Energie Das Ölzeitalter ist noch lange nicht vorbei

Der steigende Ölpreis schiebt Fracking an. Die neuen Fördertechniken machen riesige, bislang unerreichbare Reserven zugänglich. Eine Expedition zu den Ölscheichs von morgen.

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Ölförderung durch Fracking in Williston, North Dakota Quelle: Reuters

Am Arsch der Welt ist Stau. Auf dem Highway 23, zwei Kilometer vor Watford City, stehen Hunderte Trucks, Pickups und Kleinwagen. Nichts geht mehr. Wie so oft in letzter Zeit.

Es ist nur ein paar Jahre her, da war Watford City ein verschlafenes Nest mit 1400 Einwohnern im US-Bundesstaat North Dakota – mitten in der Prärie. Heute ist Watford die am schnellsten wachsende Stadt der USA. Rund 6000 Menschen leben hier, 2020 sollen es 15.000 sein, schätzt Doug Bolken von der örtlichen Gemeindeverwaltung. Vom Fenster seines Büros blickt er auf die Autoschlange und sagt fast entschuldigend: „Freiwillig kommt niemand hierher.“

Grund für den Ansturm auf Watford City ist Öl. Seit 2004 fördern Unternehmen in North Dakota den Rohstoff aus Schiefergestein, das hier etwa zwei Kilometer unter der Erde liegt. Diese Ölvorkommen, die vor einigen Jahren noch unerreichbar schienen, haben North Dakota 13 Prozent Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung beschert – und jede Menge Probleme.

Nicht nur, dass die engen Straßen in Orten wie Watford nie gebaut waren für solch endlose Truck-Kolonnen, die Arbeiter und Werkzeug auf die Ölfelder karren. Apartments kosten plötzlich 3000 Dollar im Monat – „fast wie in New York“, sagt Bolken. Und das ist nicht das einzige Großstadtproblem, das sie nun auch in Watford City kennen: Auf einmal prügeln sich in den beschaulichen Örtchen abends Betrunkene vor den Kneipen und kurven anschließend besoffen mit ihren SUVs über die kaputten Straßen.

Da war es nur eine Frage der Zeit, bis die Ölarbeiter auch ein weiteres Gewerbe anziehen: Per Nachtzug reisen Scharen von Prostituierten aus dem 1000 Kilometer entfernten Minneapolis in das Öl-Eldorado. Entspannt hat sich die Lage trotzdem nicht.

Der Ölpreis in Dollar pro Barrel. Klicken Sie hier, um die Grafik zu vergrößern!

Das kann so nicht weitergehen, findet Stadtplaner Bolken. Er sieht nur noch einen Ausweg: eine bessere, nun ja, Work-Life-Balance der Männer vor Ort. 190 Millionen Dollar will er in Straßen, Schulen und Krankenhäuser stecken, um seine Stadt für die Familien der Ölarbeiter attraktiver zu machen, die bislang über die USA verstreut leben. Geregeltes Familienleben, hofft Bolken, werde Watford ruhigere Nächte bescheren.

Aber eigentlich dürfte es diesen neuen Ölboom, die hohen Mieten und die reisenden Prostituierten gar nicht geben. Jedenfalls wenn Marion King Hubbert Recht gehabt hätte. Hubbert war nach dem Zweiten Weltkrieg Mitarbeiter bei dem Ölkonzern Shell und später bei der US-Geologiebehörde. Aus Hunderten Daten von Ölfeldern berechnete er, dass die Ölförderung in den USA bis etwa 1970 steigen und dann sinken werde. Die Idee von Peak Oil, dem Höhepunkt der Ölförderung, war geboren.

Bohren wie am Fließband

Wo das Rohöl herkommt
Die Förderung, Verarbeitung und Lieferung von Rohöl ist nicht ungefährlich, wie das Unglück im Golf von Mexiko im Jahr 2010 zeigte. Zudem gewinnen alternative Quellen wie durch „Fracking“ gewonnenes Schiefergas an Bedeutung. Doch die Weltwirtschaft ist nach wie vor auf Öl angewiesen. Welche Nationen den wichtigste Treibstoff der Weltwirtschaft liefern. Quelle: BP, Produktionsdaten für das Jahr 2011. Quelle: dpa
Rang 10: Brasilien Eine Ölbohr-Plattform in einer Bucht bei Rio de Janeiro: Brasilien fördert 2,9 Prozent der weltweiten Ölproduktion. Aus den Ölquellen des Landes strömen täglich rund 2,2 Millionen Barrel Öl. Ein Barrel oder Fass entspricht 159 Litern. Quelle: Reuters
Rang 9: KuwaitEin kuwaitischer Tanker auf dem Weg nach Texas. Mit einer täglichen Produktion von 2,8 Millionen Fass Rohöl stammen 3,5 Prozent der Weltproduktion aus dem Wüstenstaat. Quelle: ap
Rang 8: MexikoIn Mexiko hält der Staatskonzern Pemex den Treibstoffmarkt weitgehend im Griff. Das Land produziert rund 2,9 Millionen Barrel Öl. Das sind 3,6 Prozent der Weltproduktion. Quelle: Reuters
Rang 7: Vereinigte Arabische EmirateDie Vereinigten Arabischen Emirate bereiten sich zwar auf die Zeit nach der Öl-Hausse vor. Doch immer noch fördert das Land 3,8 Prozent der globalen Produktion. Das sind rund 3,3 Millionen Fass Öl täglich. Quelle: ap
Rang 6: KanadaDer Künstler Hugh Patterson nimmt die Bedeutung des Öls für Kanada aufs Korn. Insbesondere die Gewinnung des Treibstoffs aus Ölsand steht wegen der Umweltschäden in der Kritik. Das Land steuert 4,3 Prozent der Weltproduktion bei und fördert 3,5 Millionen Fass. Quelle: ap
Rang 5: ChinaDer Energiehunger Chinas klettert mit dem wirtschaftlichen Aufstieg. Das Land produziert auch selbst und schafft es mit einer Tagesproduktion von rund 4 Millionen Barrel auf Rang fünf der Ölförderer. Auf das Reich der Mitte entfallen 5,1 Prozent der Weltproduktion. Quelle: Reuters

Ist Watford der Beweis, dass Hubbert irrte? War Peak Oil ein Rechenfehler? Das Öl ist den USA bislang jedenfalls nicht ausgegangen. Im Gegenteil: Dank des neuen Booms ist das Land auf dem Sprung, Saudi-Arabien und Russland als weltgrößter Ölproduzent abzulösen: 2015 soll es so weit sein.

Die Idee vom Höhepunkt der Ölförderung hat sich damit trotzdem nicht erledigt. Erst vor wenigen Tagen bestätigte die Internationale Energieagentur (IEA) in einem Report, dass sich weltweit die aktiven Ölfelder leeren. In zehn Jahren werde sich ihre Produktion mehr als halbiert haben.

Ölpipeline in North Dakota Quelle: AP

Zwar gibt es theoretisch genug Öl im Boden: Die bekannten Reserven betragen je nach Kalkulation 2800 bis 3400 Milliarden Barrel. Beim heutigen Verbrauch könnte das noch rund 100 Jahre reichen. Doch ein Großteil lässt sich bislang nicht fördern.

Die Ölindustrie hofft daher auf den technischen Fortschritt, der dafür sorgt, dass ein immer größerer Teil dieser sogenannten unkonventionellen Reserven erreichbar wird: wie das Öl aus Schieferstein in North Dakota, die Reservoirs tief im Meer, die Teersande in Kanada oder die exotischen Stoffe wie Kerogen – ein schwarzes Gestein, das noch gar nicht richtig zu Öl geworden ist.

Aber wie viel davon lässt sich in den nächsten Jahrzehnten wirklich abbauen?

KlFörderraten aus aktiven Ölfeldern in Milliarden Barrel Öl. Klicken Sie hier, um die Grafik zu vergrößern!

Am Anfang des Ölbooms in Watford City stand eine schier aussichtslose Mission. Im Herbst 2004 schickte das New Yorker Ölunternehmen Hess den Ingenieur Wayne Biberdorf mit einer kühnen Aufgabe nach North Dakota. Er sollte das erste Mal eine als Bakken bekannte Schieferformation horizontal anbohren. Das hatte in der Region bis dahin niemand wirklich versucht.

Über die Prärie fegten erste Blizzards, als Biberdorf 2004 seine Arbeit in einem beheizten Container auf dem Bohrfeld bei Watford City begann. Zwölf Stunden am Tag trieb er den Bohrer in die Erde – gesteuert von einem elektronischen Kontrollpult. Dann löste ihn ein Kollege ab. Nach drei Monaten hatten sie den Bohrer in die Waagerechte gelenkt und Hunderte Meter horizontal gebohrt. Dann lieferten Trucks Millionen Liter Wasser, das die Ingenieure mit Sand und Chemikalien vermischt in den Boden pumpten.

35.000 neue Bohrungen

In dem gut handbreiten Bohrloch, zwei Kilometer tief im Schiefer, wurde der Druck so hoch, dass er Hunderte Meter lange Spalten ins Gestein riss. Aus denen sickerte das zuvor im Boden gefangene Erdöl in das Bohrloch. Zum ersten Mal kamen mit dieser als Fracking bezeichneten Methode in North Dakota größere Mengen des Rohstoffs aus dem Boden. So flüssig wie Cola war das Öl.

Biberdorf freut sich noch heute über den Erfolg. „Damals hätte niemand geglaubt, dass das Verfahren hier funktioniert“, sagt der Ingenieur, der in Jeans und Karohemd auf seiner Veranda in einem kleinen Häuschen in der Kreisstadt Williston nördlich von Watford City sitzt. Biberdorf ist inzwischen pensioniert, beobachtet aber immer noch, welch irren Boom er mit seiner Kunstfertigkeit und den vielen durchgearbeiteten Nächten ausgelöst hat.

Arbeiter, der an der Bohranlage

Denn seither hat ein enormer technischer Fortschritt stattgefunden. Bohrungen, die früher 90 Tage dauerten, schaffen die Ingenieure heute in nicht mal einem Drittel der Zeit. Dann schließen Arbeiter die Leitungen zu den Öltanks an, während ihre Kollegen schon mit Trucks den zerlegten Bohrturm auf das nächste Feld bringen. „Das geht heute wie am Fließband“, sagt Biberdorf.

Wer den Öl- und Gasmarkt dominiert
Stürmische Zeiten: Trotz der weltweiten Wirtschaftsflaute fahren die größten Ölkonzerne der Welt satte Gewinne ein. Der Energie-Informationsdienst Oilandgasiq hat die zehn größten Öl- und Gaskonzerne nach dem täglichen Fördervolumen zusammengestellt. Stand: Mai 2013 Quelle: REUTERS
Platz 10: Kuwait Petroleum Corporation (KPC)Den letzten Rang unter den Top-10 Ölkonzernen der Welt erreicht der staatliche Ölförderer von Kuwait. Die Kuwait Petroleum Corporation ging aus der Anglo-Persian Oil (heute BP) und Gulf Oil (heute Chevron) hervor. Die Kuwaitis beschäftigen 15.800 Menschen und fördern 3,2 Millionen Fass Öl am Tag. Ein Fass oder Barrel entspricht rund 159 Litern. Im Golfkrieg in den 1990ern setzten irakischen Streitkräfte mehr als 700 kuwaitische Ölquellen in Brand. Quelle: PR
Platz 9: ChevronDie Wurzeln des drittgrößten Unternehmens der USA reichen bis 1879 zurück, als die Pacific Coast Oil Company gegründet wurde. Später schluckte Standard Oil das Unternehmen und nannte es SoCal. 1984 schlossen sich dann SoCal und Gulf Oil unter dem Namen Chevron zusammen. Die Kalifornier fördern 3,5 Millionen Barrel am Tag. Rund 62.000 Menschen arbeiten weltweit für den Konzern. Quelle: REUTERS
Platz 8: PemexMexiko verstaatlichte 1938 die gesamte Ölindustrie. Heute gilt der Energieriese als eines der größten Unternehmen Lateinamerikas und größter Steuerzahler Mexikos. Die 138.000 Mitarbeiter fördern 3,6 Millionen Fass Öl am Tag. Quelle: REUTERS
Platz 7: Royal Dutch Shell Der siebtgrößte Ölförderer der Welt entstand 1907 aus dem Zusammenschluss einer niederländischen und einer britischen Firma. Der weltweit bekannte Konzern setzte sich 2012 mit einer Marktkapitalisierung von 140 Milliarden Dollar an die Spitze des britischen Leitindex FTSE. Mit 87.000 Angestellten fördert der Multi 3,9 Millionen Barrel Öl am Tag. Quelle: REUTERS
Platz 6: BPAuf eine lange Historie blickt auch British Petroleum, kurz BP, zurück. Die Burmah Oil Company ging 1909 in der Anglo-Persian Oil Company auf, die später zur Anglo Iranian Oil und schließlich zu BP wurde. Einen schweren Schlag erhielt der Konzern, als eine Explosion auf der Plattform Deepwater Horizon 2010 mehrere Arbeiter töte. Das auslaufende Öl verseuchte den Golf von Mexiko und richtete eine der größten Umweltkatastrophen an. Der Konzern wurde zu Milliardenstrafen und Entschädigungen verurteilt. Weitere Prozesse laufen. BP beschäftigt 85.700 Menschen und fördert 4,1 Millionen Fass Öl am Tag. Quelle: dapd
Platz 5: PetrochinaDen fünften Rang unter den größten Energiekonzernen der Welt hat Chinas Petrochina erobert. Die Karriere des erst 1999 gegründeten Unternehmens ist steil. Der staatseigene Konzern fördert mit 550.000 Arbeitern 4,4 Millionen Barrel. Quelle: REUTERS

Knapp 6000 Bohrbrunnen haben Unternehmen seit 2005 auf diese Weise in North Dakota eröffnet. Jeder kostet bis zu zehn Millionen Dollar. Das Problem: Die Förderraten der gefrackten Felder brechen schon nach einem Jahr um bis zu 70 Prozent ein. Um den Schieferölboom am Laufen zu halten, wollen die Unternehmen weitere Brunnen bohren; mindestens 35 000 bis 2030.

Dafür haben Geologen Tausende Bohrkerne und Daten seismischer Untersuchungen analysiert, um genaue Karten der Schieferölvorkommen zu erstellen. Als Biberdorf sich 2004 durch den Stein wühlte, war er „noch blind wie ein Maulwurf“, sagt er.

Zugleich steigern die Ingenieure die Effizienz der Bohrungen: Sie bohren nicht mehr ein Loch – sondern bis zu acht Brunnen nebeneinander. Statt in einem Zug fracken sie die Felder in bis zu 30 Schritten. Das erhöht den Druck, verstärkt die Risse im Schiefergestein und lässt mehr Öl fließen. Statt einem Prozent des Öls im Gestein holen sie schon bis zu sieben Prozent aus dem Boden.

Und die Technik entwickelt sich immer weiter. Im nächsten Frühjahr wollen Forscher der Universität von North Dakota erstmals Kohlendioxid in ein gefracktes Ölfeld pumpen. Eine chemische Reaktion soll dann noch mehr von dem schwarzen Rohstoff aus dem Schiefer lösen. Die Förderraten werden also weiter steigen: Künftig könnten Unternehmen bis zu 15 Prozent des Schieferöls aus dem Boden holen, schätzt die lokale Geologiebehörde. Verglichen mit heute, wäre das doppelt so viel.

Die Sorgen der Ölkonzerne

Ölfeld in Willistion, North Dakota Quelle: Reuters

Ein zentrales Argument der Peak-Oil-Vertreter war stets, dass die Menge der förderbaren Ressourcen begrenzt sei. Genau das aber scheint der Schieferölboom in North Dakota und in anderen US-Bundesstaaten wie Texas und Kalifornien nun zu widerlegen. Denn er zeigt, wie technischer Fortschritt und hohe Ölpreise immer neue Reserven zugänglich machen: So kostet es zwischen 35 und 70 Dollar, ein Barrel Öl in North Dakota aus dem Boden zu holen. Vor zehn Jahren wäre das ein Verlustgeschäft gewesen. Beim Ölpreis von aktuell rund 110 Dollar aber bringt die Förderung gigantische Gewinne.

Genauso verhält es sich mit den Teersanden in Kanada, die allein schon in der Lage wären, die abnehmenden Förderraten aus konventionellen Feldern für viele Jahre auszugleichen. Ebenso könnte der hohe Ölpreis demnächst große Schwerölvorkommen in Venezuelas rohstoffreicher Orinoco-Region rentabel machen.

Und nun stellt sich heraus: Auch China, Russland und Argentinien besitzen laut einer Studie des US-Thinktanks IHS Global Insight mehr als 250 Milliarden Fass Schieferöl, das sich künftig rentabel fördern lässt. Ein gigantischer Schatz.

Doch so groß die Euphorie sein mag, so groß sind die Probleme auf traditionellen Feldern. Viele Unternehmen kämpfen mit dem Rückgang ihrer Förderquoten: vor allem Ölmultis wie ExxonMobil, Shell und BP. Diese Supermajors genannten Konzerne waren lange Innovationstreiber. Doch unter den größten Förderern in North Dakota findet sich keiner der Giganten. Sie suchen ihre Zukunft lieber in schwer zugänglichen Ölfeldern unter dem Meer.

So bekam kürzlich ein Konsortium aus Shell, Total und staatlichen Unternehmen aus China und Brasilien den Zuschlag für eines der kompliziertesten Ölprojekte der Gegenwart: Sie wollen ein als Campo de Libra bekanntes Ölfeld mehr als 200 Kilometer vor der Küste des brasilianischen Bundesstaates Rio de Janeiro ausbeuten.

Dort liegen die größten in den vergangenen Jahren entdeckten Ölfelder. Das Problem: Sie lagern bis zu sieben Kilometer unter der Wasseroberfläche, und sie sind von einer mehr als 1000 Meter dicken Salzschicht bedeckt. Um diese Kruste zu durchbrechen, müssen die Unternehmen neue Bohrer entwickeln, die höhere Temperaturen und Drücke aushalten. Frackingverfahren, wie sie derzeit schon in North Dakota funktionieren, könnten anschließend helfen, das Öl zu fördern. Doch trotz aller Innovationen bringt der Rohstoffboom auf dem Meer die Technik an ihre Grenzen.

Wie aufwendig es ist, Offshore-Ölvorkommen zu erschließen, zeigt das Feld Kaschagan vor Kasachstan im Kaspischen Meer. Seit Forscher das Öl 2000 aufspürten, haben Unternehmen wie ExxonMobil, Shell, Total und Eni knapp 50 Milliarden Dollar investiert, um dort künftig fördern zu können. Doch immer wieder behinderten Pannen die Arbeit. Erst vor wenigen Tagen zerfraß Schwefelwasserstoff, der mit dem Öl an die Oberfläche tritt, eine Pipeline. Nun liegt das Prestigeprojekt erneut für Monate auf Eis.

Irgendwann aber soll Kaschagan 1,5 Millionen Fass Öl pro Tag an die Oberfläche spülen, so viel wie Campo de Libra in Brasilien. Eine solche Menge sollen bald auch die mehr als 40 000 Ölbrunnen in North Dakota produzieren. Die Hoffnungen sind groß: Schon 2015 könnten zehn Prozent der Ölförderung aus den Tiefen der Ozeane kommen.

Doch das birgt enorme Risiken, wie die Havarie der Ölplattform Deepwater Horizon 2010 im Golf von Mexiko belegt. Ein Defekt in der Mechanik reichte – und 800 Millionen Liter Öl flossen ins Meer. Das zeigt: Weil Unternehmen und Ingenieure die Grenzen der Ölförderung immer weiter verschieben, nehmen sie auch immer höhere Risiken und Gefahren für die Umwelt in Kauf.

Sparsame Industriestaaten

Öl-Pipelines der «Strategic Petroleum Reserve» (SPR) in Bryan Mound nahe Freeport, Texas - eines der vier US-Zentren mit strategischen Ölreserven. Quelle: dpa

Aber lohnt sich das Risiko? Verzögern die Ölbrunnen in der US-Prärie und die eisernen Giganten auf hoher See nicht nur das Unvermeidliche: dass der Bedarf an Öl einer wachsenden Wirtschaft und von weltweit künftig neun Milliarden Menschen das Angebot zwangsläufig übersteigen wird?

Manche Experten glauben inzwischen sogar, dass das Gegenteil der Fall ist. Möglicherweise erlischt der Durst der Menschheit nach Öl, noch bevor ihr der Rohstoff selbst ausgeht. Diese Idee wird derzeit als Theorie des „Peak Demand“ diskutiert, dem Höhepunkt der Ölnachfrage. Überraschenderweise gehören zu den Vertretern der Theorie selbst Analysten großer Energiekonzerne.

Erst im Frühjahr errechneten Angestellte von Shell, dass der weltweite Ölverbrauch im Verkehrssektor nach 2035 sinken wird. Dann, so die Prognose, leben rund zwei Milliarden mehr Menschen in Städten als heute. Die aber fahren weniger Auto, legen kürzere Strecken zurück und nutzen öfter Bus und Bahn. Shell schätzt, dass Städter jährlich 2000 Kilometer weniger Auto fahren als ihre Mitbürger auf dem Land. Das – und der Einsatz von Erdgas- und Elektrofahrzeugen – senke die Nachfrage nach Öl erheblich.

Und tatsächlich sinkt der Öldurst in Industrienationen seit Jahren. Deutschland verbraucht heute rund 20 Prozent weniger Benzin, Diesel und Heizöl als vor 15 Jahren – trotz einer weiter wachsenden Wirtschaft.

Aber auch in den Schwellenländern gibt es Anzeichen für eine Abkehr vom Öl.

Wegen der katastrophalen Luft in Peking hat etwa Chinas Regierung kürzlich beschlossen, dass bald jedes zweite Auto in der Stadt ab 2017 zumindest teilweise elektrisch fahren muss. Auch in anderen chinesischen Megastädten gelten solche Regeln.

Und noch ein Trend könnte Peak Demand beschleunigen: Will die Staatengemeinschaft das Klima schützen und die Erderwärmung auf zwei Grad begrenzen, müsste der Ölverbrauch bis 2035 um 15 Prozent sinken. Elektroantriebe in Autos, Bioplastik, weniger Dünger auf den Äckern und Erdgas für Personenwagen, Trucks und Schiffe könnten den Ölverbrauch senken.

Was aber passiert, wenn der Durst nach dem schwarzen Energieträger trotz aller Effizienzgewinne und trotz der Warnungen vor einem zerstörerischen Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten weiter wächst?

Zwar können laut der Internationalen Energieagentur Ölersatzstoffe aus der Erdgasförderung – zusammen mit den Vorkommen in Schiefer, Teersanden und im Meer – den Rückgang der Förderung aus konventionellen Feldern bis nach 2035 mehr als ausgleichen.

Sollte die Ölproduktion aber auch danach weiter wachsen, müssen die Forscher gänzlich unkonventionelle Wege gehen: Genau das versucht derzeit eine Handvoll Unternehmen am Fuße der Rocky Mountains in den USA. Sie haben es auf den sogenannten Ölschiefer abgesehen – schwarzes Gestein, das brennt, wenn man ein Feuerzeug daneben entzündet. Der Schiefer enthält einen Stoff namens Kerogen, der zu Urzeiten aus Pflanzenresten und Plankton entstanden ist. Tief im Gestein wird er unter Druck nach Millionen von Jahren zu Öl. Doch nicht überall ist dieser Prozess schon abgeschlossen. Die größten Reserven dieses Möchtegern-Öls lagern in einer geologischen Formation unter den US-Bundesstaaten Colorado, Utah und Wyoming. Würde es gelingen, dieses Kerogen abzubauen, entstünde hier das größte Ölfeld der Welt. Experten schätzen sein Potenzial auf rund eine Billion Fass. Sogar Saudi-Arabien sähe dagegen aus wie ein Junior-Player: Das Land verfügt nur über ein Viertel der Reserven.

Öl aus dem Boden kochen

Das Geschäft mit Ölersatzstoffen aus der Erdgasförderung boomt. Quelle: Reuters

Wie aber fördert man Öl, das keines ist? Einer, der nach Antworten sucht, ist Roger Day. Der 63-jährige Ingenieur ist schlaksig, fast zwei Meter groß, trägt Jeans und einen weißen Helm. Day arbeitet für American Shale Oil (Amso), ein Unternehmen, an dem unter anderem der französische Ölmulti Total beteiligt ist.

Day und seine zwölf Mitarbeiter haben mitten in Colorados steinigem Hinterland eine Testanlage aufgebaut: Zahlreiche Container mit Laboren und Computern stehen hier und zwei Bohrtürme, über denen US-Flaggen wehen. Ansonsten gibt es in 80 Kilometer Umkreis nur Geröll und geduckte Kiefern.

Wie das Kerogen nach oben kommen soll, weiß Day schon: Er will es aus dem Stein herauskochen. In rund 650 Meter Tiefe sollen Dutzende Rohre auf einer Fläche von mindestens zweieinhalb Quadratkilometern eine Art riesige Fußbodenheizung bilden.

Durch die eine Hälfte dieser Rohre will Day 500 Grad heißen Dampf einer Spezialflüssigkeit pumpen. Die Hitze soll binnen drei Wochen das Kerogen in Öldampf umwandeln. „Das, wofür die Natur Jahrmillionen brauchte, versuchen wir hier im Zeitraffer nachzustellen“, sagt er. Und weil sich die Substanz im gasförmigen Zustand ausdehnt, reicht der Druck, damit es durch ein zweites Rohrnetz nach oben steigt.

Investitionen in Öl- und Gasfelder in Milliarden Dollar. Klicken Sie hier, um die Grafik zu vergrößern!

Dort sollen Ingenieure den Öldampf verflüssigen und reinigen. Das Erdgas, das mit dem Öl nach oben steigt, treibt wiederum ein Kraftwerk an, das den Dampf produziert. Energie von außen wäre also unnötig. Schon 25 dieser Anlagen könnten laut Amso einen Markt wie Deutschland 30 Jahre lang mit Öl versorgen. Die Technik könnte zudem Kerogenvorkommen in Jordanien, Israel, Marokko und Australien erschließen.

Von diesem Ziel ist Roger Day in der Einöde von Colorado aber „noch zehn Jahre“ entfernt, wie er sagt. Zwar sind schon zwei Brunnen seiner Bodenheizung gebohrt. Bislang aber kämpft er mit dem Material. Die ersten Rohre hielten der Hitze nicht stand. Der Druck unter der Erde zerquetschte das warme Metall wie Cola-Dosen. Day entwickelte daher mit Materialexperten neue Stahllegierungen, die den Belastungen über Jahre standhalten sollen. Funktioniert das System, hofft er, Öl zu Kosten von 40 bis 80 Dollar pro Barrel fördern zu können.

Einige Unternehmen aber halten diese Rechnung für zu optimistisch. Shell etwa gab vor wenigen Wochen sein Kerogenprojekt gleich neben dem Amso-Testgelände auf, wo die Europäer leichter zugängliches Kerogen rund 300 Meter unter der Oberfläche fördern wollten. Der technische Aufwand, um das Grundwasser nicht zu gefährden, erwies sich für Shell als zu hoch.

Andernorts kratzen Unternehmen den Ölschiefer dagegen schon von der Oberfläche. Die staatliche Ölgesellschaft Enefit in Estland etwa fördert Kerogen im Tagebau. Riesige Bagger bauen es oberirdisch ab. Dann wird es in Kraftwerken erhitzt, und übrig bleiben Öl und Asche. Jetzt bemüht sich Enefit in Utah um Fördergenehmigungen für Vorkommen nahe der Oberfläche.

Die Kerogenvorkommen in den USA als wohl letzte Grenze der Ölförderung sind damit auch Blaupause für die Zukunft des schwarzen Rohstoffs als Ganzes. Christof Rühl, Chefökonom bei BP, bringt es auf den Punkt: „Alles lässt sich in Öl verwandeln. Man muss nur bereit sein, den ökonomischen und ökologischen Preis zu zahlen.“

Peak Oil, so viel ist inzwischen klar, ist technisch gesehen noch lange hin. Die Frage ist, wie lange es sich noch rechnet, das Ende des Ölzeitalters zu verzögern.

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