Risiko Warum wir uns ohne Mut nicht weiterentwickeln

Seite 3/4

Grippe-Pandemie-Übung in Quelle: AP

Großtechnologien wie die Kernkraft vergleicht Renn mit dem scharf geschliffenen Schwert, das an einem dünnen, aber stabilen Faden über Damokles hing: Die Bedrohungsszenarien sehen besonders verheerend aus, doch nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie eintreten.

Beim Typ Pythia sind selbst Risikoforscher ratlos. Pythia war die Priesterin des Orakels von Delphi und musste die Zukunft vorhersagen, ohne Vorwissen. „In diese Kategorie gehören Risiken mit hoher Ungewissheit bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und einer großen Bandbreite bei potenziellen Schäden“, sagt Renn. Er zählt typischerweise genmanipulierte Nahrung zu diesem Risikotyp, aber auch den Rinderwahn und die Grippe-Pandemie.

Das wirkliche Risiko solcher Phänomene können Laien noch viel weniger einschätzen. Sie bilden sich ihre Meinung eher durch die Art und Weise, wie Gefahrenpotenziale in der Öffentlichkeit dargestellt werden – und welche Emotionen sie wecken. Nanotechnik etwa ruft längst nicht denselben Sturm der Entrüstung hervor wie gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dass die milliardstelmeter kleinen Teilchen heute bereits in Zahnpasten oder Hautlotionen stecken und mitunter eine ähnliche Form wie Asbestfasern aufweisen, ist vielen schlichtweg unbekannt.

Risikoforscher Renn führt das auf die unterschiedlichen Kommunikationsstrategien der Industrie zurück. Während genveränderte Lebensmittel die Urängste der Menschen wecken – etwa vergiftet zu werden – und deshalb abgelehnt werden, haben die meisten Menschen die Nanotechnik als Materialwissenschaft abgespeichert: „Selbstreinigende Kloschüsseln mit Lotuseffekt und irisierende Autolacke berühren uns weniger als gentechnische Veränderungen im Essen“, sagt Renn.

Gute Entscheidungen brauchen einen geübten Denkapparat

Wie unser Gehirn das verarbeitet? Ob wir eben noch bei Tieforange über die Ampel fahren oder bei einem bestimmten Kurs Aktien nachkaufen? Vor allem blitzschnell!

Obwohl es sich um bewusste Entscheidungen handelt, trifft unser Gehirn sie in weniger als drei Sekunden. Dabei greift es auf zuvor erlernte Entscheidungsmuster zurück, sagt der Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel: „Das ist der Rahmen, in dem jede Entscheidung fällt.“ Die Konsequenz der Entscheidung wird registriert und mit dem Entscheidungsweg in unsere biologischen Datenspeicher abgelegt.

Geht es um wirklich existenzielle Entscheidungen über ein potenzielles Risiko, empfiehlt er deshalb, das Gehirn rechtzeitig immer wieder mit der Fragestellung und den potenziellen Chancen und Gefahren zu konfrontieren. Unser Denkapparat neige nämlich zur „Monokausalitis“, sagt Pöppel. Wolle man zu einer guten Entscheidung kommen, sollte man ihn immer wieder mit neuen Aspekten füttern.

„Die Wahrnehmung und Bewertung der Risikoentscheidung an sich wird aber auch durch emotionale Verarbeitungsprozesse gesteuert“, sagt Rüdiger Trimpop, Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologe an der Universität Jena. Wer beispielsweise mit einer Investition sehr zufrieden ist, wird sich in einer ähnlichen Situation wieder so entscheiden. Wer jedoch nach einer solche Entscheidung 1000 Tode gestorben ist, wird einem solchen Wagnis das nächste Mal aus dem Weg gehen – selbst wenn sich das Risiko später ausgezahlt hat.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%