Raumfahrt Billigflieger ins All

Nach dem Ende der US-Spaceshuttles wird Russland Monopolist für bemannte Weltraumflüge – und verdient Millionen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die Sojus-Rakete auf dem Quelle: REUTERS

Wladimir Piroschkow arbeitet gern bis spät in die Nacht. Selten trifft man ihn vor zwölf Uhr mittags im „Inspiratorium“, seinem Arbeitsplatz auf dem Gelände der Universität für Stahlbau, in Moskau. Unrasiert kreuzt er dort auf. Bis Russlands angesagtester Produktdesigner auf Touren kommt, bedarf es einiger Tassen Kaffee. Einen wie Piroschkow hätten sie zu Sowjetzeiten, als die Raumfahrt noch ein Ausguss kommunistischen Schaffensdrangs war, nicht einmal auf das Gelände der Raketenhersteller vorgelassen. Allein schon, dass der 42-Jährige in den Achtzigerjahren in den Westen flüchtete und für die Autohersteller Toyota und Citroën Modelle entwarf, hätte genügt, ihn als Vaterlandsverräter abzustempeln.

Längst ist Piroschkow wieder in Russland. Im Auftrag der Weltraumbehörde Roskosmos entwickelt er ein neues Cockpit für Sojus-Kapseln, mit denen Kosmonauten ins All düsen. Statt derer drei sollen dort bald fünf Raumfahrer Platz finden.

Die Sterne stehen gut

Für den Designer Piroschkow ist das ein Auftrag unter vielen. Für Russlands Weltraumbehörde dagegen markiert es einen Wendepunkt: Zum ersten Mal in der Geschichte der russisch-sowjetischen Raumfahrt steigt einer in die Katakomben der Kosmos-Industrie hinab, der nichts mit der Branche am Hut hat. Doch die Russen passen sich den Markterfordernissen an, was die Überholung der Sojus-Kapseln einschließt: Auf Befehl von Regierungschef Wladimir Putin öffnet sich die Branche für Innovationen.

Die Sterne stehen gut für Roskosmos: In diesem Jahr plant die Behörde 15 Sojus-Starts, ein Drittel mehr als 2010. Und im Sommer mottet der US-Konkurrent Nasa die letzten Spaceshuttles ein. Damit wird Russland über Nacht zum Monopolisten für Personentransporte ins All. Denn frühestens in drei Jahren starten private Unternehmen wie SpaceX und Orbital unbemannte Testflüge mit Raumschiffen, die auf lange Sicht Personen befördern sollen.

Russland will die Raumfahrtindustrie daher zur Exportbranche umbauen. Anatoli Perminow ist dafür zuständig. Der 65-jährige Ingenieur ist Chef der Weltraumbehörde Roskosmos und kann aus dem Vollen schöpfen: Zuschüsse in Höhe von 3,8 Milliarden Dollar hat ihm die Regierung für 2011 bewilligt. Was zwar nur ein Fünftel des Nasa-Budgets ist, aber dennoch mehr als Russland seit dem Kollaps der Sowjetunion in die Raumfahrt gesteckt hat. Mit dem Geldregen kommt in Russland eine mächtige Maschinerie ins Rollen: Allein bei Roskosmos und ihren 66 direkten Tochterunternehmen und Forschungsinstituten arbeiten Zehntausende Menschen, verteilt auf das ganze Land.

Viele davon arbeiten derzeit an der Angara-Rakete, die mit derselben Technologie in sieben Ausführungen wahlweise kleine, mittlere oder schwere Nutzlasten ins All befördern soll. Nebenbei steuert Roskosmos die Arbeiten am fernöstlichen Kosmodrom Wostotschnij. Mitten im Niemandsland, 100 Kilometer nordöstlich der chinesischen Provinzstadt Heihe, entsteht bis 2015 Russlands neuer Raumfahrt-Knotenpunkt – zusammen mit einer Stadt für 30 000 Einwohner, die wie zu Sowjetzeiten am Reißbrett entworfen wird.

Rampe zum Kosmos

Derweil lässt Roskosmos an Raketen der bewährten Sojus-Familie feilen. Die Raketen, deren vier mächtige Triebwerke zur Kommandokapsel hin spitz zulaufen, sind Russlands Exportschlager: Industrieländer wie Deutschland und Frankreich, aber auch Indien und Japan jagen ihre Wetter- und Kommunikationssatelliten, Navigationssysteme und Forschungskapseln gern mit diesem Trägersystem ins All. Seit 1966 hob die Sojus, welche die europäisch-russische Firma Starsem vermarktet, mehr als 1700 Mal ab. Damit ist Russlands Bestseller die mit Abstand meistgeflogene Rakete der Welt – und bei einer Erfolgsquote von 98 Prozent auch die zuverlässigste.

Die Zukunft könnte kaum besser aussehen: Ab Sommer, wenn das US-Spaceshuttle Atlantis vom letzten Flug zur Internationalen Raumstation ISS heimkehrt, sind die Sojus-Träger mit den gleichnamigen Raumkapseln das einzige Vehikel, um Menschen zur ISS zu fliegen. Bislang stellt Roskosmos der Nasa, die die Forschungsstation betreibt, pro Astronaut 50 Millionen Dollar in Rechnung. Nächstes Jahr läuft der Vertrag aus; für die folgenden Jahre hat Roskosmos bereits eine Verdopplung der Ticketpreise angedeutet.

Für 80 Millionen Dollar ins All

Die Flüge zur ISS sind gutes Zubrot für Russlands Weltraumindustrie. Noch mehr Geld verdient die Branche aber in der unbemannten Raumfahrt, etwa mit Materialtransporten für Stammkunden wie Globalstar, der das Satellitennetz europäischer Telekomriesen betreibt.

Selbst Fachleute aus den USA bescheinigen den russischen Sojus-Raketen eine aussichtsreiche Zukunft: „Die Raumfahrt wird günstiger, wenn die Trägersysteme in großer Serie hergestellt und gestartet werden“, sagt René Laufer von der BaylorUniversity im texanischen Waco. Als einziges Land der Welt sei dies Russland mit der Sojus gelungen. Die Kosten für den Bau einer Rakete sind so niedrig, dass der Preis für einen Start konkurrenzlos günstig ist: 80 Millionen Dollar verlangt Starsem für den Frachtschein auf einer Sojus-Rakete. Ein Spaceshuttle-Start verschlingt bis zu einer Milliarde Dollar, eine Ariane-5 hebt für 180 Millionen Dollar ab.

Die Sojus ist im Weltall so etwas wie der VW-Käfer im Nachkriegsdeutschland: billig und robust – ein legendärer Verkaufsschlager. Im Sommer werden Sojus-Raketen erstmals auch vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana starten. Die Rampe liegt nah am Äquator, wo eine höhere Erdbeschleunigung herrscht als in der kasachischen Steppe, wo Russland den Weltraum-Hauptbahnhof Baikonur gepachtet hat. So lässt sich der Spritverbrauch um mehr als ein Drittel senken.

Transport Arianespace, der am Tropf der EU-Raumfahrtbehörden hängt, kauft und vermarktet die Sojus-Raketen, die das Geschäft mit mittelschweren Raketen abdecken. In diesem Segment fehlt Arianespace ein eigenes Trägersystem, seit 2003 die Ariane-4 eingestellt wurde.

Heute sind Raketen allerdings nichts weiter als kosmischer Schwermaschinenbau. Am Spritverbrauch, der Reichweite oder der Wirtschaftlichkeit von Sojus-Raketen hat sich seit Sowjetzeiten nicht viel verändert. High Tech fliegen die Russen als Spediteure für andere Nationen ins All, für eigene Satelliten fehlte lange das Geld.

Nun treibt Premier Putin das Navigationssystem Glonass voran: Voriges Jahr klemmte er seinem Labrador-Rüden Koni ein Empfangsgerät ums Halsband, das mit dem Navi verbunden ist. Seht her, so Putins Botschaft, wir machen dem US-System GPS Konkurrenz. Dieses Jahr soll das Navi-System den Durchbruch schaffen – mit Putins Hilfe: Der Staat will Handyhersteller wie Apple und Nokia verpflichten, Glonass-Chips in ihre Geräte einzubauen. Weigern sie sich, könnte ihnen der Marktzugang erschwert werden.

Bei solchen High-Tech-Projekten hat sich Russland zuletzt aber blamiert: Im Dezember stürzten drei Glonass-Satelliten ab, die mit einer Proton-M ins All geschossen worden waren. Der Raketenträger war mit zu viel Sprit betankt worden. Der Schaden: etwa 300 Millionen Dollar. Anfang Februar kam es zum Déjà-vu: Ein Militärsatellit, der für Russlands Geheimdienst die Erde vermessen sollte, verfehlte die Umlaufbahn. Sinn- und schwerelos kreist der Spionage-Sputnik nun durchs All.

Grössenwahn der Sowjet-Ära

Mit Blick auf die Zukunft schwelgt Russland in Träumen von eigenen Mars-Missionen und der Dominanz im Navi-Geschäft. Kommerzielle Hoffnungen mischen sich da mit jenem Größenwahn, der das sowjetische Raumfahrtprogramm immer teurer werden ließ und zum Bankrott der UdSSR beitrug. Derweil bleibt das Brot-und-Butter-Geschäft mit Raumtransporten auf der Strecke: Das neue Trägersystem Angara sollte eigentlich dieses Jahr abheben, jetzt ist von 2015 die Rede.

Produktdesigner Wladimir Piroschkow hat das erkannt: „In Russland neigen viele dazu, das Rad neu zu erfinden.“ Sein Land sollte sich besser auf etablierte Entwicklungen konzentrieren. Genau das hat er vor, wenn er den Sojus-Kapseln ein ergodynamisches Design verpasst und Platz für zusätzliche Kosmonauten und womöglich gar Touristen schafft. Die stählerne Hasenkiste umzubauen sei übrigens keine unmögliche Mission, so Piroschkow. Seit vorigem Jahr fliegen die neuen Modelle mit digitalen Instrumenten. Das ist zumindest ein Anfang.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%