Atomkraft in Europa Schweden will neue Atomkraftwerke ermöglichen – aber werden sie je gebaut?

Blick ins Kernkraftwerk Oskarshamn: Derzeit hat Schweden noch sechs aktive AKW. Geht es allein nach der aktuellen Regierung, könnten es bald mehr sein. Quelle: imago images

Nach Polen und den Niederlanden will auch Schweden wieder mehr Atomkraftwerke bauen. In ganz Europa scheint zwölf Jahre nach Fukushima der Wind zu drehen. Warum es wohl dennoch keine Neubauwelle geben wird.

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Die schwedische Regierung plant eine Gesetzesinitiative, die den Neubau von Atomkraftwerken (AKW) wieder ermöglichen soll. Das gab Premierminister Ulf Kristersson Mitte der Woche bekannt. Der rechtskonservative Politiker hat eine Renaissance der Kernenergie zur Chefsache erklärt: Er sieht in der Atomkraft eine Schlüsseltechnik für die künftige Energieversorgung Schwedens, das wie viele andere europäische Staaten seit Russlands Überfall auf die Ukraine unter hohen Strompreisen leidet.

Zwar ist Schweden weit weniger von russischem Gas abhängig als etwa Deutschland, aber „wegen der Elektrifizierung von Verkehr und Industrie wird Schweden künftig viel mehr Strom brauchen – auch verlässlichen“, sagte Kristersson. Geht es nach dem Willen seiner Regierung, soll das neue Gesetz im März 2024 in Kraft treten.

Die Regierung in Stockholm würde damit eine radikale Trendwende in der Energiepolitik des Landes einläuten: Schweden hatte 1980 nach einem Volksentscheid den Atomausstieg beschlossen. Das ursprünglich geplante Ausstiegsdatum 2010 wurde zwar 1996 aufgegeben. Aber wie die meisten anderen Länder der Welt hat auch Schweden zuletzt vor allem die erneuerbaren Energiequellen stark ausgebaut, allen voran Wind. Das Land ist global zu einem der größten Produzenten und Verbraucher von Wind- und Wasserkraftstrom pro Kopf avanciert, während die Bedeutung der schwedischen Kernkraft abnahm: Derzeit hat Schweden noch sechs aktive Atomkraftwerke, die zusammen 30,1 Prozent des schwedischen Stromverbrauchs abdecken; 1996 waren es 56,4 Prozent.

Kommt die europaweite Trendwende?

Die Nachricht aus Stockholm ließ auch im Rest Europas viele Energiepolitiker und Fachleute aufhorchen. „Schweden und viele andere Nationen planen neue AKW. Aber eine kleine ideologische Partei aus Deutschland meint, sie wüsste es besser: Grüne!“, twitterte der verteidigungspolitische Sprecher der CSU, Florian Hahn. „Außerhalb des deutschsprachigen Raums“ falle ihm „spontan kein westliches Land ein, in dem sich der öffentliche und politische Diskurs in den letzten zwei Jahren nicht sehr spürbar in Richtung Ausbau der Atomkraft verschoben hätte“, schrieb der Ökonom Lion Hirth, Professor für Energiesysteme an der Hertie School of Management.

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Tatsächlich ist Schweden nicht das einzige europäische Land, das zuletzt Gesetzesinitiativen gestartet hat, die einen nationalen Atomausstieg zumindest teilweise revidieren – und für den Bau neuer AKW die gesetzliche Grundlage schaffen sollen. Ähnliche Initiativen gibt es in Polen und den Niederlanden. Neben der Atom-Großmacht Frankreich bauen auch Großbritannien, Finnland und die Slowakei neue Reaktoren. In einigen anderen Ländern, wie Belgien, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien laufen zumindest die bestehenden AKW noch teilweise sehr viel länger als in Deutschland. 13 von 27 EU-Staaten wollen noch für einige Jahre weiter Atomstrom nutzen.

Die Energiekrise trifft Deutschland und Frankreich gleichermaßen – Paris setzt nun auf den Ausbau der Atomkraft und Erneuerbarer, und führt mehr Flüssiggas ein. Wo kann Deutschland vom Nachbarn lernen?

Von einer internationalen Trendwende könne aber keine Rede sein, sagt Mycle Schneider, Kernkraftanalyst und Herausgeber der weltweit führenden Atomkraft-Marktanalyse „World Nuclear Industry Status Report“. „Trotz exorbitant hoher Gas- und Ölpreise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sank der globale Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion Mitte 2022 erstmals seit vier Jahrzehnten unter die Marke von zehn Prozent“, sagt Schneider, obwohl der Stromhunger der Erde nach wie vor wächst. Mitte der 1990er war ihr Anteil noch fast doppelt so hoch. Das liegt vor allem am starken Zubau der Erneuerbaren der vergangenen Jahre.

Auch heimische Atomkraftexperten ordnen die Nachrichten aus Schweden etwas nüchterner ein als der eine oder andere deutsche Politiker. „Zunächst ist es nur ein Gesetzesvorhaben, ob es durch das Parlament kommt, ist nicht ganz sicher“, sagte ein Aufsichtsrat eines schwedischen AKW-Betreibers der WirtschaftsWoche, und selbst wenn: „Bis neue Reaktoren ans Netz gehen, vergehen viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte; auf jeden Fall mehrere Legislaturperioden“, so der Energiemanager. Die Betreiber hätten „in erster Linie ein wirtschaftliches Interesse an Laufzeitverlängerungen bestehender AKW“, weniger am Neubau, sagt der Aufsichtsrat.

AKW-Neubau-Kosten laufen oft aus dem Ruder

Denn der Bau neuer AKW ist teuer, langwierig und birgt ein erhebliches Risiko des Scheiterns. Immer wieder kommt es bei AKW-Bauprojekten zu teuren Verzögerungen. Weltweit sind Anfang 2023 59 Reaktoren offiziell in Bau, die meisten pro Land in China; 1979 waren es noch 234 Reaktor-Baustellen global, aber jede Fünfte davon wurde nie fertiggestellt. Auch bei den aktuellen Reaktorbaustellen klemmt es: So verzögern sich die Neubau-Projekte im französischen Flamanville, im britischen Hinkley Point, in Finnland und im US-Bundesstaat Georgia um viele Jahre, die Kosten sind in einigen Fällen um den Faktor drei bis vier höher als geplant.

Ein anderes Problem ist die Finanzierung von AKW-Neubauten, die in keinem Land der Erde ohne staatliches Eingreifen funktioniert – häufig dennoch zulasten der Verbraucher aus Industrie und Privathaushalten. So wie in England: Für mehr als 35 Jahre wird der Betreiber EDF einen von der Londoner Regierung garantierten Strompreis von 92,50 Pfund pro Megawattstunde erhalten. Fällt der Marktpreis unter diesen Betrag, müssen die Stromkunden für die Differenz in Form einer Sonderabgabe aufkommen – ganz gleich, ob sie EDF-Kunden sind oder nicht.



Im US-Staat South Carolina erhöhte der örtliche Stromversorger trotz staatlicher Garantien insgesamt neunmal die Strompreise zur Finanzierung eines Reaktorneubaus – dessen Kosten dennoch derart aus dem Ruder liefen, dass der Reaktorbauer Westinghouse nach nur vier Jahren Bauzeit bankrott ging und das Projekt nach zehn Milliarden Dollar Kosten aufgegeben werden musste. Und in einem anderen Südstaaten-AKW, dem AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia, belaufen sich jüngsten Schätzungen zufolge die Kosten der Erweiterung des AKW um zwei neue Reaktorblöcke auf mehr als 30 Milliarden Dollar. Das Projekt ist bisher sechs Jahre hinter Plan. Durch die hohen Baukosten wird der dort ab diesem Jahr erzeugte Strom US-Branchenanalysten zufolge 168 Dollar je Megawattstunde kosten – etwa das Vierfache von Windstrom oder Fotovoltaik – selbst wenn man einrechnet, dass diese stark schwankend Strom liefern.

Auch in Frankreich und Finnland steigen die Kosten in ähnlichen Größenordnungen. „Überall in der westlichen Welt explodieren Bauzeiten und Kosten, und aus China und Russland bekommt man keine verlässlichen und planbaren Zahlen“, sagt Atomanalyst Schneider.

Zudem gebe es kaum industrielle Kapazitäten für eine signifikante Steigerung der AKW-Bautätigkeit. Weltweit gibt es nur noch in Russland, China, den USA, Frankreich, Japan und Südkorea Unternehmen, die den Neubau von Atomkraftwerken wenigstens teilweise beherrschen. Der US-Spezialist Westinghouse baut seit seiner Pleite 2017 aber neben Vogtle bis dato nichts mehr, hat sich auf das Geschäft mit Service, Brennstäben, Atommüll und AKW-Rückbau verlegt. Russische Reaktoren sind auf absehbare Zeit wegen der zahlreichen Sanktionen gegen das Land in der EU utopisch; China baut bis auf einen Reaktor in Pakistan nicht im Ausland und ist wegen der strengen US-Sanktionen ebenfalls von westlichen Märkten weitgehend ausgeschlossen; auch Japans Atomkonzerne Hitachi und Mitsubishi bauen nur mit staatlichen Garantien im Inland.

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Bleibt der französische Spezialist Framatome, aber der arbeite bereits am Limit, sagt Schneider. Er habe den Eindruck, „dass sich die politische und gesellschaftliche Debatte meilenweit von der wirtschaftlichen und technischen Realität in der Atomindustrie entfernt“ habe, sagt der Pariser Nuklearexperte. Den massenhaften Bau neuer AKW in Europa hält Schneider für nahezu ausgeschlossen, „egal, was manche Regierungen sich wünschen und beschließen.“

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