Atommülllager Die Illusion einer sauberen Lösung

Das niedersächsische Atommülllager Asse soll ausgeräumt werden. So wollen es Bürger und Politiker. Doch dieser Plan droht zu scheitern.

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Endlager Atommüll Quelle: AP

Nun ist der Geist aus der Flasche. Zwar beteuern alle politischen Instanzen, vom Bundesumweltministerium bis zur Opposition, dass man die radioaktiven Abfälle aus dem ehemaligen Salzbergwerk Asse II bergen wolle. Doch das hehre Versprechen gerät zunehmend in Widerspruch zur Realität: Anders als ihre Vorgesetzten in der Öffentlichkeit reden die zuständigen Experten intern längst darüber, warum die gigantische Operation "Rückholung" wohl ist, was einzelne Kritiker immer gemutmaßt haben – Wunschdenken.

Alles in Ordnung

Offen zu äußern wagt das allerdings niemand. Denn damit würde einer der größten Konflikte im Umgang mit der Kernkraft, den Deutschland je erlebt hat, wieder aufbrechen; ja die Verantwortlichen müssten riskieren, eine ganze Region in die offene Rebellion zu treiben. Die Einwohner des Landkreises Wolfenbüttel haben ohnehin das Gefühl, dass man sie über Jahrzehnte an der Nase herumgeführt hat. Immer wieder hörten sie: alles in Ordnung – auch als in der Asse längst nichts mehr in Ordnung war.

Die Probleme mit dem Bergwerk Asse

Dialog und Bürgerbeteiligung

Bereits in den sechziger Jahren, als das "Versuchsendlager" angeblich noch erkundet wurde, begann dort klammheimlich die Einlagerung. Heute weiß man, dass unter den Äckern in 500 bis 700 Meter Tiefe mehr als 120.000 Fässer mit radioaktiven Abfällen ruhen. Verschwiegen wurde zunächst auch der Einbruch von Wasser in die Asse. Zwar droht seitdem die Gefahr, dass das marode Bergwerk irgendwann mit großen Mengen Salzlauge vollläuft – und die Fässer durchrosten. Doch erst 2008, nachdem unter Tage auch radioaktives Cäsium-137 gemessen wurde, was als Indiz für bereits beschädigte Atommüllfässer gilt, entzog die Bundesregierung dem zuständigen Helmholtz-Zentrum die Aufsicht und übertrug sie dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS).

Dessen Präsident Wolfram König versucht seither, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Mit viel Dialog und Bürgerbeteiligung will er die Sünden der Vergangenheit ausbügeln. Und die misstrauischen Bürgerinitiativen wollen vor allem eines: alle Abfälle aus der Asse wieder an die Oberfläche holen. Alles andere, etwa eine "Verfüllung" der Schächte mit Betonsperren, gilt in der Region als Verrat. Damit, so die einhellige Meinung der Anwohner, solle nur wieder vertuscht werden, was im Dunkel des Salzes so alles liege.

Gesetzespflicht: die Asse sicher zu schließen

Atommüll in Gorleben Quelle: dpa

Obwohl die Rückholung in unzähligen Diskussionsveranstaltungen beschworen wurde, war nie klar, ob diese Option auch wirklich durchführbar ist. Ausgerechnet Mitglieder des Fachbereichs "Sicherheit nuklearer Entsorgung" im BfS waren es, die den Geist des Zweifels aus der Flasche ließen. In einem fünfseitigen Memorandum, datiert vom 14. November 2011, zerpflückten sie das Multimilliardenprojekt. Angesichts der technischen Schwierigkeiten und der erforderlichen Genehmigungen werde die Rückholung viel länger dauern als gedacht; dadurch steige das Risiko eines "unbeherrschbaren Lösungszutritts" – sprich: Wassereinbruchs. Es sei damit zu rechnen, dass bald "eine Sachlage eintreten wird, die eine weitere Verfolgung der Stilllegungsoption 'Rückholung' als sicherheitstechnisch nicht mehr vertretbar erscheinen lässt". Für die Bürgerinitiativen ein Stich ins Herz. Als das brisante Papier an die Medien gelangte, schlug prompt die öffentliche Empörung über dem Bundesamt zusammen. Eilig wurde dementiert: "Es gibt keine Neubewertung oder Neupositionierung des BfS." Bei dem Memorandum handele es sich nur um ein Diskussionspapier, entstanden aus einer Routineübung hausinterner Fachleute "unter Annahme von Worst-Case-Szenarien". Für eine Neubewertung bedürfe es viel umfassenderer Expertisen – und einer transparenten Diskussion.

Die Sorgen ernstnehmen

Deshalb lud das Amt Mitte Januar rund hundert Fachleute zu einem Workshop. Sie sollten Unsicherheiten, "vor allem aber Beschleunigungsmöglichkeiten für die Rückholung" identifizieren. Parallel dazu nahm die Entsorgungskommission (ESK) des Umweltministeriums die Problematik unter die Lupe. Sowohl dessen Stellungnahme als auch das Ergebnis des BfS-Workshops sind inzwischen veröffentlicht. Tenor beider Papiere: Die Sorgen der Memorandums-Autoren müssen ernst genommen werden. Was folgt daraus?

Langfristig und Sicher

Im Bundesamt für Strahlenschutz hält man an der bisherigen Linie fest: "Das BfS ist gesetzlich verpflichtet, die Asse langfristig sicher zu schließen. Das kann nach aktuellem Kenntnisstand nur gelingen, wenn alle Abfälle zurückgeholt werden", sagt BfS-Sprecher Werner Nording. "Die Fachtagung ergab abschließend keine Erkenntnisse, die eine Rückholung der Abfälle infrage stellen könnten." In der von seinem Amt herausgebenen Zeitung Asse Einblicke räumt Wolfram König zwar ein: "Angesichts der Gefahr eines Absaufens der Grube bleibt wenig Zeit." Das heiße aber nicht, "die Rückholung aufzugeben, sondern das Verfahren zu beschleunigen". Das forderten am vergangenen Freitag im Bundestag auch SPD und Grüne. In seltener Einmütigkeit mit FDP und Union, dem Land Niedersachsen und der Bundesregierung traten sie für die Rückholung ein.

Je länger die Arbeiten dauern, desto höher das Risiko

Das Bergwerk Asse bei Wolfenbüttel Quelle: dpa/dpaweb

Diese zu beschleunigen, wie nun allseits gefordert, dürfte allerdings extrem schwierig werden. Im Gegenteil: Alle Expertisen belegen, dass sich die Sanierung der Asse im Vergleich zu den bisherigen Plänen massiv verzögert. Noch vor Kurzem plante das Bundesamt für Strahlenschutz eine drei Jahre währende Prüfung der Faktenlage; danach sollte der Müll binnen acht Jahren geborgen werden, bis 2020 oder 2025 sollte die Rückholung abgeschlossen sein. Nun stellt sich heraus, dass alles sehr viel länger dauern würde – mindestens bis 2040, möglicherweise noch länger.

Damoklesschwert: Gruben-GAU

Das allerdings hätte gravierende Konsequenzen. Denn das marode, ursprünglich für 2015 zur Schließung vorgesehene Bergwerk ist für solch langwierige und massive Eingriffe gar nicht ausgelegt. Zuvor müssten nicht nur die bestehenden Schächte 2 und 4 aufwendig saniert werden, ein ganz neuer, größerer Schacht 5 gilt als erforderlich, um die schweren Müllfässer hochzuholen. Weder die vorhandene Stromversorgung oder die Belüftung ("Bewitterung") noch die existierenden Räume für die Infrastruktur, vom Sanitärbereich bis zum Materiallager, reichen für ein Jahrzehnteprojekt aus.

Viel problematischer ist das Damoklesschwert eines Gruben-GAUs, im Fachjargon AÜL genannt (Auslegungsüberschreitender Lösungszutritt). Schon heute sickern Tag für Tag 12.000 Liter Wasser in die Asse ein und müssen fortgeschafft werden. Bei größeren Mengen könnte die Grube absaufen. Diese Gefahr ist längst bekannt, deshalb wurde nach Wegen gesucht, im Fall der Fälle eine mögliche Strahlenbelastung der Bevölkerung deutlich zu reduzieren. BfS und ESK haben errechnet: Um etwa das Zehnfache ließe sie sich verringern, würden vor einem AÜL alle Kammern, in denen radioaktiver Müll lagert, mit Salz oder Gestein verstopft ("verfüllt"). Denn weniger Hohlräume um den Müll bedeuten weniger Wasserkontakt. Zudem förderte das Zustopfen die Stabilität des Bergwerks, das sich unter enormem Druck allmählich verformt: Ein gut plombiertes Gebiss ist beständiger als ein kariös-löchriges.

Das Risiko wächst

Bisher aber waren Verfüllungen tabu – sie würden ja später die Rückholung der Fässer behindern! Das Dilemma scheint unausweichlich. Und das Risiko wächst mit der Zeit. Je länger die Arbeiten in und um die Asse dauern, umso mehr erhöht sich zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit eines massiven Wassereinbruchs. Daher fordert nun die Entsorgungskommission Vorrang für Vorsorgemaßnahmen: "Der etwas erhöhte Aufwand beim Öffnen einer verfüllten Kammer für die Rückholung" sei gegenüber dem Sicherheitsgewinn "nachrangig". Die Zwickmühle "Schutz versus Öffnung" treibt nicht nur die Experten der ESK um, sondern auch jene des BfS. In ihrem Memorandum warnen sie vor einer Kollision mit dem Atomgesetz, sobald die Müllkammern für eine Rückholung geöffnet würden. Dann müsste nämlich die Störfallsicherheit der Asse atomrechtlich nachgewiesen werden (was bisher noch nicht geschah). Ob das bei einem AÜL gelinge, sei "eher unwahrscheinlich" – weil im Fall "des Absaufens der Anlage Strahlenexpositionen oberhalb des Störfallplanungswertes zu erwarten sind".

Ein sicheres Endlager: unerreichbar

Proteste vor dem Brandenburger Tor Quelle: dpa

Der juristisch kaum lösbare Eiertanz um eine atomrechtliche Genehmigung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass bei der Rückholung sicherheitstechnisch genau das Gegenteil dessen geschieht, was die Entsorgungskommission aktuell fordert: Beim Ausräumen schafft man zunächst große Hohlräume, statt sie zu verschließen. Sollte eine Kammer beim Ausgraben kollabieren, könnte das ein Absaufen beschleunigen. Und in der Lauge schwämme dann radioaktiver Müll.

"Operation am offenen Herzen"

Als "Operation am offenen Herzen" gilt das riskante Vorgehen unter Fachleuten. Die Aussichten, dafür eine atomrechtliche Genehmigung zu erhalten, sind prekär. Und ohne eine solche Erlaubnis "wäre die Rückholung insgesamt nicht genehmigungsfähig", waren sich die Teilnehmer des BfS-Workshops einig.

Viele Befürworter der Rückholung rufen nun nach einer Gesetzesänderung, einer "Lex Asse", um den Prozess zu beschleunigen. Dieser Wunsch kollidiert jedoch mit einem anderen Mantra aller Parteien: "Keine Abstriche bei der Sicherheit."

Albtraum aller Endlagerexperten

Sollte wider Erwarten eine Rückholung genehmigt werden, gingen die Probleme erst richtig los. Zum ersten Mal in der Geschichte würde dann ein unterirdisches Atommüllager aufgelöst und strahlender Abfall aus bis zu 750 Meter Tiefe an die Oberfläche gehievt – ein Albtraum für alle Endlagerexperten. Die rund 400.000 Kubikmeter Müllbrei müssten zunächst in ein Pufferlager verbracht, sorgfältig verpackt ("konditioniert") und in einem riesigen Zwischenlager verstaut werden. Dafür wäre eine "Konditionierungsanlage" von bisher unbekannter Dimension nötig. Und die Probleme würden nur aus dem Bergwerk an die Oberfläche verlagert. Denn das Ziel einer sicheren Endlagerung ist noch auf lange Sicht unerreichbar. Weil kein passendes Endlager existiert.

Drei Jahrzehnte Rechtsstreit um Konrad

Nicht die

Prinzipiell geeignet für solch schwach- bis mittelradioaktiven Müll wäre der Schacht Konrad in Salzgitter. Er soll sämtliche Abfälle dieser Art aufnehmen, die bisher in Deutschland angefallen sind und in Zwischenlagern ruhen, derzeit knapp 100.000 Kubikmeter. Bis zum Jahr 2080 sollen es insgesamt 250.000 Kubikmeter werden, Konrad könnte mit seiner Kapazität (300.000 Kubikmeter) noch etwas länger allen üblichen Strahlenmüll aufnehmen. Die Mengen aus der Asse aber wären klar zu viel.

Durch alle Instanzen

Fast drei Jahrzehnte – von 1975 bis 2007 – hat es gedauert, bis die Genehmigung für Konrad durch alle Instanzen gepaukt war. Eine vergleichbare Dauer würde den Asse-Planern weitere Probleme bereiten: Frisch geborgene Abfälle "sind nur über mehrere Jahre lagerfähig, wenn sie neu konditioniert werden", stellt die ESK fest. Andernfalls wären sie "sicherheitstechnisch eine Gefährdung". Die Art der Verpackung hängt wiederum vom Endlager ab. Ohne Gewissheit über das Endlager lässt sich also keine adäquate Anlage planen.

Zwei Paar Schuhe

Solche Endlosschlaufen machen nachvollziehbar, warum das BfS und Politiker nach Beschleunigung rufen. Doch weder ist eine Aufweichung des Atomgesetzes realistisch noch ein rascher Endlager-Konsens. Derweil sickert weiter Wasser in die Asse, und die geologische Uhr eines Gruben-GAUs tickt. Daher forderten die BfS-Experten in ihrem Memorandum vom November, "bereits jetzt alle fachlichen und kommunikativen Vorbereitungen für eine Aufgabe des Projekts 'Rückholung' zu treffen".

Doch das technisch Sinnvolle und das politisch Machbare sind zwei Paar Schuhe. Das bekam Ende 2011 auch der damalige niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) zu spüren, als er eine Rückholung infrage stellte. Man solle besser den Schacht mit Beton verfüllen und so weit wie möglich abdichten – seine Experten hätten ihm das schon immer gesagt. Wutbürger schäumten gegen den "Verräter", er gebe die ganze Region auf.

Sanders Nachfolger Stefan Birkner (FDP) sprach am vergangenen Freitag im Bundestag wieder vom "Ziel der Rückholung aller Abfälle aus der Asse". Applaus. Dann fügte er hinzu: "Ob und inwieweit dies tatsächlich möglich ist, muss schnellstmöglich geklärt werden." Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) indes schwieg.

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