Theologe Graf "Ein Tauschgeschäft zwischen Staat und Kirche"

Der protestantische Theologe Frank Wilhelm Graf über das Monopol der kirchlichen Sozialunternehmen, den Margot-Käßmann-Moralismus und Priester im Dschungelcamp.

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Friedrich Wilhelm Graf Quelle: Pressefoto

WirtschaftsWoche: Herr Graf, kein deutscher Konzern kann es bei Wachstum und Beschäftigung mit den kirchlichen Sozialunternehmen aufnehmen. Caritas und Diakonie haben ihre Mitarbeiterzahlen seit 1960 verdreifacht und beschäftigen heute mit 950.000 Menschen in Deutschland mehr als Volkswagen und Siemens weltweit. Wie konnte es dazu kommen?

Graf: Die beiden Großkirchen haben in den Sechzigerjahren einen gesetzlich garantierten Vorrang der freien, gemeinnützigen Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen durchgesetzt – und die Kommunen aus dem Wettbewerb verdrängt. Von der kontinuierlichen Expansion des Wohlfahrtsstaates haben die Sozialholdings der Kirchen daher praktisch allein profitiert: als zwei Quasi-Monopolisten, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Heute können Caritas und Diakonie mit jährlich 45 Milliarden Euro an sozialstaatlichen Transferleistungen rechnen.

Warum ist diese Expansion nie infrage gestellt worden?

Weil Caritas und Diakonie bemerkenswert breit akzeptiert sind. Auch Leute, die mit dem traditionellen Kirchenchristentum nichts am Hut haben, finden es gut, dass es kirchliche Sozialstationen, Pflegedienste, Krankenhäuser und Kindergärten gibt. Ihren Erfolg brauchten Caritas und Diakonie daher nie zu begründen – zuletzt dem Staat gegenüber. Der war immer schon froh, in den Kirchen über einen Akteur zu verfügen, der seine gesellschaftlichen Probleme löst und zur politischen Stabilität beiträgt.

Ist den Kirchen die Expansion in die Sozialbereiche gut bekommen?

Ich glaube nicht. Zu viel Geld macht müde, denkfaul und bequem. Wer sich um alles kümmern will, droht seine zentrale Aufgabe, die Kommunikation des Evangeliums, zu vernachlässigen. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass der Zuwachs an Personal den Kirchen auch eine höhere religiöse Kompetenz beschert hätte. Warum sonst laufen den Kirchen die Menschen in Scharen davon? Allein 2008 haben 280.000 Deutsche ihren Austritt aus den Kirchen erklärt. Insgesamt haben Protestanten und Katholiken seit 1990 rund 6,5 Millionen Mitglieder verloren.

Aber warum bringt weder ihre sozialmonopolistische Stellung noch ihr dramatischer Mitgliederverlust die Kirchen in Legitimationsnöte?

Weil es im politischen System niemanden gibt, der sich mit den Kirchen anlegt. Denken Sie nur an die FDP, die pausenlos den Verdacht von sich weist, sie sei eine antiklerikale Partei. Warum? Weil auch eine liberale Partei sehr genau weiß, welche Organisationsmacht hinter den Kirchen steht. Am besten lässt sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen wohl als Tauschgeschäft verstehen: Der Staat fördert kirchliche Institutionen und damit die gesellschaftliche Integration religiöser Akteure – und die Kirchen danken es ihm mit der stillen Erledigung sozialstaatlicher Aufgaben.

Und von den sinkenden Mitgliederzahlen redet man ein anderes Mal...

Genau – wie in den Volksparteien, so in den Kirchen. Die Krisensignale kommen in den Apparaten nicht an, weil die ökonomische Situation vergleichsweise gut ist – sinkende Akzeptanz hin, Mitgliederschwund her. Bedenken Sie, dass der Staat den Kirchen jährlich neun Milliarden Euro Kirchensteuern überweist – und weitere 19 Milliarden für ihre Kindergärten, Pfarrhäuser, Hochschulen, Entwicklungsdienste. Nur deshalb können die Kirchen ihren gesellschaftlichen Bedeutungsverlust noch einigermaßen erfolgreich leugnen.

Der Staat unterstützt sie dabei nicht nur finanziell, sondern auch rechtlich.

Kirchen sind Rechtsinstitutionen eigener Art. Als sogenannte Tendenzschutzbetriebe sind sie nicht den Bestimmungen des allgemeinen Arbeitsrechts unterworfen. Die Konsequenz ist beispielsweise, dass es keine innerkirchlichen Gewerkschaften gibt – und kein Streikrecht der Mitarbeiter. Die Kirchen begründen das damit, dass es Arbeitsverweigerung im Dienst an Gott und der Kirche eigentlich nicht geben kann...

...und bezahlen ihr Personal teils deutlich unter Tarif...

Alle Anbieter von sozialen und medizinischen Dienstleistungen stehen unter Rationalisierungs- und Professionalisierungsdruck. Das Problem ist, dass die Kirchen immer den Eindruck erweckt haben, sie könnten solche Aufgaben besser erledigen als andere – aus „Nähe“ zum Menschen. Jetzt lernen Patienten wie Mitarbeiter, dass das nicht stimmt und dass die christliche Symbolsprache – etwa „Gnade“ oder „Barmherzigkeit“ – in internen Konflikten von den Kirchen zu Unrecht in Anspruch genommen wird. Noch immer ist im kirchlichen Arbeitsrecht von „Dienstgebern“ und „Dienstnehmern“ die Rede, das heißt: Hier wird das Ideal einer völlig unökonomischen Gaben-Ökonomie kommuniziert, das der wirtschaftlichen Praxis in den kirchlichen Sozialholdings Hohn spricht.

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