Mobilität Neue Konzepte gegen den Verkehrskollaps

Metropolen in aller Welt stehen vor dem Verkehrskollaps. Als Ausweg entwickeln Stadtplaner und Ingenieure immer radikalere Ideen für den Nahverkehr: selbstfahrende Taxis, City-Seilbahnen und ferngesteuerte Autos.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Touristen wie Gläubige Quelle: dpa

Ab sieben Uhr morgens geht nichts mehr auf den Straßen rund um den Goldenen Tempel in Amritsar. Touristen wie Gläubige pilgern zum Heiligtum der Sikhs in der nordindischen Millionenstadt. Mopedfahrer schlängeln sich halsbrecherisch durch eng stehende, wild hupende Autokolonnen. Und wer denkt, dieses blechgewordene Chaos sei schon der Gipfel, der irrt. Es ist erst der Anfang: Bis 2013 soll der Absatz neuer Autos in Indien um mehr als elf Prozent auf rund 17 Millionen pro Jahr steigen.

Amritsar sucht daher dringend nach Auswegen aus dem Chaos. Einer davon ist weiß, hat fünf Sitze und sieht aus wie ein Hybrid aus Auto und Mini-Zugwaggon. Das Gefährt ist Teil eines sogenannten Personal Rapid Transit (PRT), eines neuartigen Verkehrssystems des britischen Startups Ultra PRT. Die von außen pummelig wirkenden Kabinen bieten Platz für fünf Passagiere und fahren nicht nur lautlos und elektrisch, sondern auch ohne Fahrer: Lasersensoren halten die Shuttles in ihrer Fahrspur, die auf meterhohen Stelzen gebaut ist. Ein Zentralcomputer berechnet ihre Route. Und statt an jeder Station zu halten, rollen die Mini-Kabinen ohne Zwischenstopp direkt zum Ziel – schneller als Bus und Auto, so der Plan.

Neue Wege beschreiten

Nicht nur in Amritsar, in aller Welt arbeiten Stadtplaner, Politiker und Ingenieure an Ideen, den Verkehr zu entzerren. Ihnen ist klar, dass sie neue Wege beschreiten müssen, wenn sie die städtische Mobilität aufrechterhalten wollen. Immer seltener gelingt es, Staus mit neuen Leitsystemen und breiteren Straßen zu verhindern. Zusammen mit Unternehmen suchen Stadtplaner daher nach Wegen, den Nahverkehr angenehmer zu gestalten und vor allem individueller auf die Passagiere zuzuschneiden. Ihr Ziel ist nicht mehr die autogerechte Stadt, sondern ein stadtgerechter Nahverkehr.

Sicher, auch in Städten wie Wuppertal, Morgantown im amerikanischen West-Virgina, am Düsseldorfer Flughafen oder im westfälischen Hagen werden mit Schwebebahnen ähnliche Techniken seit Jahrzehnten erprobt. Doch im Computer-Zeitalter sind viel ausgefeiltere Systeme möglich – schneller, individueller und umweltfreundlicher. Vor allem der fahrerlose Transport hat Fortschritte gemacht. Die Roboterzüge in Amritsar sind nur ein besonders aktuelles Beispiel dafür. Auch selbstfahrende Busse und Autos, die sich automatisch zu Kolonnen zusammenschließen, werden gerade erprobt.

Das Interesse an diesen Techniken ist größer denn je. Wenn im April im Messezentrum Dubais der weltgrößte Kongress zur städtischen Mobilität seine Tore öffnet, werden so viele Experten erwartet wie noch nie: Die Veranstalter rechnen mit mehr als 10.000 Besuchern aus aller Welt. 2009 in Wien waren es mit rund 6000 nur etwas mehr als halb so viele .

Radikal neue Ideen

Die Experten haben in Dubai viel zu besprechen. Bis 2025 soll es laut Uno-Schätzungen rund um den Globus 27 Megacitys mit jeweils mehr als zehn Millionen Einwohnern geben, heute sind es weltweit 20. Allein in Indien entsteht laut einer McKinsey-Studie jedes Jahr eine neue Stadt von der Größe Chicagos mit rund 2,7 Millionen Einwohnern. Die Folge: In knapp 15 Jahren werden rund 54 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben – und heute kaum vorstellbare Staus produzieren.

Denn überall gehört zum wachsenden Wohlstand auch ein Wagen. In Peking etwa wuchs die Zahl der Autos im Jahr 2010 von vier auf fünf Millionen.

Dass das so nicht weitergehen kann, erkennen inzwischen sogar die Stadtväter im autofixierten Dubai – und experimentieren mit radikal neuen Ideen: Seit 2009 fährt im Emirat auf einer 50 Kilometer langen Strecke zwischen dem Hafen Dschabal Ali und dem Stadtteil Raschidiyya die weltweit größte vollautomatische Metro. Nicht Fahrer, sondern Computer steuern deren Züge. Sie sollen nicht nur pünktlicher und sicherer von Halt zu Halt rollen, sondern auch preiswerter im Betrieb sein.

Der Münchner Technologiekonzern Siemens hat weltweit bereits elf solcher Roboter-Metrolinien gebaut. Allein die asiatischen Großstädte, schätzt das Unternehmen, investieren künftig pro Jahr 440 Millionen Euro in Züge. Der weltweite Markt für U- und Stadtbahnen wächst damit bis 2015 auf 2,7 Milliarden Euro. Auch für Europa und Nordamerika rechnet Siemens mit zweistelligen Zuwachsraten.

Doch selbst fahrerlose Metros haben Nachteile: Sie sind teuer und rollen auf festgelegten Routen – wer woanders halten will, muss umsteigen.

Personal Rapid Transport System von Fairwood Quelle: Fairwood

Das britische Unternehmen Ultra glaubt, mit seinen fahrerlosen Taxis für das indische Amritsar eine schlauere Lösung gefunden zu haben. Mit dem indischen Beratungsunternehmen Fairwood plant das Startup eine acht Kilometer lange Strecke auf dreieinhalb Meter hohen Stelzen, auf der 300 Kabinen pendeln. An sieben Stationen sollen sie Passagiere aufsammlen und pro Stunde 6000 Fahrgäste bewegen, rund 35 Millionen pro Jahr. Vorbei an Staus, Ampeln und Unfällen.

Die Kabinen bewegen sich auf ihrer Stelzen-Strecke ähnlich wie Daten im Internet: immer nur dann, wenn sie tatsächlich gebraucht werden, und immer auf dem schnellsten Weg. Damit sollen sie 70 Prozent weniger Energie pro Person und Kilometer verbrauchen als ein Auto und rund halb so viel wie ein Bus. Sogar die Bau- und Betriebskosten sollen deutlich unter denen anderer öffentlicher Verkehrsmittel liegen. Auf einer Vier-Kilometer-Strecke am Londoner Flughafen Heathrow wird das System schon getestet.

Von einem Zentralrechner gesteuert, treten die mit Akku und Elektromotor betriebenen Kabinen an speziellen Haltestellen automatisch zum Dienst an. Die Passagiere geben an einem Terminal das Fahrtziel ein, halten ihr zuvor gekauftes Ticket unter ein Lesegerät und steigen ein. Nach wenigen Sekunden geht die Fahrt los.

Selbstfahrende Taxis

Auf dem zwei Meter breiten Fahrweg – 30 Prozent schmaler als eine Straßenspur – fahren die Kabinen im dichten Abstand von zwei bis drei Sekunden. Unfälle soll ein Computersystem vermeiden, das die Kabinen rechtzeitig bremst. Im ausgebauten Zustand gleicht das Schienensystem einem intelligenten Netzwerk mit Abzweigungen, Umleitungen und Haltebuchten. Wenn gewünscht, docken die automatischen Taxis sogar im fünften Stock einer Shoppingmall an.

"Indien ist der ideale Markt", sagt Ultra-Geschäftsführer Phil Smith. Das gelte nicht nur für die neu entstehenden Millionenstädte auf dem Subkontinent. "Die Technik ist so gut, dass sie auch in den bestehenden Riesenstädten das Verkehrschaos lichten kann." Weltweit gebe es laut Smith noch mehr als ein Dutzend weiterer Interessenten für die fahrerlosen Taxis, sowohl in Indien als auch in den USA, Schweden und Großbritannien.

Obwohl sich die Fahrwege der superleichten Fahrzeuge auf dünnen Pfeilern bauen lassen, bieten enge Straßenschluchten mitunter zu wenig Platz für die neue Technik. Darum testet die spanische Provinz Castellón eine Mischform zwischen automatisiertem und manuellem Fahren.

Volvo testet Zukunftstechnik

Dort pendeln High-Tech-Busse mit abgasfreiem Elektroantrieb zwischen der Universität und dem Stadtzentrum auf zwei eigens eingerichteten Spuren von mehr als 40 Kilometer Länge. Die elektrisch betriebenen Busse haben zwar noch einen Fahrer, doch auf der Busspur lenkt, bremst und beschleunigt das Fahrzeug automatisch. Mithilfe von Sensoren und Kameras bleibt es auf seiner Spur. Nur an Kreuzungen mit herkömmlichen Fahrzeugen muss der Fahrer übernehmen.

Was aber, wenn Menschen nicht auf das Statussymbol Auto verzichten können oder wollen, der Verkehr aber dennoch  effizienter organisiert werden soll?

Die Entwickler des EU-geförderten Projekts Sartre – die Abkürzung steht für "Safe Road Trains for Environment" – haben eine Lösung: Fahrzeuge sollen mit Funktechnik während der Fahrt zu festen Kolonnen aneinandergekoppelt werden. Bordeigene Computer steuern, bremsen, und beschleunigen.

Ihren ersten Test hat die Technik vor wenigen Tagen auf der hauseigenen Versuchsstrecke in Göteborg beim Autohersteller Volvo erfolgreich absolviert. Dabei fuhren zwei Autos mithilfe von Fahrassistenzsystemen völlig automatisch hintereinander her. Sie kommunizierten über Radiowellen mit dem Führungsfahrzeug: Wenn dessen Fahrer beschleunigte, gaben die Verfolger Gas. Bremste er ab, taten sie das Gleiche. Ohne Zeitverzug.

Luftaufnahme von Shanghai Quelle: dapd

Künftig könnten Berufspendler so auf dem Weg zur Arbeit das Steuer loslassen und die Zeitung lesen. Sobald sich ein Fahrer seinem Ziel nähert, übernimmt er das Steuer wieder, schert aus der Kolonne aus, und die anderen Autos rücken automatisch auf.

"Die Fahrzeuge sparen rund 20 Prozent Kraftstoff, sind seltener in Unfälle verwickelt und brauchen auf der Autobahn weniger Platz, weil sie deutlich weniger -Sicherheitsabstand benötigen", sagt om Robinson vom britischen Technologieunternehmen Ricardo, der das Projekt koordiniert. Zudem erhöht die Technik die Fahrsicherheit. Computer kennen schließlich keine Schrecksekunden oder Unaufmerksamkeiten.

Bevor der Traum des automatisierten Transports allerdings Wirklichkeit werden kann, müssen noch ein paar Hindernisse überwunden werden. Laut geltendem Recht in der Bundesrepublik beispielsweise ist der Fahrer stets für sein Fahrzeug verantwortlich. Wenn es allerdings keinen Fahrer gibt, ist die Frage der Haftung unklar.

Superbus aus Peking

Zudem ist fahrerloses Fahren nicht überall realisierbar, weil es in den Städten zu eng ist oder sich auf den Straßen ohnehin nichts mehr bewegt.

Deshalb geht das chinesische Unternehmen Shenzhen Hashi Future Parking Equipment einen ganz anderen Weg: Ein brückenähnlich gestalteter, strombetriebener Superbus soll auf am Straßenrand eingelassenen Schienen bis zu 1400 Passagiere transportieren.

Das viereinhalb Meter hohe Ungetüm wölbt sich über die Straße, während unter ihm Autos, Motorräder und Fahrräder hindurchkriechen. Der Riesenbus versperrt nie den Weg. Auch dann nicht, wenn er anhält, um Passagiere aussteigen zu lassen.

Die auf den ersten Blick irrwitzig anmutende Idee zeigt, wie radikal die Lösungen sein müssen, um der Verkehrsprobleme Herr zu werden. Schon in den nächsten Monaten sollen Tests mit dem neuen Superbus in Peking beginnen, sagt Song Youzhou, Chef von Shenzhen Hashi Future Parking Equipment.

Verkehr geht in die Luft

Und wenn der Platz am Boden gar nicht mehr reicht, geht der Verkehr eben auch innerstädtisch in die Luft. Als das Geschäft mit Skiliften beim österreichischen Marktführer Doppelmayr stockte, kamen dessen Ingenieure schon vor rund zehn Jahren auf eine Idee: Warum nicht Menschen in staugeplagten Städten genauso in luftiger Höhe befördern wie Skifahrer?

Die Idee ist inzwischen Realität. Im Oktober wurde in Singapur die neue Jewel Box eröffnet. Die Seilbahn aus dem Hause Doppelmayr bietet Luxus pur: Die Kabinen aus Plexiglas ermöglichen nicht nur einen faszinierenden Blick auf die Stadt. Sie sind auch mit Leder, Minibar, Sound-System und Glasboden ausgestattet.

Jährlich sollen die Gondeln bis zu 1,7 Millionen Passagiere locken. Die schweben vom Festland über den Hafen von Singapur nach Santosa Island. Doppelmayr will das System nun auch in anderen Städten etablieren. Ebenfalls über der Erde, aber noch kühner ist die pedalbetriebene Einschienenbahn namens Shweeb. In durchsichtigen, aerodynamisch geformten Plexiglaskabinen, die an einer Schiene aufgehängt sind, strampeln sich ihre Passagiere selbst gen Ziel.

Schwebebahn der neuseeländischen Firma Shweeb Quelle: Shweeb

Für den neuseeländischen Erfinder Geoffrey Barnett ist klar: „Das ist die ideale Fortbewegung für staugeplagte Städter.“ Denn jeder Fahrer betätigt sich körperlich, die Hände sind frei zum Telefonieren, und aufgrund der reibungsarmen Aufhängung und ihrer windschlüpfrigen Form sind die Kapseln sogar erheblich schneller als ein Fahrrad. Für Tempo 25 sollen sogar nur 33 Watt Muskelkraft nötig sein – ein Fußgänger verbraucht 100 Watt bei Tempo 5.

Eine total verrückte Idee vom anderen Ende der Welt?

Ja, aber: Shweeb funktioniert, das beweist ein Prototyp im Vergnügungspark Rotorua in Neuseeland. Testfahrer erreichten mehr als 70 Kilometer pro Stunde. Im vergangenen Jahr setzte sich Shweeb bei einem von Google initiierten Ideenwettbewerb durch – gegen 150.000 Mitbewerber. Nun fördert der Internet-Konzern die menschliche Rohrpost mit 1,05 Millionen Dollar. Das Geld will Barnett für eine zweite Testbahn nutzen, ihr Ort steht noch nicht fest.

Nicht mit Technik, sondern mit der Brechstange entledigt sich dagegen Bogotá, die Hauptstadt Kolumbiens, ihrer Verkehrsprobleme: Jeden Sonntag sind die meisten Straßen in der Innenstadt für Autos gesperrt. Zwei Millionen Menschen, also rund ein Drittel der Einwohner, nutzen das regelmäßig für ihr Fahrrad-Fest.

Das klappt so gut, dass jetzt auch die spanische Stadt Sevilla allsonntäglich  einen Bann für Autos aussprechen will.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%