Elektromobilität Tüftler und Wissenschaftler führen die Autoindustrie vor

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Ohne den Ballast der Industrie

Schuh hat die Regeln, die in der Branche gelten, fast alle ausgehebelt. Dass der Professor nicht Kraftfahrzeugbau lehrt, sondern Prozessoptimierung, dürfte ihm geholfen haben. Er habe kein „hinderliches Traditionswissen“ mitschleppen müssen. Und wenn er ausholt, versteht man, warum die Autoindustrie, sein Wettbewerber, sich schwertut.

von Stefan Hajek, Martin Seiwert, Lea Deuber, Martin Fritz

Das größte Problem, das die Großen bisher nicht gelöst haben: Als Verbrenner konzipierte Autos sind schwer. Durch einen Akku würden sie noch schwerer. Beladen mit Ware erreichten sie schnell die gesetzliche Obergrenze von 3,5 Tonnen, jenseits derer man nicht mit einem Pkw-Führerschein fahren darf. Zudem ist die Fertigung teuer: Allein die Werkzeuge und Maschinen für die drei wesentlichen Produktionsschritte – Rohbau, Presswerk, Lackierung – kosten 250 Millionen Euro für ein neues Modell.

Neu erfunden hat Schuh in seiner Werkshalle in Aachen gar nicht so viel. Er kombiniert bekannte Technologien und Prozesse neu, ganz so wie einst Elon Musk: Auch der experimentierte so lange mit Laptopakkus herum und schloss sie parallel und in Reihe, bis Strom und Spannung für ein Auto ausreichten. Einer von Schuhs Tricks, um Gewicht und Kosten zu drücken: Statt heute gängige selbsttragende Stahlkarosserien zu verwenden, hat er eine alte Technologie wiederbelebt – den beplankbaren Rahmen, der seit den Siebzigern im Pkw-Bau als ausgestorben galt. „Den fertigen wir aus Standardaluminiumrohren, die man an jeder Ecke kaufen kann.“ Der Rahmen müsse nicht mal lackiert werden, da Alu kaum korrodiert.

Auch für die Außenhaut greift er auf Altbekanntes zurück: Thermoplast. Aus dessen Vorvorgänger wurde einst der Trabi hergestellt. Inzwischen ist das Material deutlich formstabiler und haltbarer. Vor allem bei den Werkzeugen wird gespart: Die kosten im traditionellen Autobau gut 3,5 Millionen Euro je Modell. Die wenigen davon, die er für Kotflügel und Türen des e.Go brauche, die „machen wir im 3-D-Drucker für 3000 Euro das Stück einfach selbst“. Der e.Go hat eine echte Reichweite von 105 Kilometern; mehr als 105 Kilometer pro Stunde Höchstgeschwindigkeit schafft er auch nicht. „Aber mehr braucht eine Altenpflegerin oder ein Pizzataxi auch nicht“, sagt Schuh. Den Bedarf an rein elektrischen Stadtflitzern in Deutschland schätzt er auf gut 400.000.

Es könnten aber noch weit mehr sein.

Selbst Lieferwagen und kleine Lkws, eine Kategorie, von der die Autoindustrie bis vor Kurzem stets versicherte, sie sei für die E-Mobilität schlicht nicht geeignet, begehren jetzt die Kunden. Der Fischhändler Deutsche See machte kürzlich Schlagzeilen, weil er nicht nur 80 Elektrolieferautos mit Kühlkoffer bei StreetScooter bestellte, sondern auch seinen langjährigen Diesellieferanten VW verklagte. Die See will zwölf Millionen Euro Schadensersatz; sie hatte ihre Flotte gerade erst, zwischen 2010 und 2015, auf neue VW-Diesel umgerüstet – kurz vor dem Dieselskandal.

Selbsthilfegruppe für Handwerker

Nicht alle Betriebe haben das Geld und den Atem, sich mit der Autobranche anzulegen. Wer auf der Suche nach dem geeigneten E-Auto aber nicht weiterkommt, für den ist noch Roland Schüren da. Der andere Aktivist der deutschen E-Mobilität und Schuh arbeiten nicht direkt miteinander. Und doch wäre der eine ohne den anderen nicht so weit gekommen: Schüren organisiert und mobilisiert die verzweifelten E-Kunden.

Hilden bei Düsseldorf, ein heißer Julitag. Dichte Wolken und drückende Schwüle hängen über dem Zweckbau, der Schüren als Hauptverwaltung, Bäckerei und Laden dient. Auffällig viele Elektroautos parken in der Umgebung: große und kleine Lieferwagen, deren Kabel sich zu den zahlreichen Ladesäulen spannen, ein kleiner Renault, ein paar Nissan, ein Tesla. Das Gebäude im Industriegebiet nahe der A 3 beherbergt einen Wallfahrtsort der E-Mobil-Pioniere: den „Ladepark-Kreuz-Hilden“.

Der ist europaweit bekannt unter E-Mobilisten – weil sie hier umsonst laden können. Den Strom produziert Schüren selbst, mit seiner Solaranlage auf dem Dach, die neben den Backöfen, Rührmaschinen und dem Büro bis zu 15 Autoladesäulen mit Strom versorgt. Regelmäßig lädt Schüren, der seine eigene Lieferflotte nach und nach komplett auf Elektroantrieb umrüstet, zu E-Mobilisten-Treffen in die Bäckerei.

Aus ganz Deutschland, den Beneluxländern, der Schweiz und Österreich reisen sie hier an: Handwerkerkollegen aus von Dieselfahrverboten bedrohten Städten, Taxiunternehmer, Geschäftsführer von Kurierdiensten und Stadtwerken, Industrie- und Handelskammern. Schüren hat eine Ecke im Café der Filiale für die Treffen freigeräumt; über allem thront ein Pappkamerad von Musk in Lebensgröße – der Säulenheilige.

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