Elektromobilität Tüftler und Wissenschaftler führen die Autoindustrie vor

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Tüftler und Geschäftsmann

Ende 2015 wurde Schüren auf das Problem aufmerksam, das Handwerkern mit dem Dieselverbot droht. In Stuttgart und anderen süddeutschen Städten machten damals die Bürgermeister zum ersten Mal Ernst und sperrten ihre Innenstädte für Diesel, weil sie der überhöhten Feinstaubwerte nicht Herr wurden. Auch gewerbliche Lieferfahrzeuge bekamen keine Ausnahmegenehmigung. Ein Kollege aus Stuttgart hatte erfahren, dass Schüren bereits einige seiner Lkws rein elektrisch fuhr; Schüren ließ sie teuer umrüsten. Bei Feinstaubalarm könne er keine Brötchen mehr ausliefern, weil seine Backstube außerhalb Stuttgarts liege, alle fünf Filialen aber in der Innenstadt, erzählte der verzweifelte Stuttgarter Kollege am Telefon.

Schüren wirkt nicht wie ein Ökoaktivist. Der studierte Betriebswirt und Bäckermeister trägt meist blaues Hemd und dunkles Jackett. Er redet leise, fast monoton, man merkt ihm nicht an, wie sauer er ist auf die Autoindustrie, „die uns Handwerkern dieses Dieselschlamassel eingebrockt hat“ und sie nun damit alleine lasse. Als sich Anfang dieses Jahres Mails und Anrufe verzweifelter Handwerker bei Schüren häuften, entschloss dieser sich, zu handeln. „Jetzt wirst du dir Arbeit aufhalsen“, dachte er noch.

Und genau so geschah es: Schüren erstellte auf Facebook eine „Selbsthilfegruppe für betroffene Handwerker“. Ihr Ziel: die Industrie dazu zu bringen, einen erschwinglichen und alltagstauglichen Elektrolieferwagen zu bauen. 100 Betriebe meldeten sich schon in den ersten drei Wochen. Zum ersten Treffen im Februar reisten 40 Handwerker und Unternehmer nach Hilden. Sie diskutierten, definierten ihre konkreten Anforderungen an Mindestreichweite, Transportvolumen und -gewicht und formulierten eine Angebotsanforderung mit technischen Details. Die schickte Schüren an 51 Autohersteller und Zulieferer. Nur 13 „brauchbare Antworten“ bekam die Handwerkergruppe.

Den Zuschlag bekam vergangene Woche die Post-Tochter StreetScooter, die auch den E-Lieferwagen für die Post und die Deutsche See baut, den Günther Schuh 2009 ins Leben rief. Ihr Angebot war besser und vor allem günstiger als die der Autobauer. 200 Firmen und Behörden haben inzwischen Interesse an dem neuen Elektrolieferwagen bekundet, dem „Bakery Vehicle 1“, das Schürens Gruppe mitentwickelt hat. Am Dienstag vergangener Woche wurde der Prototyp in Hilden vorgestellt, die ersten Kaufverträge unterschrieben. Gebaut werden die Autos ab 2018 in Aachen bei StreetScooter.

Angesichts von so viel Engagement und Tüftlergeist: Wie kann es sein, dass die Autokonzerne so gar kein Potenzial in dem Geschäft gesehen haben?

Der zum Autobauer mutierte Professor Schuh sagt: „Wir setzen da mit der E-Mobilität an, wo man am schnellsten etwas bewegen und viele Schadstofferzeuger aus den Innenstädten rauskriegen kann.“ Es klingt altruistisch, aber selbstlos ist Schuh nicht. 94 Prozent der Pkw-Fahrten in Städten ließen sich schon heute rein elektrisch umsetzen und damit günstiger als mit einem Diesel oder Benziner. Er habe schließlich den Beweis erbracht, dass solche Klein-E-Autos weder große Akkus noch Höchstgeschwindigkeiten brauchten und trotzdem bei der Klientel ankommen.

30,7 Millionen Euro kostet seine Werkshalle in Aachen-Rote Erde; knapp drei Millionen spendiert das Land NRW für die 130 neuen Arbeitsplätze, der Rest ist zur Hälfte eigenfinanziert, etwa 45 Prozent investiert der Bauherr und Vermieter der Fabrik. Schuh ist nicht nur Tüftler, auch Geschäftsmann. 10.000 Autos wird die Fabrik pro Jahr bauen; ab 7500 schreibt sie bereits Gewinn. Die Caritas würde ihm am liebsten die erste Jahresproduktion komplett abnehmen. Wegen der großen Nachfrage scheint seine Produktionskapazität jetzt schon zu klein geraten.

Die Tesla-Chronik

In Hilden, auf Schürens Hof, starteten vergangenen Dienstag die ersten Handwerker zur Probefahrt mit den Bakery Vehicles, deren Bau und Entwicklung sie selbst angeschoben haben. „Ein geiles Gefühl“ sei das, sagt ein Blumenhändler vom Niederrhein. Wenn er demnächst mit dem E-Lkw zum Kunden fahre, „kann ich sagen, ich war dabei“. Ein Fan kehrt sogar noch einmal zurück zu Schüren und schüttelt ihm lange beide Hände: „Ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihr Engagement“, sagt der Mann mit schwäbischem Akzent.

Es ist der Stuttgarter Bäcker, der vor zwei Jahren verzweifelt bei Schüren angerufen hatte, weil er bei Feinstaubalarm nicht mehr ausliefern konnte.

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