
Der Naturschutz ist ein Kind der Nostalgie. Er hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, als sich die europäische Landschaft durch Industrialisierung und Verstädterung radikal wandelte. Natur wird seither als Gegenbild zur modernen Kultur in Stellung gebracht, als Refugium und ökologischer Erholungsraum, der vor den Eingriffen des Menschen tunlichst geschützt werden müsse. Naturschutz hat insofern sehr viel mehr zu tun mit den Wünschen der Menschen als mit den Bedürfnissen der Natur selber.
Er entspringt einem konservatorischen, denkmalschützerischen Interesse, wie der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf in seinem neuen Buch über „Naturschutz“ schreibt, und sollte befreit werden von einer „Überfrachtung mit Öko“, die den Eigenarten unserer natürlichen Umwelt nicht gerecht werde.
Kein Widerspruch zwischen Natur und Kultur
Dazu gehöre, so Reichholfs These, dass die Natur einen richtigen oder optimalen Zustand nicht kenne; sie sei ihrer Natur nach dynamisch, permanent im Wandel und in der Veränderung begriffen; und jeder Versuch sie zu stabilisieren, stelle einen unnatürlichen Eingriff in natürliche Abläufe dar. Mit anderen Worten, Natur und Kultur sind, recht verstanden, keine Gegensätze, sie bedingen vielmehr einander: „Manche Baumaßnahmen haben sogar mehr „Natur“ geschaffen, als vorher an Ort und Stelle vorhanden war.“
Reichholfs Paradebeispiel ist der Münchner Flughafen im Erdinger Moos, auf dessen Gelände sich seit seiner Inbetriebnahme Anfang der Neunzigerjahre mehrere geschützte Arten angesiedelt haben, darunter der in Bayern vom Aussterben bedrohte Große Brachvogel, der unmittelbar neben den Start- und Landebahnen brütet, und die ebenfalls in ihren Beständen bedrohte Feldlerche, die in München inzwischen mit mehr als 200 Brutpaaren vertreten ist. Das Flughafengelände, resümiert Reichholf, stellt gegen alle Erwartungen der Naturschützer „einen großen Gewinn für den Artenschutz“ dar, es sei als perfekt abgesperrtes Gebiet „weit besser geschützt als jedes Naturschutzgebiet“.
Fluchtburg für Stadtfüchse
Ähnliches gilt für die Städte und Industriegebiete, die eine um zwanzig Prozent höhere Artenvielfalt aufweisen als das Umland. Pflanzen und Tiere interessieren sich offensichtlich nicht für die Schönheit und Eigenart einer Landschaft, sondern schlicht für Lebensräume, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die finden sie heute eher in den Städten, die Millionen von Vögeln beherbergen, aber auch für Säugetiere wie Füchse, Marder oder sogar Wildschweine mittlerweile zu regelrechten „Fluchtburgen“ geworden sind, in denen sie, wie Reichholf berichtet, ein „weit sicheres Lebens führen können als in Wald und Flur“ - weshalb sie in den Städten auch in größeren Beständen vorkommen als in freier Natur.