Stammzellen Das nachwachsende Ersatzteillager

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Infografik Stammzellenforschung

Das lässt sich mit der Stammzelltherapie umkehren: Solange nur ein Auge betroffen ist, können Ärzte aus dem gesunden Auge die Stammzellen entnehmen. Sind beide Augen blind und keine gesunden limbalen Stammzellen beim Patienten mehr vorhanden, braucht er einen Spender. Meist wird wie bei einer Blut- oder Knochenmarkspende ein naher Verwandter gesucht, der immunologisch zum Patienten passt, sodass die Zellen nicht abgestoßen werden. Die Stammzellen werden dann zwei bis drei Wochen auf einer speziellen Unterlage vermehrt, sodass dort eine neue Hornhaut entsteht, die dem Patienten dann implantiert wird.

Die Erfolgsraten, die die indischen Forscher mit ihrer preiswerten und schnellen Zuchtmethode bisher erreichten, sind überwältigend: Bei ihren klinischen Studie konnten nach drei Jahren noch 70 Prozent der behandelten, ehemals blinden Menschen sehen. In jeden Fall waren die Ergebnisse besser, als wenn die Stammzellen direkt in die erkrankten Augen implantiert wurden. Die Therapieform, an der ursprünglich zahlreiche Gruppen weltweit forschten, wird in Indien bereits an mehreren Kliniken an Patienten erprobt.

In mancher Hinsicht haben es die indischen Augenärzte allerdings auch leichter als andere Stammzellforscher: Denn die Hornhaut, die sie ersetzen, erneuert sich ohnehin, jedenfalls bei gesunden Menschen. Und sie besteht nur aus einer einzigen Schicht.

Dagegen ist es ungleich schwerer, aus Stammzellen ganze Organe wie eine Leber, eine Lunge, oder eine Niere nachwachsen zu lassen. So behelfen sich Forscher oftmals mit einer Unterlage aus einem gespendeten Organ, das dann zunächst von den Zellen des Spenders gänzlich gereinigt wird. Anschließend werden körpereigene Stammzellen aus dem Knochenmark des kranken Menschen auf dem Organ angesiedelt. Damit wird dem Körper quasi vorgegaukelt, das Organ sei sein eigenes und er stößt es nicht ab.

Bei einer 30-jährigen, in Spanien lebenden Frau gelang solch eine Behandlung mit einer Luftröhre. Die Mutter von zwei Kindern konnte nach einer schweren Tuberkulose kaum noch atmen, so angegriffen war ihre Luftröhre. In einer paneuropäischen Zusammenarbeit zwischen den Universitätskliniken Barcelona, Bristol, Padua und Mailand gelang es erstmals, ein solches Transplantat herzustellen. Die junge Frau lebt seither wieder ein ganz normales und gesundes Leben.

Brücke zum Leben

Ein anderes Hilfsmittel nutzen Stammzellforscher der Medizinischen Hochschule Hannover: Sie züchten Organe wie Nieren oder Lebern nicht vollständig neu, sondern spülen entsprechende Zellen über die Adern in die erkrankten Organe, damit sie wieder gesund werden. Wie bei der Herztherapie siedeln sich die Zellen in abgestorbenen oder schwer geschädigten Bereichen der Organe an und und helfen dabei, dass das Gewebe sich regeneriert.

Michael Ott vom Zentrum für Experimentelle und Klinische Infektionsforschung in Hannover hat mit solchen nachgezüchteten Leberzellen viele Jahre Erfahrung: Sie können bei akuten Vergiftungen Leben retten. Inzwischen erproben Ott und das Stammzellunternehmen Cytonet zusammen mit der Universitätsklinik Heidelberg die Leberstammzell-Therapie in einer letzten klinischen Zulassungsstudie an Säuglingen, die an einer angeborenen Stoffwechselstörung leiden, dem Harnstoffzyklusdefekt.

Der würde ihr Gehirn schwer schädigen und ihren gesamten Körper vergiften. Die einzige Rettung für solche Patienten ist eine Lebertransplantation. Doch die ist für Neugeborene lebensgefährlich: „Wir helfen den kleinen Patienten, mit den Leberzellen ohne Hirnschäden so lange zu wachsen, bis sie mit etwa sechs bis acht Kilogram schwer und groß genug sind, um eine Spenderleber eingesetzt zu bekommen“, sagt Ott. Der Trick mit den Leberzellen ist insofern nur eine Brücke ins Leben, aber keine Dauerlösung.

Für Ott ist allerdings klar, dass es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, bis ein komplexes Entgiftungsorgan wie die Leber komplett nachwachsen kann. Der Grund liegt in den vielfältigen Aufgaben der Leber: Sie macht nicht nur Gifte im Körper unschädlich, sondern schüttet auch selbst Hormone und Botenstoffe aus, die wiederum den Fettstoffwechsel des Körpers regulieren. Im Vergleich dazu sei es geradezu lachhaft, einen Herzmuskel nachwachsen zu lassen, sagt Ott: „Der muss ja nur zucken.“

Selbst einen schnöden Zahn wachsen zu lassen war alles andere als trivial: Hier brauchten die Forscher schon zwei unterschiedlichen Stammzellarten, um eine Zahnknospe sprießen zu lassen, die sich im Kiefer zu einem korrekten Zahn entwickelt. Über viele Jahre erzeugten die Wissenschaftler nur unstrukturierte Klumpen aus Zahnschmelz, die keine Zahnhöhlen mit Adern und Nerven hatten, geschweige denn Zahnwurzeln, mit denen sich die Gebilde im Kiefer hätten verankern könnte. Dass dem Japaner Tsuji 2007 der Coup mit dem Mausezahn gelang, wurde damals zu Recht als Sensation gefeiert.

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