Diesel-Skandal Der schmutzige Adblue-Trick der Autobauer

Adblue: Ein Harnstoff-Zusatz für Dieselfahrzeuge soll die umstrittenen Stickoxid-Abgase verringern. Quelle: Presse

Neue Tests belegen: Nicht nur VW betrügt bei der Abgasmessung, die gesamte Autoindustrie gerät unter Beschuss. Die sogenannten Adblue-Tanks sind oft zu klein – die Abgasreinigung kann gar nicht richtig funktionieren.

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Eigentlich müsste die Luft in den deutschen Großstädten Kurortqualität haben. Denn die Stinker von einst, die Dieselmotoren, stoßen laut Norm angeblich mehr als 95 Prozent weniger Rußpartikel aus als noch Anfang der Neunzigerjahre. Auch die Stickoxidemissionen sanken ähnlich. Wohl deshalb erklärte Volkmar Denner, Chef des weltgrößten Autozulieferers Bosch, den Dieselmotor noch im Januar zur „Luftreinigungsmaschine“.

Nun, mit der Kurortqualität ist es in der Wirklichkeit nicht so weit her: In 29 deutschen Regionen liegt die Luftbelastung seit vielen Jahren über den zulässigen Stickoxidgrenzwerten. Der Grund für diese Lücke zwischen dem Bosch-Chef und der Realität: Dieselfahrzeuge, die sich nur im Zulassungstest an die Grenzwerte halten, im Alltag auf der Straße aber diese Werte kontinuierlich überschreiten.

Eigentlich, so dachte man bisher, sei dies ein Problem ausschließlich von Dieselfahrzeugen aus dem Hause Volkswagen, wo eine eigens manipulierte Software genehme Abgaswerte auf dem Prüfstand auswarf. Dokumente und Tests, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegen, zeichnen aber jetzt ein anderes Bild: Zwar manipulierten Daimler, Peugeot oder Opel demnach keine Software, aber auch Modelle von ihnen sind mit hohen Abgaswerten unterwegs.

Der Preis für Umwelt und Gesundheit ist demnach bei all diesen Autobauern beim Verkauf von Dieselmotoren einkalkuliert. Wie VW droht daher nun auch den anderen Ungemach aus den USA. Das oberste US-Umweltamt EPA und die kalifornische Luftreinhaltungsbehörde Carb sind alarmiert. Beide Institutionen, die mit ihren Ermittlungen den VW Skandal auslösten, untersuchen mögliche Rechtsverstöße, wie die WirtschaftsWoche von Behördenvertretern erfuhr.

Die Wahrheit ist teuer

Grund dafür ist die Technik, die viele Autobauer bei der Filterung der Dieselmotoren einsetzen: Um aus Dieselabgasen das Stickoxid wirklich wirkungsvoll herauszuholen und die Euro-6-Norm zu erfüllen, setzen neben Volkswagen und Audi auch Daimler, Peugeot und Opel auf ein Verfahren namens selektive katalytische Reduktion (SCR). Bei dieser Technik benötigen die Fahrzeuge ausreichende Mengen einer Harnstofflösung namens Adblue, die sie in speziellen Tanks mitführen (siehe Grafik) und die das Stickoxid aus den Abgasen filtert.

Wie die Adblue-Technik funktioniert

Offenbar aber spritzen die genannten Hersteller viel weniger Adblue in die Katalysatoren, als für die Einhaltung der Emissionswerte nötig wären. Das hat die niederländische Wissenschaftsorganisation TNO im Auftrag der Regierung in Den Haag herausgefunden. Denn: Würden sie die nötige Menge dieses Adblue zu den Abgasen geben, müssten deutlich größere Tanks für den Zusatzstoff in die Autos gebaut werden – kaum vorstellbar beim derzeitigen Motordesign. Die Adblue-Tanks der Fahrzeuge, so die Studie, „sind um 40 bis zu 80 Prozent zu klein“.

Dieselgate, das sind demnach nicht nur die Softwaremanipulationen einiger weniger, sondern auch das für jeden aufmerksamen Automanager und Ingenieur sichtbare Knausern mit Adblue. Demnach muss das Problem mit den Abgaswerten der Dieselfahrzeuge nicht nur bei Volkswagen, sondern bei vielen Autokonzernen bis in die höchsten Etagen bekannt gewesen sein. Dieselfahrer sollten offenbar nicht mit der unbequemen Wahrheit konfrontiert werden: Entweder füllen sie ständig teures Adblue nach, oder sie akzeptieren einen riesigen Tank für die Flüssigkeit.

Die Adblue-Tanks sind zu knapp kalkuliert

Damit nicht genug, fährt die von den Autobauern besonders gefürchtete US-Umweltorganisation ICCT schwere Geschütze gegen Daimler, Renault und sogar gegen den Münchner Autobauer BMW auf, der mit mehreren Modellen gute Testwerte erreichte. Die Hersteller haben in den vergangenen Wochen versucht, drastisch erhöhte Stickoxidemissionen im Alltagsbetrieb einiger Fahrzeuge mit technischen und juristischen Begründungen zu rechtfertigen. Sie erklärten unter anderem, dass bei Temperaturen von unter zehn Grad (BMW, Daimler) oder sogar 17 Grad (Renault) die Abgasreinigung aus technischen Gründen, etwa zum Schutz der Bauteile, vermindert sei. Diese Einschränkungen seien vom Gesetz gedeckt.

Argumente der Auto-Industrie sind schwer nachvollziehbar

Ob das so ist, ist fraglich. Denn Temperaturen von unter zehn Grad sind kein Extremwetter in Europa oder USA, sondern Alltag. Fest steht allerdings, was die Abschaltungen bei bestimmten Temperaturen bringen: Es wird beim SCR-Verfahren Adblue gespart.

Lars Mönch, Fachgebietsleiter Fahrzeugtechnik beim Umweltbundesamt, kann die Begründung der Hersteller nicht nachvollziehen. Der Bauteilschutz diente nur in den Anfängen der Technik dazu, den noch empfindlichen Katalysator zu schützen. „Heute ist das kein Problem“, sagt Mönch. „Wenn die Reinigungsanlage richtig ausgelegt ist, reicht schon eine Abgastemperatur von 180 Grad, damit der Katalysator funktioniert.“

Die erreichen die Motoren selbst bei niedrigen Außentemperaturen schon nach wenigen Minuten. Mönchs Forderung ist daher klar: „Die Abgasreinigung muss bei allen Temperaturen und Fahrzuständen funktionieren.“ In einem Gutachten von ICCT, das der WirtschaftsWoche vorliegt und das in diesen Tagen einem Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments vorgelegt werden soll, kommt die Organisation zu dem Schluss, dass „die öffentlichen Erklärungen von BMW, Renault und Daimler aus technischer Sicht schwer nachvollziehbar“ seien.

Ähnliche Folgen wie im VW-Abgasskandal drohen

„Wir können uns nicht vorstellen“, sagt ICCT-Europa-Chef Peter Mock, „dass dieses Betriebsverhalten der Fahrzeuge mit US-Recht vereinbar ist.“ Es waren schon ICCT-Nachforschungen im Jahr 2014, die den VW-Skandal rund um die manipulierte Testsoftware ins Rollen gebracht hatten. Die Organisation arbeitet auf das Engste mit der kalifornischen Behörde Carb zusammen. Sollten sich Carb und EPA dem ICCT anschließen, würde der Dieselskandal endgültig die weiteren deutschen Autokonzerne einholen. Mit möglicherweise ähnlichen Folgen wie für VW: Rückrufaktionen, Schadensersatzforderungen und Strafzahlungen.

von Jürgen Rees, Martin Seiwert, Rebecca Eisert

Die Hersteller geben sich auf Anfragen der WirtschaftsWoche bedeckt. Man lege die Abgasreinigung auf die jeweilige Gesetzgebung der Märkte aus, heißt es bei Audi und Daimler. BMW wähnt sich auf der sicheren Seite. Man habe in allen BMW bekannten Tests hervorragend abgeschnitten. Renault räumt Nachholbedarf ein. Nach der Veröffentlichung einer Vorabmeldung zu diesem Artikel hat Daimler mit einer Stellungnahme reagiert.

Man wolle mit einem zusätzlichen Budget von 50 Millionen Euro die Abweichung zwischen Realbetrieb und Testzyklus verringern. Opel sieht keine Probleme. Die Fahrer würden rechtzeitig auf zur Neige gehendes Adblue per Anzeige hingewiesen. Für die Hersteller ist das Adblue immer noch ein lästiger Fremdkörper. Die Entwickler kämpfen im Auto um jedes Kilogramm Gewicht und jeden Liter Bauraum. Ein zusätzlicher Tank mit 50 Liter oder mehr Inhalt passt da schlicht nicht ins Konzept. Zudem wollten die Hersteller ihren Kunden das unkomfortable und teure Nachtanken des Harnstoffes zwischen den Inspektionen ersparen.

Weniger Abgasreinigung statt größerer Tanks

So heißt es in der Erwiderung des VW-Konzerns vom 29. Februar auf eine Schadensersatzklage beim Landgericht Braunschweig: Adblue-Mengen „in Höhe von fünf Prozent des eingesetzten Dieselkraftstoffes“ müssten für eine „effektive Abgasreinigung“ eingespritzt werden. Folglich müsste ein VW Passat über einen Adblue-Tank von mehr als 70 Litern verfügen, um es bis zum nächsten Service-Intervall zu schaffen. Einen solchen Tank hat VW nie eingebaut, obwohl – wie der Konzern einräumt – der US-Gesetzgeber ein Nachtanken zwischen den Serviceintervallen verbietet.

Statt den Tank zu vergrößern, regelten wohl auch andere Hersteller die Abgasreinigung herunter. Tests zeigen: Fast immer, wenn die modernen Dieselmotoren aus dem Labor auf die Straßen fuhren, stieg der Stickoxidwert. In der öffentlichen Version der TNO-Studie sind die untersuchten Fahrzeugmarken codiert. Der WirtschaftsWoche liegen jedoch die Klarnamen vor. So wurde etwa der Van Opel Zafira 1.6 CDTI ecoflex untersucht. Auf der Straße überstieg er den Grenzwert des Zulassungstests um mehr als das Achtfache. Der Adblue-Tank im Zafira ist mit acht Liter Inhalt wesentlich kleiner als bei allen Wettbewerbern. Ähnlich verhält es sich bei der Mercedes-Limousine C220 CDI oder dem Geländewagen Audi Q7 TDI.

Die Abgas-Tests in Deutschland und Europa

Dass das Problem mit viel Aufwand technisch lösbar ist, beweist BMW mit der allerneuesten Modellgeneration der Limousine 530d in der TNO-Untersuchung (siehe Tabelle auf Seite 1). Deren Motor scheint so fortschrittlich zu sein, dass das Adblue ausreicht und die Abgaswerte auch auf der Straße in Ordnung sind. Das BMW Modell sei das einzige im Test, so lobt die Studie, das einen ausreichend großen Adblue-Tank hat.

Noch fehlt eine Adblue-Infrastruktur

Die Konsequenzen des Dieseldilemmas für die Autofahrer sind absehbar: „Bei Neufahrzeugen wird es keine Frage mehr sein: Kunden werden neben Diesel auch regelmäßig Adblue tanken müssen“, sagt Wolfgang Eifler, Inhaber des Lehrstuhls für Verbrennungsmotoren an der Ruhr-Universität Bochum. 2020 sollen rund 20 Millionen Diesel-Pkws mit Adblue-Tanks auf Deutschlands Straßen rollen.

Doch noch fehlt die nötige Infrastruktur. Zwar bieten viele Tankstellen die Harnstofflösung in Flaschen und Kanistern zu 2, 5 oder 10 Litern an. Doch die Preise steigen schnell ins Astronomische: Während der Liter Harnstoff für Lkws etwa 60 Cent pro Liter kostet, verlangen Tankstellen und Werkstätten für Pkws gerne fast das Zehnfache. Hersteller und Mineralölgesellschaften werkeln seit Jahren am Aufbau von Adblue-Zapfsäulen. Aber aktuell gibt es ganze 20 von ihnen in Deutschland. Die Tankstellen argumentieren betriebswirtschaftlich: Wo keine Nachfrage, da kein Angebot. Das wird sich wohl ändern.

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