Risiko Warum wir uns ohne Mut nicht weiterentwickeln

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In einem Labor in Frankfurt Quelle: dpa/dpaweb

Die ererbte Veranlagung jedoch auf einzelne Gene herunterzubrechen „ist bisher nicht gelungen“, sagt Evolutionsbiologe Axel Meyer vom Wissenschaftskolleg Berlin, „die Mechanismen sind zu komplex“. Zu unterschiedlich sind auch die individuellen Bewertungsmuster der einzelnen Risiken: So findet Kletterer Ralf Dujmovits, der als erster Deutscher alle 14 Achttausender der Welt bestiegen hat, Motorradfahren und Aktiengeschäfte riskant – Alpinsport dagegen nicht. Ein anderer hat vielleicht Angst vor hohen Bergen und Motorradtouren, fühlt sich aber bei Börsengeschäften sicher.

Auch persönliche Erfahrungen im Umgang mit Risiken machen uns wagemutiger oder ängstlicher. Zu diesem Schluss kommt der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube, Autor des Buches „Gefährliche Sicherheit“. Die Erziehung im familiären und kulturellen Umfeld spiele eine große Rolle, etwa was die Eltern vorleben und ob sie ihre Kinder dazu motivieren, eigenverantwortlich Risiken einzugehen.

Die größte Herausforderung ist jedoch, Risiken realistisch einzuschätzen. „Die Welt wird komplexer, und wir können immer weniger im Detail verstehen“, sagt Psychologin Renner. Wer durchsteigt schon das Kleingedruckte im Versicherungsvertrag? Wer weiß, ob die Handystrahlung schädlich ist oder nicht? Wer kann sicher vorhersagen, ob uns nun Inflation oder Deflation droht?

Deshalb lassen wir uns bei den meisten Entscheidungen von Menschen beraten, die mehr von dem Thema verstehen als wir selbst. Das machen wir umso lieber, je größer das Risiko ist, mit unserer Entscheidung falsch zu liegen. Die zunehmende Komplexität spiegelt sich zugleich in der großen Nachfrage nach Ratgeber-Literatur jeglicher Couleur wider.

Risiken einordnen

In der Evolution hat sich noch ein viel simpleres Verfahren der Risikoeinschätzung durchgesetzt: Das sogenannte Herdenverhalten habe sich als „sehr überlebensfördernde Strategie etabliert“, sagt Renner: Wenn alle Antilopen davonrennen, ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendwo ein Löwe lauert. Demnach werden Risiken so eingeschätzt, wie sie die Mehrheit beurteilt, ein evolutionsbiologischer Publikumsjoker gewissermaßen.

In einer global vernetzen Wirtschaftswelt kann das jedoch gründlich daneben gehen, wie sich im Finanzsektor gezeigt hat. Deshalb rät der amerikanische Ökonom Robert Shiller von der Universität Yale – zumindest Investoren – dringend davon ab, sich vom Verhalten der Mehrheit beeindrucken zu lassen. Er empfiehlt stattdessen, unkonventionell und eigenverantwortlich zu handeln: „Halte dich von der Meute fern.“ Shiller beschäftigt sich auch in seinem Buch „Animal Spirits“ mit dem oft irrationalen Verhalten der Menschen im Wirtschaftsleben, dem sogenannten Behaviorismus.

Mit mehr Eigenverantwortung allerdings wächst auch die Herausforderung für die Menschen, zu erkennen, welche Risiken bedrohlich für Leben und Existenz sind und welche nicht? Selbst den Naturwissenschaftlern mit ihren exakten Analysemethoden gelingt das längst nicht immer. Gerade bei menschgemachten Gefahren, die größte Ängste auslösen, lässt sich das Risiko nur schwer berechnen. Um Risiken zu klassifizieren, hat der Stuttgarter Wirtschaftssoziologe und Risikoforscher Ortwin Renn den wichtigsten Risikotypen Figuren aus der griechischen Mythologie zugeordnet.

Zum Typ Pandora zählt Renn etwa Chemikalien, die sich langsam in der Umwelt anreichern. Sie sind allgegenwärtig und langlebig, ihre Gefährlichkeit ist aber schwer zu ergründen. Elektromagnetische Handystrahlungen gehören dagegen zum Typ Medusa: Es ist unwahrscheinlich, dass ein Schaden eintritt – und wenn, ist er sehr gering, aber alle Menschen sind betroffen. Zu den Kassandra-Risiken zählt der Klimawandel: Extreme Schäden sind sehr wahrscheinlich, aber erst in ferner Zukunft. Der Ruf der Kassandra ist also nötig, um darauf aufmerksam zu machen.

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