Erst verabschiedete sich Herbert Diess am Freitagnachmittag gut gelaunt auf den sozialen Medien in den Sommerurlaub. Nur wenig später kündigte Volkswagen per Pressemitteilung einen Chefwechsel an: Diess muss gehen, Porsche-Chef Oliver Blume wird der neue mächtige Mann in Wolfsburg. Autoexperte Stefan Bratzel ordnet ein, was das für die beiden Pfeiler der VW-Strategie bedeutet: Elektromobilität und Software.
WirtschaftsWoche: Herr Bratzel, Sie beobachten Volkswagen seit Jahren sehr genau. Hat Sie der Machtwechsel an der Konzernspitze am Freitagabend überrascht?
Stefan Bratzel: Nur zum Teil. Nach den Turbulenzen der vergangenen eineinhalb Jahre war klar: Wenn jetzt noch etwas passiert, ist Herbert Diess weg. Mich hat bei ihm vor allem gewundert, dass er sich so offensichtlich ungeschickt mit dem Betriebsrat angelegt hat.
Diess gilt als Machtmensch. Das mag unter Vorständen nicht unüblich sein, deshalb anders gefragt: War Diess zu sehr Machtmensch?
Diess wollte niemanden neben sich haben, der ihn überstrahlen könnte. Der klare Kurs in Richtung Elektromobilität und das Selbstbewusstsein, ein eigenes Betriebssystem zu entwickeln, hat sicher auch viele im Konzern motiviert. Aber er konnte zuletzt die Stakeholder nicht mehr hinter sich versammeln. Oliver Blume ist als Typ viel moderierender, er gilt als Teamplayer.
Unter Diess war es zuletzt unruhig. Vor allem die Probleme mit der wichtigen Software-Einheit Cariad sind weithin bekannt.
Cariad war für Diess entscheidend. Dass das so schiefgelaufen ist, hat ihm immens geschadet. Er unterlag einer Fehleinschätzung: VW ist groß genug, um das hinzukriegen. Doch er hat die Rechnung ohne die eigene Kompetenzlücke gemacht. Eine solche Software für die vielen Marken zu entwickeln – das ist eine herkulische Aufgabe. Volkswagen hat sich einen Wertschöpfungsanteil von 60 Prozent bei Software vorgenommen, die Ausgangslage sind zehn Prozent. Dabei hat Volkswagen – und auch andere deutsche Autobauer – Software insgesamt viel zu spät als Thema erkannt. Tesla konnte Over-the-air-Updates schon 2013. BMW zog 2019 nach als erstes deutsche Autounternehmen.
Zur Person
Professor Dr. Stefan Bratzel ist Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach. Bratzel forscht zu Automobilherstellern, Zulieferern und Zukunftsfragen der Mobilität.
Cariad hat auch für interne Querelen mit Audi und Porsche gesorgt. Das Verhältnis zwischen Diess und zwei weiteren Topmanagern gilt als stark belastet – nämlich mit Porsche-Chef Oliver Blume und Audi-Chef Markus Duesmann.
Blume und Duesmann haben Ergebnisverantwortung für ihre jeweiligen Modelle. Wenn dann das Betriebssystem fehlt und es nicht vorwärtsgeht, fehlt ihnen dieses Ergebnis, ihnen drohen Marktanteile zu entgleiten. Zurecht waren die beiden besorgt. Und gerade dadurch, dass Porsche und Audi ihre Software nicht rechtzeitig bekommen haben, ist das Thema beim Aufsichtsrat oben auf der Agenda gelandet. Audi und Porsche sind die großen Gewinnbringer im VW-Kosmos – wenn es da Probleme gibt, kann das den Konzern ins Wanken bringen. Und Diess hat hier Fehleinschätzungen geliefert, er ist für die Probleme bei Cariad verantwortlich. Und ja, mit seiner vorpreschenden Art hat er sich auch mit Duesmann und Blume verkracht.
Was heißt es dennoch für das interne Machtverhältnis, wenn nun der Porsche-Chef an die Konzernspitze aufrückt?
Wie ich schon sagte: Blume ist ausgeglichener. Das macht auch das Verhältnis zu Markus Duesmann einfacher. Aber man darf nicht vergessen: Das sind alle Alphatiere! Ich traue Blume vor allem größere Chancen dabei zu, die Belegschaft hinter sich zu versammeln. Das war unter Diess nicht der Fall.
Trauen Sie Blume auch zu, die Großbaustelle Cariad in den Griff zu bekommen?
Oliver Blume ist Produktionsexperte. Bei den VW-Marken spielen Zeitleisten eine große Rolle, ein Konzernchef muss es schaffen, Software mit den wichtigen Start-of-Production-Terminen in Einklang zu bringen. Software funktioniert nicht nach diesen alten Strukturen der Produktanläufe. Das ist eine OP am offenen Herzen. Der von Diess gesetzte Zeitplan war für VW womöglich zu optimistisch. Doch an der Fahrzeugsoftware hängen die Gewinne der Zukunft. Wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass VW eine weitere Großbaustelle hat: das wichtige China-Geschäft läuft nicht. Der Markt fordert gerade beim Thema Vernetzung mehr, als VW bislang liefern kann. Deswegen hatte der Aufsichtsrat Ende 2021 VW-Markenchef Ralf Brandstätter dort hingeschickt, um das Problem anzugehen.
Diess hat sich mit spitzen Aussagen auch bei den Autozulieferern unbeliebt gemacht.
Ja, da ging es vor allem um das Thema Batteriezelle und warum die Zulieferer da nicht aktiver sind. Er hat auch in deren Richtung ausgeteilt, aber die Zulieferer hatten ja das gleiche Problem wie VW selbst: Sie sollten sich zu schnell verändern. Blume sollte auch in Richtung der Zulieferer moderierender auftreten und Partnerschaften mit ihnen viel langfristiger denken.
Hat der Machtwechsel am Mittellandkanal womöglich noch Auswirkungen auf die klare Antriebsstrategie von Volkswagen – also den Kurs Elektromobilität? Blume hat sich ja weiterhin für E-Fuels stark gemacht.
Ich glaube nicht, dass sich unter Blume die Strategie großartig ändern wird. Der Fokus auf die Elektromobilität ist klar gesetzt. Man darf nicht vergessen, dass Blume mit dem Taycan schon ein sehr erfolgreiches Elektroauto auf die Straße gebracht hat. E-Fuels bleiben auch im VW-Konzern ein Nischenthema. Er muss nur höllisch aufpassen, damit nicht anzuecken. Vor allem nicht bei den Investoren.
Man muss Herbert Diess zugutehalten, dass er mit seinem Kommunikationsteam eine CEO-Marke geschaffen hat, die in den Medien sehr präsent ist. Oliver Blume dürften viele nicht kennen.
Das hat Diess wirklich gut gemacht, ja. Am Ende hat er sich vielleicht zu sehr auf seine eigene Marke fokussiert. Blume ist bislang noch kaum durch diese neue Art der Kommunikation in Erscheinung getreten, vielleicht weil es bei Porsche auch einfach nicht notwendig war.
Da muss er jetzt Gas geben, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist enorm wichtig.
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