisschen Pharmagie.“

Selbst die Berufskleidung ist Teil der Zeremonie: So konnten mehrere Studien nachweisen, dass Patienten schneller gesund werden, wenn Ärzte und Pfleger in einer Klinik im typischen weißen Kittel herumliefen. Waren sie leger mit Jeans und Pulli gekleidet, trauten die Patienten ihnen offensichtlich nicht so viel zu: Ihre Erwartungshaltung war niedriger, und sie wurden entsprechend langsamer gesund.

Der Mitte Juni verstorbene englische Arzt und Medizinanthropologe Cecil Helman war zeit seines Lebens fasziniert von den Heilkräften der Schamanen. Er erforschte und verglich sie mit der westlichen Art, zu heilen, und fand viele kulturübergreifende Gemeinsamkeiten: Die Praxis des Arztes und die Hütte des  Naturheilers seien wie ein Theater, voll mit Kulissen, Requisiten, Kostümen und mit einem Drehbuch, fand Helman: „Medizin ist wie ein Bühnenstück.“

Brimborium und Hokuspokus

Noch offensichtlicher sind die Übereinstimmungen im Operationssaal: Dort verkleiden und verhüllen sich die modernen Medizinmänner, nehmen kultische Gegenstände in die Hand und versetzen den Kranken mithilfe von Narkosemitteln und Beatmungsschlauch in Trance.

Ein bisschen Brimborium und Hokuspokus darf also durchaus sein, um eine Therapie besonders wirksam zu gestalten, das wissen erfahrene Ärzte durchaus. Und dabei setzen sie auch mehr oder weniger gezielt Verfahren ein, von denen sie wissen, dass sie frei von Wirkung sind, also eine Art versteckter Placebos.

So steht der Hamburger Orthopäde Manfred Kissling* oft vor der Situation, dass er Menschen mit Rückenschmerzen nicht helfen kann: Er hat sich deshalb angewöhnt, in solchen Fällen das sogenannte Quaddeln anzubieten. Dabei spritzt er rund um den schmerzhaften Bereich kleinste Mengen eines Schmerzmittels direkt unter die Haut, so dass sich kleine Bläschen, die Quaddeln bilden. „Das kann überhaupt nicht wirken“, weiß Kissling: „Das Anästhetikum kommt gar nicht bis an die Stellen, wo es wirklich weh tut.“

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