Medizinische Versorgung Wie krank unser Gesundheitssystem ist

Nie zuvor wurde im deutschen Gesundheitswesen so viel bestochen, gelogen und getäuscht. Das behindert Innovationen und verschlechtert die medizinische Versorgung. Eine Reise an die Tatorte des Gesundheitskrimis.

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Krebstesterfinder Mischak Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Als Wissenschaftler ist Harald Mischak eine große Nummer: Der in Hannover lehrende Biochemie-Professor veröffentlicht in den angesehensten Fachmagazinen der Welt, bekommt Professorenstellen an renommierten Universitäten angeboten und gilt international als Koryphäe in seinem noch jungen Forschungsfeld: der Proteomik. Mit seiner Analysetechnik für körpereigene Eiweiße – den Proteinen – kann der gebürtige Österreicher Krankheiten wie Krebs, Infarkte und Alzheimer früh vorhersagen. Mit seinem 2002 gegründeten Unternehmen Mosaiques Diagnostics and Therapeutics wollte er das Verfahren vermarkten.

Doch dabei machte Mischak einen schweren Fehler: Er legte sich mit deutschen Ärzten an. Der Forscher entwickelte einen Test, mit dem sich die häufigste Krebsart bei Männern, das Prostata-Karzinom, früh und sicher im Urin erkennen lässt. Der Test hätte zwar den Patienten geholfen, den Urologen aber heftige finanzielle Einbußen beschert. Denn der neue Test hätte bisher übliche, teure und ungenaue Diagnoseverfahren überflüssig gemacht. Die Ärzte wehrten sich und brachten Mischaks Unternehmen an den Rand des Ruins. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, mit welch üblen Tricks da gearbeitet wird“, sagt der Wissenschaftler.

Pharmakonzerne mischen mit

Wieder einmal hat es eine medizinische Innovation nicht zum Patienten geschafft. Erneut ist eine sinnvolle Therapie im Sumpf aus Gier und Verlogenheit stecken geblieben. Und schon wieder fällt der Blick auf jenen Teil der Halbgötter in Weiß, die mit dubiosen Machenschaften ihre Zunft in Verruf bringen. Und doch sind käufliche Mediziner nur ein Teil des Problems im verworrenen System des deutschen Gesundheitskartells. Pharmakonzerne spielen eine mindestens ebenso große Rolle: Viele von ihnen schmieren Medizinexperten für wohlwollende Worte auf Kongressen. Außendienstmitarbeiter führen die Masse der Ärzte mit dubiosen Auslegungen von Studienergebnissen in die Irre. Und manche Hörgeräteakustiker und Optiker zahlen Prämien für neue Patienten.

System lädt zum Betrug ein

Die WirtschaftsWoche hat zahlreiche brisante Fälle recherchiert, die belegen, dass dubiose Machenschaften in fast allen Sektoren des Gesundheitssystems zu finden sind: in Arztpraxen, Kliniken, Laboren und auf Tagungen – kaum ein Winkel, der nicht zum Tatort wird. Seit Jahren zählt laut Statistik des Bundeskriminalamtes der Medizinbetrieb neben der Bauindustrie zu den korruptesten Branchen.

Der Sumpf gedeiht prächtig. Rund 260 Milliarden Euro gibt es im deutschen Gesundheitsmarkt zu verteilen, das entspricht etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Taiwan. Das System ist nach einer endlosen Zahl von Reformen durch Dutzende Abrechnungsziffern und Honorardeckelungen nicht nur völlig intransparent. Es lädt auch zu Betrug geradezu ein. Das deutsche Gesundheitssystem sei längst eine „versteckte Planwirtschaft“, die skurrile Blüten treibe, wettert Philipp Rösler, FDP-Wirtschaftsminister in Niedersachsen, selbst promovierter Mediziner: „Es fehlt ein echter Anreiz zu ökonomischem und innovativem Handeln.“

Korruptionsexperte Dolata Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Die Schmiergelder stammen in der Regel von Pharmakonzernen. Die buchen ihre Ausgaben auf das Marketingbudget, was in der Branche kein Geheimnis ist. Bei den meisten Größen der Branche macht dieses Budget laut Geschäftsberichten gut ein Drittel des Umsatzes aus – mehr als die Ausgaben für Forschung, die nur bei etwa 15 bis 20 Prozent liegen.

Die Konzerne haben ein großes Interesse daran, sich den Medizinern anzudienen. „90 Prozent ihres Umsatzes machen sie mit Ärzten“, sagt Korruptionsexperte Uwe Dolata, Sprecher des bayrischen Landesverbandes im Bund Deutscher Kriminalbeamter. Und Mediziner verordnen nicht nur Medikamente. Sie führen auch Studien für neue Produkte durch und sitzen in Kommissionen, die über die Zulassung von Präparaten entscheiden. „Die Ärzte stehen im Zentrum der Korruption“, sagt Dolata, der seit Jahren an der Fachhochschule Würzburg lehrt. Er hat aber eine entscheidende Veränderung ausgemacht: „Früher sind die Unternehmen aktiv auf die Ärzte zugegangen, um ihnen Geld und Geschenke aufzudrängen“, sagt er. „Heute fordern Ärzte solche Aufmerksamkeiten aktiv ein.“

Rund 1000 neue Betrugsfälle pro Jahr

Dabei verdienen niedergelassene Mediziner in Deutschland im Schnitt 142.000 Euro im Jahr. „Die meisten korrupten Ärzte treibt die Gier“, hat Dina Michels beobachtet. Michels ermittelt für die Krankenkasse KKH-Allianz in Hannover bei Betrugsfällen im Medizinbetrieb. Ihre Erfahrungen hat sie in dem gerade erschienenen Buch „Weiße Kittel, dunkle Geschäfte“ öffentlich gemacht.

Michels berichtet, wie Ärzte, Physiotherapeuten oder Apotheker Abrechnungen fälschen oder Leistungen angeben, die sie nicht erbracht haben. Zwar verhalte sich die Mehrheit korrekt. Doch allein 2008 ging sie mit ihrem neunköpfigen Team rund 1000 neuen Fällen nach. Meist bestätigte sich der Verdacht.

Das dürfte nach Einschätzung von Experten aber nur die Spitze des Eisbergs sein. „Die Dunkelziffer bei Korruption im Gesundheitswesen liegt bei 98 Prozent“, sagt Korruptionsexperte Dolata.

Der dadurch entstehende Schaden für die Krankenkassen liege in Deutschland zwischen acht und 24 Milliarden Euro, schätzt die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International.

Bizarrer Kleinkrieg

Wie verlogen das System sein kann, hat Forscher Mischak hautnah miterlebt. Mit seinem neuen Prostata-Krebstest brachte er deutsche Urologen gegen sich auf. Seine Innovation mündete in einem bizarren Kleinkrieg, der schließlich dazu führte, dass der Forscher dieses Themenfeld entnervt aufgab.

Dabei ließ sich die Zusammenarbeit mit den Ärzten zunächst gut an. Mischak konnte Axel Semjonow, den stellvertretenden Direktor der Universitätsklinik für Urologie in Münster, für die Idee gewinnen. Gemeinsam entwickelten sie den Test. Erst war Semjonow ganz begeistert.

Mischak hatte als einer der ersten Wissenschaftler einen Test geschaffen, der die Diagnose von Krankheiten verbessert: Er untersucht die Proteine, die im Blut oder Urin eines Menschen schwimmen. Proteine sind die Übersetzung von Erbgut-Bauanleitungen in biochemische Funktionseinheiten. Mischaks Test kann Tausende Proteine – und damit aktive Erbgutanlagen – gleichzeitig analysieren.

Bisherige Verfahren hingegen detektieren meist nur wenige Erbanlagen oder einzelne Moleküle im Blut, die für bestimmte Erkrankungen typisch sind. Bei vielen Leiden und gerade bei Krebs ist die Aussage-genauigkeit solcher Tests jedoch gering.

Patienten gegen Laptop

Gerade in der Urologie ist so ein wenig aussagekräftiger Test sehr gebräuchlich: der sogenannte PSA-Blut-Test. Er ist so unscharf, dass er in über 70 Prozent der Untersuchungen fälschlicherweise einen Krebsverdacht erbringt. Doch jeder Verdacht muss mit einer Gewebeprobe-Entnahme unter Voll- oder Teilnarkose geklärt werden. Allein in Deutschland werden jährlich schätzungsweise 500.000 solcher Eingriffe grundlos durchgeführt: Sie stellen sich als falscher Alarm heraus.

Mit Mischaks 443 Euro teurem Test ließen sich viel bessere Ergebnisse erzielen. Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Untersuchungen dürften fälschlicherweise Krebs anzeigen, behauptet Mischak. Eine exakte Angabe sei nicht möglich, da 30 Prozent der Tumore auch mit den gängigen Methoden der Biopsie übersehen werden. Sicher ist laut Mischak aber: In über 90 Prozent der Fälle findet der Test den Tumor. Das hatte Mischak 2005 an über 580 Probanden nachgewiesen, die Studie publiziert und den Test unter dem Namen DiaPat zugelassen.

Bedrohte Einnahmequelle

Doch statt Lob erntete Mischak Widerstand. Verschiedene Ärzte stemmten sich mit dubiosen Mitteln gegen den Urintest. Denn der bedrohte eine wichtige Geldquelle der Urologen: Mischaks Methode würde einen großen Teil der Biopsien überflüssig machen. Gerade damit verdienen Urologen bestens, zwischen 250 und 1000 Euro pro Eingriff.

Da auch diese Methode ungenau ist – nicht immer trifft die Hohlnadel, mit der die Proben aus der Prostata gestanzt werden, den Tumor –, wird oft mehrfach biopsiert. Mitunter bis zu zehn Mal. Ein schönes Sümmchen für den Arzt oder die Klinik, eine Tortur für den Patienten.

Als Mischaks Test auf den Markt kam, war Urologe Semjonow schon aus dem Projekt ausgestiegen. Zuvor hatte er laut Mischaks Schilderung noch versucht, ihn davon zu überzeugen, dass man den Test bei Patienten erst nach der ersten oder zweiten Biopsie anbieten sollte. Offenherzig habe er zugegeben: Anders ließe sich das Verfahren in der Ärzteschaft nicht durchsetzen. Doch Mischak lehnte ab – und der Kleinkrieg begann.

Dubiose Studie

Mischak fragte bei der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) an, ob er seine Methode beim DGU-Kongress vorstellen oder in der DGU-Postille „Der Urologe“ veröffentlichen könne. Doch die DGU lehnte ab. Mischak vermutet Semjonow als Strippenzieher hinter der Abfuhr, denn der damalige DGU-Präsident war Semjonows Chef in Münster.

Unterdessen initiierte Semjonow eine eigene Studie, in der er und weitere Urologen-Kollegen 18 Proben von Patienten, die definitiv Krebs hatten, bei Mischaks Unternehmen Mosaiques einschickten.

Das vernichtende Ergebnis, das Semjonow kurz darauf dann in „Der Urologe“ publizierte: Nur in gut 62 Prozent habe die neue Diagnosetechnik den Krebs gefunden und nicht in über 90 Prozent.

Schon die mickrige Zahl von 18 Probanden müsste jedem Fachmann zu denken geben. Sie ist viel zu gering, um statistisch irgendetwas zu beweisen. Zusätzlich pikant ist die Tatsache, dass Mischak anhand der Mosaiques-Laborprotokolle nachweisen kann, dass einer der Autoren fünf Proben eingeschickt haben muss, die nachher in der Studie nicht auftauchten. Proben willkürlich auszuwählen verstößt allerdings gegen alle Kriterien wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit.

Krankenkassenermittlerin Michels Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Semjonow räumt ein, dass die Studie zu klein sei, um belastbare Aussagen zu treffen, doch er bestreitet, dass Proben-daten selektiv in die Studie ein- oder ausgeschlossen wurden: „Die korrekte Durchführung unserer Studie ist belegt, die Studienunterlagen können bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe eingesehen werden.“

Viele Unternehmen erlebten ganz ähnliche Dinge wie Mischak. Doch offen darüber reden will keiner; man möchte es sich mit potenziellen Kunden wie Ärzten und Kliniken nicht verscherzen.

Mischak hat die Vermarktung des Urologietests aufgegeben. Stattdessen bietet er erfolgreich Tests für Blasenkrebs, Schlaganfälle und Nierenversagen an, die er mit Internisten entwickelt hat, die seine innovative Methode als hilfreiche Ergänzung und nicht als Konkurrenz begreifen. Denn so viel ist klar: Innovationen haben keine Chance, sich auf dem Markt zu etablieren, wenn sie einer der vielen Interessengruppen im Gesundheitssystem das Einkommen zu schmälern drohen.

Besprechung im Hinterzimmer

Wehe, es geht Ärzten ans Geld. Dabei verteidigen die Urologen nur ihre Pfründe. Andere Facharztgruppen gehen noch weiter: Etliche Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Augenärzte oder Orthopäden sichern nicht bloß ihr Einkommen, sie steigern es gewaltig. Mit Methoden wie im Krimi.

„Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“, fragte der Mediziner den Hörgeräteakustiker Johannes Brenninger aus Bad Homburg. Der bat den Hals-Nasen-Ohren-Arzt in die Anpasskabine – einen schalldichten Raum, in dem er sonst die Hörgeräte der Kunden programmiert. Der Mediziner habe zu klagen begonnen: Dass im Gesundheitswesen immer mehr Geld ausgegeben werde, nur für Ärzte wie ihn bleibe immer weniger übrig. Hörgeräteakustiker verdienten dagegen mehr und mehr. Dann wurde der Arzt direkt. „Er fragte mich, welche Möglichkeiten ich habe, ihm Geld zu bezahlen“, erinnert sich Brenninger, dem schon schwante, dass er keine Chance hatte: „Ich wusste, wenn ich nicht zahle, schickt mir der Arzt keine Patienten mehr.“ Er gab schließlich nach. Innerhalb von zwei Jahren steckte er dem Arzt 7600 Euro in bar zu.

Kopfprämie entscheidet

Der Fall liegt schon einige Jahre zurück. Solche Praktiken sind inzwischen nicht mehr so häufig – auch weil die gesetzlichen Bestimmungen noch einmal verschärft wurden. Doch längst haben HNO-Ärzte, erzählen Brancheninsider, einen anderen Dreh gefunden. Sie gründen Ärztezentren und holen sich einen Hörgeräteakustiker ins Haus, dessen Miete umso höher ausfällt, je mehr er von den Empfehlungen der Ärzte profitiert.

Auch etliche Optiker, Physiotherapeuten oder Sanitätshäuser leben davon, dass Ärzte Patienten zu ihnen schicken. Im Zweifel nennen die Mediziner aber nicht den besten Anbieter – sondern den, der die höchsten Kopfprämien zahlt.

„Nicht wenige Orthopäden bekommen die Miete für ihre Praxisräume von den Sanitätshäusern erstattet“, sagt Korruptionsexperte Dolata, „da kommen schnell mal 500 bis 1000 Euro im Monat zusammen.“ Beliebt ist auch die sogenannte „Depotgebühr“: Gegen Bares stellt der Arzt die Produkte des ihn finanzierenden Sanitätshauses in seiner Praxis aus. „Wenn Sie das nächste Mal bei Ihrem Orthopäden eine solche Glasvitrine entdecken, sollten Sie sehr misstrauisch werden“, rät Korruptionsexperte Dolata.

„Einen guten Arzt erkennen Sie daran, dass er seinen Patienten erstens nur auf deren Nachfrage und zweitens immer mehrere Anbieter nennt“, sagt Korruptionsermittlerin Michels.

Pralinen im Wartezimmer

Thorsten Schuberth (Name von der Redaktion geändert) hat selbst miterlebt, wie sich Ärzte kaufen lassen. Bis vor einem Jahr arbeitete der 30-Jährige im Außendienst eines Medikamentenherstellers. Das Unternehmen will er lieber nicht nennen; er möchte keinen Ärger.

Schuberths Job war es, Ärzte in Süddeutschland abzuklappern, etwa zehn pro Tag. Viele Stunden verbrachte er in Wartezimmern, bis er vorgelassen wurde, um seine Präparate anzupreisen. Dabei lernte er schnell, dass er sich mit den Arzthelferinnen gut stellen muss: „Die entscheiden über den Zugang zum Arzt und haben oft in der Arztpraxis die Hosen an.“ Nette Worte und kleine Aufmerksamkeiten wie Pralinen waren immer hilfreich.

Doch Schuberth wollte das alles nicht. Dafür hatte er nicht acht Semester Pharmazie studiert. Nach sechs Monaten war er völlig desillusioniert. „Das Wohl des Patienten spielte kaum eine Rolle. Die Informationen, die wir den Ärzten gegeben haben, waren immer tendenziös und oft auch nicht seriös.“ Er gab den Job auf.

Billige Tricks

Schuberth erzählt von billigen Tricks, mit denen Außendienstler arbeiten. Wie etwa die relative Risikoreduktion: „Wenn ein Medikament A die Gefahr einer Blutverklumpung, also einer Thrombose, um zwei Prozent vermindert, ein neues Medikament B dagegen um vier Prozent – dann erzählt der Außendienstler, die relative Risikoreduktion liege bei 100 Prozent.“ Klingt gigantisch, ist aber in Wirklichkeit nur eine marginale Verbesserung.

Schuberth hat sich oft darüber gewundert, dass keiner genauer nachfragte. Seine Erklärung: „Die Ärzte haben oft nicht die Zeit und die Routine, Studien richtig zu lesen.“ Viele Mediziner nehmen es kritiklos hin – und verschreiben die Präparate später ihren Patienten.

Manchen Ärzten machte Schuberth ein besonderes Angebot: Er lud sie zu Medizinerkongressen ein. In den Genuss solcher Reisen kamen freilich nur Ärzte, die schon viele Präparate des Unternehmens verordnet hatten oder die das Potenzial hatten, künftig viele Rezepte auszustellen.

Solche Reisen sind zwar seltener geworden als früher, als jeder Wald- und Wiesen-Doktor für eine nur zweistündige Fortbildungsveranstaltung eine Woche samt Partner in ein Wellnesshotel in den Alpen eingeladen wurde. So mancher Außendienstler erinnert sich noch mit Grauen an Exzesse, zu denen es bei manchen dieser Ausflüge kam. So berichtet der ehemalige Pharmareferent eines europäischen Konzerns von einer Tagung in Kalifornien, zu der sein Unternehmen gut 20 Urologen aus Deutschland eingeladen hatte: „Die hatten auf dem Hinflug mitten über dem Atlantik bereits die komplette Businessclass leergesoffen.“

Auf den Medizinerkongressen selbst dürfen dann besonders wichtige Ärzte – Vorsitzende von medizinischen Fachgesellschaften etwa – Referate im Sinne ihres Sponsors halten. „Ich habe selbst erlebt, wie die Vorträge dieser sogenannten Koryphäen dann gleich von der Firma geschrieben wurden“, sagt Schuberth. „Mietmäuler“ heißen die gekauften Redner in der Branche. Damit sie das Richtige sagen, bezahlen Unternehmen zwischen 1000 und 10 000 Euro je Vortrag.

Geld und Geschenke

Am Vorabend lädt der Hersteller seine Kongressreferenten gerne ein: mal in einen nüchternen Konferenzraum, mal in ein gemütliches Restaurant. Bei diesem „Speaker’s Briefing“ gehen die Marketingmanager die Vorträge mit den Medizinern durch. Dabei werden Manuskripte überarbeitet, oder die Botschaft wird im Sinne des Unternehmens geändert.

Fortbildungen und Kongressteilnahmen zu sponsern sind nur zwei Möglichkeiten, um Ärzte zu beeinflussen. Schließlich lassen sich die Mediziner auch mit Geld und Geschenken ködern. So soll der Medikamentenhersteller Stada zahlreiche Sportveranstaltungen für die niedergelassenen Ärzte und ihre Familien veranstaltet haben. Kart-Rennen zum Beispiel, zu denen sogar Arzthelferinnen mitkommen durften. Wer lieber zuschauen wollte, für den gab es Karten für Fußballbundesliga-Spiele, sagt ein Insider: „Wir hatten eine Loge im Frankfurter Fußballstadion, auf Schalke und Sitzplätze in der Münchner Allianz-Arena.“ Eingeladen seien freilich nur Ärzte gewesen, die fleißig Stada-Pillen verschrieben. Zu den Vorwürfen sagt ein Unternehmenssprecher: „Sämtliche vertrieblichen Aktivitäten von Stada bewegen sich stets im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen.“

Beamer fürs Wohnzimmer

Der Medikamentenhersteller Trommsdorff aus Alsdorf bei Aachen steht im Verdacht, es mit High-Tech-Spielzeug für zu Hause versucht zu haben: Ärzte, die fünf Patienten auf den hauseigenen Blutdrucksenker Emestar einstellten und dessen Wirkung auch dokumentierten, sollen einen Flachbildschirm erhalten haben. Für 12 Patienten soll es eine hochwertige Kaffeemaschine, für 14 ein Navigationssystem und für 18 Patienten gar einen Laptop oder einen Beamer gegeben haben.

Die Ärzte füllen dafür sogenannte Anwendungsbeobachtungen aus. Auf den Fragebögen der Pharmakonzerne vermerken sie, wie sich die Pillen im Körper der Kranken bemerkbar machen, ob und welche Nebenwirkungen auftreten. Grundsätzlich eine sinnvolle Sache. Nur: Oft werden die Anwendungsbeobachtungen bloß als Vorwand missbraucht, um den Ärzten Geld zukommen zu lassen. Zuweilen müssten die Ärzte nur ein Beobachtungsformular blanko unterschreiben, heißt es in der Branche.

„Nicht wenige Anwendungsbeobachtungen sind reine Marketingmaßnahmen und dienen eher der Verkaufsförderung“, kritisiert Axel Munte, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Die Staatsanwaltschaft Aachen ermittelt derzeit gegen Manager und Pharmareferenten von Trommsdorff sowie gegen die verdächtigten Ärzte – insgesamt sind etwa 500 Verfahren anhängig.

Die Staatsanwaltschaft Ulm hat indes bundesweit über 2000 Verfahren angestrengt – weil niedergelassene Mediziner sich angeblich von Ratiopharm mit Geld, Geschenken und Einkaufsgutscheinen zu entsprechenden Verordnungen motivieren ließen. Zahlreiche Verfahren wurden aber eingestellt. Nicht etwa, weil sich die Vorwürfe in Luft aufgelöst hätten. Doch nach gängiger Rechtsauffassung kann sich ein niedergelassener Arzt gar nicht wegen Bestechlichkeit strafbar machen. Nur wer in einem geschäftlichen Betrieb angestellt oder von diesem beauftragt sei, könne wegen Annahme von Schmiergeld belangt werden, argumentieren die Juristen. Im Klartext: Bei Klinikärzten greift das Strafgesetzbuch, bei Niedergelassenen nicht.

Konzentration auf Facharztgruppen

Die Konzerne überlegen sich freilich gut, welchem Arzt sie Aufmerksamkeiten zukommen lassen. Schließlich müssen auch die Medikamentenhersteller sparen. „Die dackeln nicht mehr zu jedem“, sagt Johannes Hüter (Name von der Redaktion geändert) ein Kinderarzt und Allgemeinmediziner in einer 60.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen. Die Industrie konzentriert sich heute viel mehr auf einzelne, besonders ertragsstarke Facharztgruppen, etwa die Rheumatologen. Denn die verschreiben beispielsweise hochpreisige, biotechnisch hergestellte Entzündungshemmer.

Noch problematischer ist die Konzentration der Industrie auf die Meinungsführer, etwa Vorstände von medizinischen Fachgesellschaften. In Leitlinien legen sie fest, was jeder Arzt bei einer Erkrankung zu verordnen hat. „Wenn man sich nicht daran hält, steht man mit einem Bein schon im Gefängnis“, sagt Hüter. Doch er ist überzeugt, dass es massive Interessenkonflikte gibt und viele Ordinarien nicht objektiv urteilen. Für ihn werde es immer schwieriger, zu beurteilen, welche Information wirklich sauber sei.

Zum Beispiel misstraut er Informationen, die eine Schweinegrippe-Impfung empfehlen: „Die Erkrankung verläuft so mild, das ist doch ein riesengroßer Beutezug der Pharmaindustrie.“

Vorwürfe gegen das Robert Koch- Institut

Tatsächlich hat Transparency International schwere Vorwürfe gegen das Robert Koch-Institut (RKI) und seine „Ständige Impfkommission“ (Stiko) erhoben. Das RKI ist die für den Seuchenschutz zuständige Bundesbehörde, die Stiko gibt Impfempfehlungen für Ärzte und Kassen heraus. Der Vorwurf von Transparency-Vorstand Angela Spelsberg: „Intransparenz und potenzielle Interessenkonflikte unterminieren die Glaubwürdigkeit und nähren den Verdacht, dass die H1N1-Grippewelle als Schweinegrippe-Pandemie von der Pharmaindustrie zur Vermarktung genutzt wird.“

Immerhin hat die Stiko seit Sommer 2008 eine Seite mit Selbstauskünften ihrer Mitglieder online gestellt – fast ausnahmslos medizinische Größen an Universitätskliniken. Daraus geht hervor, „dass die Mehrzahl der derzeit 16 Stiko-Mitglieder mehr oder minder intensive Kontakte, darunter auch bezahlte Tätigkeiten, zu den wichtigsten Herstellern von Impfstoffen hat“, kritisiert Spelsberg. So sitzen vier von ihnen im Fachbeirat Forum Impfen, das von Sanofi Pasteur MSD und Wyeth gesponsert wird, einer in der Arbeitsgemeinschaft Meningokokken – sie ist von Baxter und Novartis finanziert. Die Liste ist lang. Für Studien bekommen fast alle Stiko-Mitglieder Honorare von der Industrie.

IQWiG-Chef Sawicki Quelle: laif/ Matthias Jung

Tatsächlich ist es schwer, medizinische Experten zu finden, die nicht mit Pharmakonzernen verbandelt sind.

Welch sonderbare Blüten das auch beim Schreiben von Studien treibt, kam vor wenigen Wochen heraus, wie die „New York Times“ (NYT) berichtete: Das US-Pharmaunternehmen Wyeth habe positive Artikel über seine Hormonersatztherapien für Frauen in den Wechseljahren von Ghostwritern verfassen lassen. Die Experten hätten nur noch ihre Namen darunter setzen müssen. Laut NYT begann die Geschichte 2003, als die Agentur Design Write für 25 000 Dollar ein 14-seitiges Manuskript verfasste und es dann an Gloria Bachmann, Professorin für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Robert Wood Johnson Medical School in New Jersey, schickte. Die Medizinerin antwortete: „Ich hatte nur eine Verbesserung, die ich rot markiert habe.“ Gerichtsdokumente belegten, dass 26 solcher Pseudoartikel verfasst wurden.

Unterschlagung an der Tagesordnung

Das war erst der Anfang. Der niederländische Fachverlagsriese Elsevier hatte zwischen 2000 und 2005 sechs Wissenschaftsmagazine herausgegeben, die direkt von Pharmakonzernen gesponsert wurden, ohne dass sie genannt wurden. So kamen im „Australasian Journal of Bone and Joint Medicine“ Produkte des amerikanischen Pharmaunternehmens Merck besonders gut weg. Der Konzern hatte das Magazin finanziert. Elsevier gab im Juni bekannt, die Fälle aufzuklären und neue interne Richtlinien zu erlassen.

Selbst wenn die Blätter ohne heimliche Pharmazuwendungen erscheinen, sind Studien aber oft kein Beweis für die Wirksamkeit eines Medikaments. Denn häufig stellen sie nur einen Teil der Wirklichkeit dar. Untersuchungen, die das Gegenteil zeigen, werden einfach nicht veröffentlicht: „Die Hälfte aller begonnenen klinischen Studien gelangt nicht in die Öffentlichkeit“, sagt Gerd Antes. Er leitet das Deutsche Cochrane-Zentrum in Freiburg, das die Qualität medizinischer Untersuchungen bewertet. Sein Urteil: „Alle Beteiligten neigen dazu, das nicht zu publizieren, was ihnen nicht gefällt.“

Pfizer unter Verdacht

Genau deshalb liegt das 2004 als Überwachungsbehörde gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) seit Juni im Clinch mit dem Pharmariesen Pfizer. Zur Beurteilung von Mitteln gegen Depressionen hatte das Kölner Institut Material angefordert. Für sein Präparat Edronax legte Pfizer sechs Studien an 1600 Patienten vor. Recherchen des Instituts ergaben, dass noch zehn weitere Studien an 3000 Patienten durchgeführt wurden, die Pfizer nicht vorgelegt hatte. „Irreführung durch Verschweigen ist kein Kavaliersdelikt“, sagt IQWiG-Chef Peter Sawicki.

Der Verdacht: Diese laut Sawicki jetzt nachgereichten Studien hätten vermutlich die Wirksamkeit des Präparat nicht bestätigt.

Ein Institut wie das IQWiG scheint also dringend notwendig zu sein. Es soll herausfinden, ob Studien für neue Pillen und Therapien auch korrekt sind. Das Ziel: echte Innovationen von Scheininnovationen zu unterscheiden. Doch ob der Leiter der Kontrollbehörde so sauber ist, wie man es von einem Wächter im Studiendschungel erwarten würde, wird von einigen Experten infrage gestellt.

Zum Beispiel von Hans-Joachim Maes, einem selbstständigen Profirechercheur in Sachen medizinischer Dokumentation aus Berlin. „Äußerst dubios“, erscheint diesem Sawickis Rolle bei einer Studie für das zur italienischen Menarini-Gruppe zählende Pharmaunternehmen Berlin-Chemie. Sawicki habe über den Blutdruck senkenden Betablockler Nebivolol aus dem Hause Berlin-Chemie ein wenig aussagekräftiges Gutachten erstellt. Die von Maes monierte Studie bescheinige Betablockern, dass sie unbedenklich seien. „Sawicki hat weitreichende Schlüsse für Millionen Patienten auf der Basis von zehn Probanden gezogen“, sagt Maes. Damit entspreche die Untersuchung in keiner Weise den Anforderungen, die das IQWiG normalerweise an medizinische Studien stellt.

Haltlose Anschuldigungen?

Sawicki findet Maes Anschuldigungen völlig haltlos. „Diese Pilotstudie sollte nur die Machbarkeit der simultanen kombinierten Messung der Insulinsensitivität, des Blutflusses und der arteriellen Elastizität bei Typ-2-Diabetikern klären, die entweder diesen Betablocker oder einen ACE-Hemmer schlucken“ sagt Sawicki. „Für so eine eng umrissene Fragestellung reichen zehn Probanden aus.“ Darüber hinaus habe er keine weitreichenden Schlüsse gezogen. Wenn die Berlin-Chemie das getan habe, sei es durch seine Studie jedenfalls nicht gedeckt. Der Abschlusssatz im Fazit von Sawickis Publikation lautet: „Wenn diese Ergebnisse sich in größeren Studien bestätigen ließen, wäre das ein Argument gegen die Vorbehalte gegen Betablocker als Erstlinientherapie bei Patienten mit Diabetes wegen möglicher metabolischer Nebenwirkungen.“

Rezepte gegen den Filz

Auch hier zeigt sich: Die deutsche Gesundheitsbranche ist in sich derartig verfilzt, dass keiner mehr so recht weiß, wem er noch trauen kann. Ein Teil des Sumpfes ließe sich trockenlegen, wenn Bestechlichkeit auch bei niedergelassenen Ärzten strafbar wäre, glauben die Korruptionsexperten Dolata und Michels. Doch an der nötigen grundlegenden Reform des kranken deutschen Gesundheitssystems ist zur Freude der Interessengruppen aus Pharmazie und Medizin bislang noch jeder Politiker gescheitert. Der niedersächsische Minister Rösler wünscht sich manchmal, „einfach wie beim Computer den Reset-Knopf drücken zu können und das System komplett neu aufzusetzen“. Doch den Knopf hat auch er noch nicht gefunden.

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