Psychologie "Angst hat eine große Anziehungskraft "

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Die Angst vor Wohlstandsverlusten kann auch etwas Pathologisches haben?

Die Übergänge zwischen normaler und pathologischer Angst sind oft fließend. Wenn, laut einer Umfrage, Dreiviertel der Deutschen glauben, dass uns der schlimmste Teil der Finanzkrise noch bevorsteht, dann sind das vermutlich keine imaginären, sondern realistische Ängste. Wir haben in der Finanzkrise ja gesehen, wohin die Kombination aus Intelligenz, Abenteurertum und defizitärer Angst führen kann: in den Ruin. Etwas anderes ist der Fall reicher Leute, bei denen die Angst, alles zu verlieren, sozusagen wahnhafte Züge annimmt. Der Verlust des Wohlstands bedeutet für sie den Verlust einer mühsam aufgebauten Identität. Sie kann echte Identität, gekoppelt mit Sinngebung, kreativem Lebensstil und guten menschlichen Beziehungen, ersetzen. Verarmungsangst steht hier für die Angst, nichts mehr wert zu sein - und ist für nicht wenige ein Grund zum Selbstmord.

Wie sollten wir mit unseren realistischen Ängsten umgehen?

Wir sollten versuchen, die konstruktive Angst stärken, das heißt, sie mit Handlungsmöglichkeiten verbinden. Natürlich nicht allein, sondern mit anderen ähnlich denkenden Menschen. Ich bin kein Ökonom, aber es scheint mir nötig, dass wir Druck auf die Politik ausüben, um sie wieder an ihre Gestaltungsmöglichkeiten - die heute auch die Dimension einer moralischen Pflicht besitzt - gegenüber der Wirtschaft zu erinnern. Es kann doch nicht sein, dass die Bürger die Zeche für das wild gewordene Spekulantentum weniger zahlen. 

Die Krise des Euro zeigt, dass es offenbar nicht nur um individuelle Abstiegsängste geht. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass grundsätzlich etwas schief läuft, dass ehemals fest gefügte Koordinatensysteme nicht mehr gelten. Auch dass der Staat nicht mehr gleichsam als guter Hausvater agiert, sondern durch überstürzte Rettungsaktionen - siehe Irland und Spanien - die Grundfesten des Gemeinwesens gefährdet.

Diesen Eindruck teile ich. Das von Ihnen beschriebene Unbehagen hat aber, wie ich glaube, tiefere Gründe. Es kommt daher, dass der moderne Mensch nicht mehr auf die grundlegenden Sicherheiten zurückgreifen kann, die ihn einst vor Angst schützten. Ich meine die Religion, den Glauben, die Geborgenheit traditioneller sozialer Strukturen wie der Großfamilie, oder des Clans. Übrigens auch die Identifikationsfigur des Monarchen, der, wenn auch nur symbolisch, über sein Volk wachte und so Frieden und Schutz garantierte. Diese stabilisierenden Institutionen haben sich mit der Moderne immer mehr aufgelöst. Wenn der Philosoph Sören Kierkegaard von der Angst als dem "Schwindel der Freiheit" spricht, dann meint er nicht zuletzt diese Erfahrungen. Die Folge: Der Mensch wird mit seinen Ängsten allein gelassen - und verliert seinen existenziellen Halt. All das macht uns insgesamt krisen- und angstanfälliger. Und dann kommen auch noch die Risiken hinzu, die mit der globalisierten und dadurch nicht mehr überschaubaren technisch-ökonomischen Entwicklung verbunden sind. Kein Wunder also, dass wir im so genannten Zeitalter der Angst leben.

German Angst

Betrifft das die Deutschen in besonderem Maße? "German Angst" gilt im Ausland als geflügeltes Wort.

Diese Frage habe ich befürchtet. (Lacht) Sie ist schwer zu bejahen oder zu verneinen. Sicher, die Deutschen sind ein von der Geschichte des 20. Jahrhunderts schwer gebeuteltes Volk, sie haben Grund sich vor so manchem zu fürchten. Vielleicht wurde hier aus historischen Gründen Angst mehr und länger verleugnet, als bei anderen Völkern. Aber ich glaube nicht, dass sie als Individuen ängstlicher sind als andere.

Stellen Sie im therapeutischen Alltag fest, dass die zunehmende kollektive Verunsicherung, die wir in den vergangenen Jahren erleben, ihren Niederschlag findet in den Symptomen Ihrer Patienten?

Diese Verunsicherung ist keine alleinige Ursache für psychische Erkrankungen, aber sie ist sicher ein zusätzlicher Faktor. Wenn ich auch noch befürchten muss, meine Arbeit zu verlieren, oder meine Ersparnisse entwertet zu sehen, dann stimuliert das andere, tiefere liegende Ängst.

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