Am Ende hatten sich die Demütigungen, die E.On-Manager in Moskau über sich hatten ergehen lassen, doch gelohnt. Über Monate hinweg mussten sie trotz vereinbarter Termine immer wieder über Stunden vor laufenden Fernsehkameras im Vorraum der Chefbüros in der Gazprom-Zentrale warten – mitunter sogar unverrichteter Dinge wieder abreisen. Doch schließlich kam der Durchbruch.
Nach zwei Jahren zäher Verhandlungen veröffentlichte der Gasversorger E.On Ruhrgas Anfang Juli eine Mitteilung, die die gesamte deutsche Industrie aufhorchen ließ: Gasexporteur Gazprom hatte mit den deutschen Unterhändlern bestehende Lieferverträge neu austariert. In den starren Strukturen des Gasmarktes war das eine Revolution: Jetzt weichen die Unternehmen die Ölpreisbindung langfristiger Gaslieferverträge auf. Künftig sollen die Preise auf die Entwicklung der Gasbörsen reagieren, flexibel, wie es sich für einen funktionierenden Markt gehört.
Den gab es bislang im Gassektor nicht. Einmal verhandelt, zahlten Konzerne wie E.On oder RWE Jahrzehnte einen an den Ölpreis gekoppelten Tarif. Doch sie bleiben immer öfter auf ihrem russischem Pipeline-Gas sitzen. Denn Stadtwerke, Unternehmen und Kraftwerksbetreiber setzen zunehmend auf das bis zu 40 Prozent billigere, mit dem Schiff nach Europa transportierte Flüssigerdgas, das auch aus Schiefergas-Förderung stammt.
Billiger als Kernkraft
In einigen Jahren könnte die Ölpreisbindung komplett fallen. Davon würden auch die Endkunden profitieren, weil die Versorger Spielraum hätten, ihre Preise zu senken, sagt der Hamburger Kartellrechtler Lutz Becker von der Kanzlei Corinius.
Der Gasboom führt aber nicht nur zu sinkenden Preisen, sondern auch zu Finanzierungsproblemen in der Energiewirtschaft. In den USA ist der Gaspreis mittlerweile so niedrig, dass die Konzerne ihre Milliardeninvestitionen für die Schiefergas-Förderung nicht mehr reinholen können.
ExxonMobil kaufte erst vor zwei Jahren für 35 Milliarden Dollar das größte US-Schiefergas-Unternehmen XTO Energy. Inzwischen erzielt Exxon sogar die Hälfte seines Umsatzes mit Erdgas. Doch wegen des in den USA stark gesunkenen Gaspreises ging der Gewinn des Konzerns im zweiten Quartal 2012 im Vorjahresvergleich um 21 Prozent zurück.
Daher sind Schiefergas-Förderer wie ExxonMobil dazu verdammt, Gas aus den USA exportieren. Auf diese veränderte Situation stellen sich die deutschen Konzerne mit einer neuen Struktur ein: So planen auch E.On, RWE und der EnBW eigene Geschäftseinheiten für LNG aufzubauen.
Daneben werden auf einmal zig Unternehmen wichtig, die bislang kaum eine Rolle für die Energiewirtschaft spielten: nicht nur Chemiekonzerne wie BASF, die Fracking-Flüssigkeiten herstellen. Vor allem die Produzenten von Weiterverarbeitungsfabriken und Kühlungssystemen wie Linde sind gefragt, ebenso Schiffbauer wie die Meyer Werft, die Gastanker bauen, und Reeder, die sie betreiben. Eine Förderung von Schiefergas in deutschem Boden sehen viele hiesige Energiemanager indes kritisch: Sie glauben nicht, dass diese durchsetzbar sei. Allein ExxonMobil wagt es und sucht in Deutschland nach Reserven.
Ob Deutschland nun dabei ist oder nicht: Ab 2020 wird die Schiefergas-Förderung in Europa zulegen, schätzt A.T. Kearney-Experte Kurt Oswald: auf 30 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2035. Er sieht vor allem Potenzial in Ländern wie Großbritannien und der Ukraine. Oswald glaubt, dass 2035 rund fünf Prozent der europäischen Nachfrage aus heimischen Schiefergas-Reserven gedeckt werden.
Jeffrey Immelt ist überzeugt davon, dass das Gaszeitalter begonnen hat: Der Chef des US-Konzerns General Electric prognostizierte vorige Woche: „Erdgas und Wind“ stünden bei der Energieversorgung der Zukunft im Vordergrund. „Atomstrom lässt sich nur noch schwer rechtfertigen, sehr schwer. Erdgas ist momentan so billig. Irgendwann kann man die wirtschaftliche Seite einfach nicht mehr ignorieren.“