Theologe Graf "Ein Tauschgeschäft zwischen Staat und Kirche"

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Wäre es nicht klüger, die Kirchen würden ihre eigene Botschaft schärfen, den Skandal des Kreuzes, das Versprechen der Auferstehung?

Anstatt die Religion zu stärken, haben sich die Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten aufs Moralisieren verlegt – das ist bekanntlich weniger anspruchsvoll. Dabei hat schon Friedrich Schleiermacher, der bedeutendste Protestant des 19. Jahrhunderts, in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ die klare Botschaft formuliert: Religion ist weder Moral noch Metaphysik, sie ist etwas Eigenständiges: „Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit.“

Moral stört Religion?

Sie stört sie nicht nur, sie verdirbt sie auch. Es ist nicht gut, wenn Sie am Sonntagvormittag in eine Kirche gehen und mit Moralbotschaften traktiert werden. Moralischen Druck verspüren die Menschen sowieso schon die ganze Woche. Es ist auch nicht gut, wenn an Heiligabend oder Ostersonntag über Afghanistan gepredigt wird. Dass der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr schwierig und umstritten ist, weiß jeder halbwegs vernünftige Mensch. Man möchte aber an Ostern nicht mit Politik konfrontiert werden, sondern sich freuen dürfen und erläutert bekommen, was wir Christen da eigentlich feiern.

Können unsere Pfarrer das nicht mehr?

Bei einigen scheint es so. Das hängt zweifellos auch mit der Entakademisierung des Theologiestudiums zusammen. Es gibt heute in den Kirchen etliche Leute, die der Ansicht sind, der Pfarrer brauche nicht theologische, sondern spirituelle Kompetenz – er müsse Rilke-Gedichte im Kerzenschein rezitieren können... Dabei lebt Predigtkultur, recht verstanden, vor allem davon, dass ich mich auf das Wort Gottes und die zentralen religiösen Symbole einlasse. Wenn ich aber das Kreuz oder das Kind in der Krippe nur als Vehikel benutze, um über alles Mögliche zu reden, dann entsteht leicht der Eindruck der Instrumentalisierung. Zugespitzt formuliert: Es ist sicher richtig, seinen Müll zu trennen im Drei-Tonnen-System, aber dazu brauche ich nicht die Trinitätslehre als Begründung. Das führt zu religiösen Overkill-Effekten – und zur Entwertung des Religiösen.

Nun hat gerade die vormalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann durch die Emotionalisierung der christlichen Botschaft über den Kreis der gläubigen Protestanten hinaus Bewunderer gefunden. Sie galt und gilt als besonders authentisch, als glaubwürdig.

Frau Käßmann ist ein Medienphänomen ganz eigener Art. Sie hat den Unterschied von öffentlichem Amt und Privatperson früh aufgelöst – und sich für die Inszenierung einer gesinnungsreligiös begründeten Subjektivität entschieden. Darin haben sich viele Frauen wiedererkennen können.

Weil sie Fehlbarkeit demonstriert hat?

Das gehört mit zur Inszenierung von Betroffenheit. Wir leben in einer Kultur, in der alle möglichen Leute Interviews über sich selbst geben und in der die Biografisierung von Konflikten prämiert wird.

Dann trifft Frau Käßmann den zeitgenössischen Ton doch hervorragend.

Sicher. Sie verstärkt ihn sogar, indem sie permanent von sich selbst redet und Privates medialisiert. Das Problem ist, dass sie dabei eine Problemlösungskompetenz suggeriert, über die sie gar nicht verfügt. Der Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ ist falsch – ganz einfach, weil er erschreckend undifferenziert – auch untheologisch – ist.

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