Energie Gas ist das neue Öl

Neu entdeckte Gasreserven verändern die Energiemärkte. Sie sorgen für eine Renaissance der Industrie, schaffen Jobs – und schüren die Angst vor Umweltschäden. Beginnt nun das Gaszeitalter?

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Leuchtende Hoffnung - Schiefergas-Bohrung im US- Bundesstaat Pennsylvania Quelle: Laif

Von Sebastian Matthes, Dieter Dürand, Hans Jakob Ginsburg, Angela Hennersdorf, Benjamin Reuter, Andreas Wildhagen und Florian Willershausen.

Vielleicht werden Historiker eines Tages als Revolution bezeichnen, was gerade in den USA passiert; ähnlich bedeutsam wie die Zeit vor 150 Jahren, als die ersten Glücksritter im Westen Amerikas anfingen, nach Öl zu bohren. Nur geht es diesmal um Gas. Für Louisiana und seinen Gouverneur Piyush Jindal ist es jetzt schon eine große Sache: „Ich verkünde heute die größte Investition in der Geschichte unseres Bundesstaates“, jubelt er in die Reporter-Mikrofone. „Bis zu zehn Milliarden Dollar“ werde das südafrikanische Unternehmen Sasol investieren, sagt er und hält inne, damit es auch jeder kapiert: „nicht zehn Millionen“. Damit könnten in dem wirtschaftlich schwachen Bundesstaat 5.000 Arbeitsplätze entstehen.

Was den Gouverneur so begeistert, ist ein beachtliches Industrieprojekt: Sasol will eine Fabrik bauen, die massenhaft neu entdecktes amerikanisches Gas in eine Art Öl umwandelt. Vor den Toren der Kleinstadt Lake Charles soll das Werk täglich über elf Millionen Liter Rohstoffe für die Chemieindustrie sowie Diesel und Kerosin herstellen.

Amerikas neue Unabhängigkeit

Das Wichtigste sagt der Gouverneur aber erst ganz am Ende: Das Projekt senke die Abhängigkeit von Ölimporten. Das ist der wunde Punkt der Amerikaner, weil die eigenen Reserven aufgebraucht schienen, hingen sie am Öltropf instabiler Regionen.

Das, so hoffen sie, ist vorbei. Denn Geologen haben daheim gigantische, in Schiefergestein eingeschlossene Gasreserven entdeckt. Dank neuer Techniken sind Unternehmen nun in der Lage, diese unkonventionellen Vorkommen zu fördern – und das Gas als Ölersatz zu nutzen.

Weltweit lagern riesige Mengen Erdgas in schwierig zu erreichenden Gesteinsschichten. Neue Fördertechniken ermöglichen es jetzt, sie wirtschaftlich zu erschließen.

Die Folge ist ein landesweiter Gasrausch. Ein Drittel der US-Gasversorgung stammt bereits aus Schieferfeldern, und das zusätzliche Angebot hat Energie enorm verbilligt: Der Preis für eine Million BTU (British Thermal Unit) – die Verrechnungseinheit entspricht 26,4 Kubikmeter Gas – liegt in den USA bei drei Dollar. Die gleiche Menge notiert in Großbritannien bei rund acht Dollar, in Japan sogar bei über 15 Dollar.

Damit kostet Erdgas in den USA nur ein Viertel so viel wie Öl: Umgerechnet auf den Energiegehalt, dürfte ein Barrel Öl (159 Liter) statt aktuell rund 100 nur 22 Dollar kosten, um preislich mit dem Gas gleichzuziehen.

"Energiewende preiswerter zu haben"

Warum die Energiepreise steigen
Euroscheine stecken an einer Steckdose Quelle: dpa
Logos der vier großen Engergiekonzerne EnBW (l, oben), RWE (r, oben), Vattenfall (l, unten) und Eon (r, unten) Quelle: dpa
Ölpumpen stehen im Sonnenuntergang auf einem Ölfeld bei Los Angeles Quelle: dpa
Bild einer Raffinerie auf einem Bildschirm der Firma Gazprom Quelle: REUTERS
Ein Mitarbeiter eines Heizöllieferanten bereitet die Betankung eines Mehrfamilienhauses mit Heizöl vor Quelle: dpa
Ein Tankwagenfahrer beliefert einen Privathaushalt mit Heizöl Quelle: AP
Ein Monteur verkabelt einen Strommast Quelle: dapd

Schon ist die Rede davon, dass die Schwerindustrie wegen der sinkenden Energiepreise neue Anlagen in den USA baut. Diese Entwicklung beobachten auch Europäer und Asiaten mit Interesse: Bei ihnen steigen die Energiepreise beharrlich; und so hoffen sie auf eine Trendwende, wenn große Schiefergas-Vorkommen aus den USA, China und Argentinien sowie kleinere aus Europa auf den Markt kommen.

Die sinkenden Energiepreise helfen der Konjunktur: Den USA prophezeien Analysten der Schweizer UBS etwa einen halben Prozentpunkt zusätzliches Wachstum – jedes Jahr. Und weltweit würden bis 2035 knapp 2,8 Billionen Dollar in die Förderung von schwer abzubauendem Erdgas aus Schiefergestein investiert, schätzen die Experten der Internationalen Energieagentur (IEA). Für sie hat das „goldenen Gaszeitalter“ daher längst begonnen.

Übersicht zur regionalen Verteilung der Erdgas-Reserven (zum Vergrößern bitte Bild anklicken)

Davon könnte auch Europa profitieren: A.T. Kearney-Energieexperte Kurt Oswald erwartet, dass der Gaspreis hier zunächst zwar weiter steigt – ab 2015 aber um bis zu 60 Prozent einbrechen wird. Grund dafür sei ein absehbares Gasüberangebot auf dem Weltmarkt. Wie sehr das auch Privathaushalte entlastet, darüber wagt Oswald keine Prognose.

Auf jeden Fall würde billigeres Gas die Folgen der Energiewende lindern: Fotovoltaik und Windkraft könnten länger ausreifen und dann eingesetzt werden, wenn sie Strom kostengünstiger erzeugen als heute, findet der Energieexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Manuel Frondel: „Die Energiewende wäre dadurch preiswerter zu haben.“

Zieht Europa nach?

Ob auch Europa massenhaft unkonventionelles Gas fördern wird, ist indes fraglich. In Polen – wo Experten große Vorräte vermutet hatten – verliefen erste Probebohrungen enttäuschend. Und längst nicht alle Menschen sind begeistert vom großen Gasrausch. Nach Protesten in Deutschland, Frankreich und Rumänien stockt die Exploration in vielen Ländern. Um nämlich an die Reserven zu gelangen, müssen Unternehmen Millionen Liter mit teils giftigen Chemikalien versetztes Wasser in die Erde pumpen. Das macht vielen Angst.

Welche Folgen der Gasboom für Unternehmen und Verbraucher hat, welche Sorgen berechtigt sind und ob tatsächlich nach dem Jahrhundert des Öls das Gaszeitalter anbricht, haben WirtschaftsWoche-Reporter auf den nächsten Seiten analysiert.

Vom Umwelt-Rüpel zum Klimaschützer

Klar ist, dass der Gasrausch den weltweiten Energiemarkt aus den Angeln hebt. In den USA haben sich seit 2008 die Strompreise halbiert. Aus Sorge, ihre Meiler könnten unwirtschaftlich werden, haben US-Konzerne den Bau zweier Atomreaktoren gestoppt. Ihre Alternative: billiges Gas, das auch noch die klimaschädliche Kohle aus den Kraftwerken verdrängt. Die wiederum wird von US-Unternehmen nach Europa verschifft.

Ein andere Folge des Gasbooms: Weil der Energieträger weniger CO2 verursacht, haben die Amerikaner seit 2006 so viel CO2 eingespart, wie kaum ein anderes Land.

So werden die Umwelt-Rüpel doch noch zu Klimaschützern – völlig ohne Kyoto-Protokoll und Emissionshandel.

Der Gasboom schafft Hunderttausende Jobs in den USA

Angst vor dem Bohrer - Fracking-Proteste im US-Bundesstaat in Pennsylvania Quelle: Laif

Die ersten Pachtverträge flatterten den Bauern der US-Gemeinde Amwell Township bei Pittsburgh kurz vor Weihnachten in die Briefkästen. Wenige Tage später standen Arbeiter der texanischen Öl- und Gasfirma Range Resources mit ihrer Bohrausrüstung auf den Grundstücken. Ihr Auftrag: einen Schatz zu heben, den niemand sehen, schmecken oder riechen kann: Schiefergas. Das war 2008.

Heute fressen sich in Pennsylvania 4.000 Bohrer in die Erde – Tausende sollen noch dazukommen. Amwell liegt über der Marcellus-Formation, einer Schiefergesteinsschicht, die sich unterirdisch im Nordosten der USA über 900 Kilometer durch West Virginia, Pennsylvania, Ohio und New York erstreckt. In dieser Sedimentschicht schlummern die größten Erdgasvorräte Nordamerikas. Seit Gasunternehmen diese Reserven mit neuen Fördertechniken erschließen können, ist ein wahrer Gasrausch ausgebrochen.

Das Thema Energie steht ohnehin ganz oben auf der Wahlkampfagenda von US-Präsident Barack Obama: In zehn Jahren will er sein Land weitgehend unabhängig von Energieimporten machen. Amerika soll von einem Energiekonsumenten zu einem Energieproduzenten werden – vor allem mithilfe der Schiefergas-Vorkommen. Die machen jetzt schon ein Drittel der US-Gasversorgung aus – 2035 könnte der Anteil bei 50 Prozent liegen.

Quer durchs Land erschließen Energiekonzerne wie Range Resources, Devon Energy, ExxonMobil und Shell neue Quellen. Nach Schätzungen der US-Energiebehörde EIA lagern in Amerikas Gesteinsformationen rund 24 Milliarden Barrel Schieferöl und 24 Billionen Kubikmeter Schiefergas. Diese Ressourcen könnten laut Experten bis zu 100 Jahre reichen. Zwar hat die EIA die Euphorie jüngst etwas gedämpft und ihre Schätzung der Marcellus-Reserven gesenkt. Die EIA-Mitarbeiter gehen dennoch davon aus, dass die USA in den nächsten Jahren weit mehr Gas produzieren werde, als das Land benötigt.

Gasanbieter im Test

Gesunkene Energiepreise

Derweil befeuert der Energieboom die amerikanische Wirtschaft. Mit Steuereinnahmen von jährlich zusätzlich 49 Milliarden Dollar in den nächsten drei Jahren, rechnet etwa das Beratungsunternehmen IHS Global Insight.

Denn Energie ist in den USA so billig wie seit zehn Jahren nicht. Davon profitiert besonders die Industrie. Die Experten des Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers rechnen mit einer Million neuer Fabrikjobs bis 2025. Die Strompreise sind wegen der niedrigeren Brennstoffkosten ebenfalls gesunken. Laut IHS spart ein Durchschnittshaushalt dank des preiswerten Gases 926 Dollar im Jahr. 2008 dominierte noch Kohle die US-Stromproduktion – seit vergangenem Monat jedoch ist Erdgas laut „Financial Times“ die wichtigste Energiequelle des Landes.

Skeptiker bezweifeln allerdings, dass es auf Dauer so billig bleibt. Denn um Schiefergas künftig in alle Welt verkaufen zu können, müssen die Energiekonzerne viel Geld in neue Flüssiggas-Terminals investieren. Im Jahr 2015 soll das erste große Export-Terminal fertig sein, das der US-Konzern Cheniere Energy in Cameron Parish in Louisiana am Golf von Mexiko für zehn Milliarden Dollar baut.

Daneben treiben neue Umweltgesetze die Kosten. Die Folge ist, dass sich erste Anbieter schon wieder aus dem Geschäft zurückziehen und lieber Öl fördern. Das verspricht mehr Gewinn und weniger Ärger.

Viele Gemeinden in Pennsylvania fordern einen vorläufigen Stopp aller Bohrungen aus Angst vor einer Grundwasserverseuchung. Anderswo wird weiter gefördert. Kein Wunder: Die Einnahmen aus den Pachtverträgen fließen üppig. 2010 zahlten Energieunternehmen in Pennsylvania 1,6 Milliarden Dollar an Landbesitzer, um auf deren Grund bohren zu dürfen.

Dank neuer Technologie entsteht ein Weltmarkt für Gas

Gas statt Öl - Auf Maasvlakte, eine künstliche Insel im Hafen Rotterdams, entsteht ein Verarbeitungsterminal, das Erdgas für den Transport verflüssigt Quelle: dpa

Der Energieträger Gas hat viele Konkurrenten, und die drängen sich ausgerechnet dort ins Bild, wo Westeuropas Hoffnung auf ein goldenes Erdgaszeitalter Gestalt annehmen soll: auf der künstlichen Insel Maasvlakte am westlichen Ende des riesigen Rotterdamer Hafens. Öltanker ziehen vorbei, Windräder nutzen die Nordseebrise, ein Steinkohlekraftwerk beherrscht die Silhouette am Ufer. Die Zukunft aber soll hier dem Erdgas gehören – genauer: verflüssigtem Erdgas, „Liquefied Natural Gas“ (LNG), für das die Niederländer ein riesiges Verarbeitungsterminal gebaut haben.

Erdgas hat einen immensen Vorteil: Sobald es verflüssigt ist, wird es gut transportabel. Denn durch die Umwandlung schrumpft das Volumen des Rohstoffs auf ein Sechshundertstel. Das geschieht, wenn das Gas in speziellen Anlagen auf mindestens minus 161 Grad abgekühlt wird. Das entsprechende Verfahren ist zwar seit mehr als einem Jahrhundert bekannt. Doch erst ein Technologieschub in den vergangenen Jahren hat den Prozess erheblich verfeinert und verbilligt.

Erst durch LNG sei der Gasmarkt „zu einem Weltmarkt geworden“, sagt E.On-Ruhrgas-Chef Klaus Schäfer. „Jetzt stehen alle Kontinente miteinander im Wettbewerb.“ Wurde früher Erdgas aus Texas nur in Nordamerika verkauft, sibirisches Gas in Pipelines nach Europa transportiert, kann der Energieträger jetzt mit dem Schiff quer durch die Welt dorthin gelangen, wo er am meisten Geld bringt. Und so bauen Häfen in aller Welt neue LNG-Terminals, um sich auf die geänderte Situation einzustellen.

Flüssige Fracht aus Afrika

Rotterdam zum Beispiel. Vor gut einem Jahr ging hier der erste Gastanker probeweise vor Anker; im vergangenen Herbst durfte Königin Beatrix der Niederlande das LNG-Terminal offiziell einweihen. Mitte Juli empfing der LNG-Hafen die bisher größte Lieferung: Der Tanker „LNG Port Harcourt“ legte mit einer Ladung an, die ausreichen soll, 40.000 Haushalte ein Jahr mit Gas zu versorgen. Der niederländische Versorger Eneco lässt die flüssige Fracht aus Afrika in Gas zurückverwandeln („regasifizieren“) – auch auf Maasvlakte – und speist sie ins niederländische Gasnetz ein.

Verborgener Schatz

E.On Ruhrgas – mit fünf Prozent an dem LNG-Terminal in Rotterdam beteiligt – rechnet langfristig mit einer Gesamtkapazität des Terminals von zwölf Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich oder 130 großen Tankschiffen mit LNG pro Jahr. Experten schätzen, dass der LNG-Anteil an der europäischen Gasversorgung 2030 bei 30 Prozent liegen könnte.

Denn eine wachsende Zahl von Erdgasproduzenten hat gar nicht die Möglichkeit, ihr Gas über eine Pipeline zum Kunden zu transportieren. Unter anderem sind das die Erdgasförderer in Nordamerika, die dank neuer LNG-Terminals bald zu Exporteuren werden. Zum anderen ist es das reiche Katar am Persischen Golf, das riesige konventionelle Erdgasblasen erschließt und ebenfalls auf flüssigen Export setzt. Eigentlich hatte das Emirat den US-Markt ins Auge gefasst. Doch dann fanden die Amerikaner Wege, ihre eigenen Gasreserven zu fördern. Also lenkte Katar seine Schiffe vor allem nach Japan. Dort ist die Nachfrage nach Gas kräftig gestiegen, weil die Energieversorger ihre nach dem Fukushima-Unglück abgeschalteten Atommeiler teils durch Gaskraftwerke ersetzt haben.

Weltweit sinkende Preise

Die Trennung der Märkte in der Vergangenheit erklärt, warum sich die Preise für Erdgas bislang auf den einzelnen Kontinenten oft in verschiedene Richtungen bewegten: In Westeuropa entwickelte sich der Preis in aller Regel parallel zum Weltmarktpreis für Rohöl. Doch damit ist es künftig vorbei: Denn das Erdgas von dem Schiff „LNG Port Harcourt“ hat Versorger Eneco am Londoner Spotmarkt, einer Art Gasbörse, erworben. Erdgas wird damit zum normalen Wirtschaftsgut.

Wohin sich der Preis entwickelt? Aktuell kostet Erdgas am Londoner Spotmarkt etwas mehr als acht Dollar für eine Million BTU, rund fünf Dollar mehr als in den USA. Experten erwarten daher „viel Spielraum nach unten“.

Weltweit verschieben sich die Kräfteverhältnisse

Frostige Zeiten - Ein sibirischer Arbeiter dreht auf einem Gasfeld den Hahn auf Quelle: Presse

Europas größte Schatztruhe liegt in einer geradezu lebensfeindlichen Gegend. Im Februar fällt die Temperatur im Norden Sibiriens zuverlässig unter minus 30 Grad. Der Frost treibt jeden westlichen Besucher im Minutentakt zum Aufwärmen in die Gebäude. Die Kinder der Stadt Nowy Urengoi, wo Russlands Monopolist Gazprom das Erdgas für Europa fördert, sind die eisigen Temperaturen gewöhnt. Sie bekommen erst ab minus 40 Grad kältefrei.

Noch hartgesottener geben sich die Arbeiter an den Gasfeldern – und erzählen gern folgende Legende: Ursprünglich habe Gott das Erdgas auf der ganzen Welt verteilen wollen. Aber dann froren ihm über Sibirien die Hände ein, weshalb er dort den Großteil des Gasschatzes fallen ließ.

Wirklich optimal liegen die Reserven auch für Gazprom nicht. Zwar lagern auf russischem Territorium mit etwa 47 Billionen Kubikmetern die größten Gasvorkommen weltweit, doch nur in jener Urengoi-Formation sind sie einfach zu fördern.

Seit den Siebzigerjahren bohren die Arbeiter an den Feldern, bald sind sie zu drei Vierteln leer – und dann wird die Bohrung kompliziert. Russlands nächste Reserven liegen auf der kälteren Jamal-Halbinsel weiter nördlich, sie müssen zerklüftetem Gestein drei Kilometer tief unter dem Permafrostboden abgepresst werden.

Ohne Technologiepartner aus dem Ausland, sagen Experten, kann Gazprom den Schatz nicht bergen. Mögliche Kandidaten aber zieren sich, weil die Kosten dafür bei über 100 Milliarden Dollar liegen und niemand weiß, ob es in zehn Jahren noch einen Markt für sibirisches Pipeline-Gas gibt.

Die Schiefergas-Bedrohung

Russisches Gas werde für Europa zur teuersten aller Alternativen, glaubt Frank Umbach vom Münchner Centre for European Security Strategies. Denn billigeres Flüssigerdgas überschwemmt den Weltmarkt. Gazprom-Preisstratege Sergej Komlew redet die Schiefergas-Bedrohung klein: Auf die US-Produzenten kämen so hohe Kosten zu, dass die Pläne für den Schiefergas-Export „mittel- bis langfristig ökonomisch nicht darstellbar sind“, sagte Komlew einer US-Nachrichtenagentur.

Dabei haben sich die Kräfteverhältnisse auf den weltweiten Energiemärkten längst verschoben.

Übersicht zu den Ländern mit den größten Schiefergas-Vorkommen (zum Vergrößern bitte Bild anklicken)

In Europa gewinnt Statoil zulasten von Gazprom an Marktmacht, weil die Norweger im Unterschied zu den Russen verstärkt Erdgas über die weltweiten Gasbörsen verkaufen. Peking beugt sich gar nicht erst dem russischen Preis-Diktat, sondern bezieht Erdgas direkt aus Zentralasien. Katar wiederum verschifft riesige Mengen an verflüssigtem Erdgas nach Japan, China oder Südostasien und macht dadurch russisches Gas unattraktiv. Und bald werden auch noch die USA zum Gasexporteur.

Nur die Herren im Kreml sträuben sich gegen diese Einsicht. Zu sehr hatte man sich daran gewöhnt, dass Europa stets an teuren Langfrist-Verträgen mit Gazprom interessiert war. Pipelines konnte es für die Europäer gar nicht genug geben, um Versorgungssicherheit zu erreichen.

Seit es aber den Weltmarkt für Gas gibt, wird die Waffe des Kremls stumpfer: Moskau hat nicht mehr die Marktmacht, um seine Politik durchzusetzen.

Gazprom indes hält an neuen Pipelines fest, obwohl nicht einmal die Kapazitäten für bestehende Röhren wie die Ostsee-Pipeline voll ausgenutzt sind. Dabei müsste der Konzern jetzt lernen, Gas im Wettbewerb zu verkaufen – sonst gehen bei den Gasowiki in Sibirien bald die Lichter aus.

Die deutsche Energiewirtschaft steht vor einer Zeitenwende

Das bittere Fazit aus einem Jahr Energiewende
Kühltürme des Braunkohlekraftwerkes der Vattenfall AG im brandenburgischen Jänschwalde (Spree-Neiße) Quelle: dpa
Freileitungen verlaufen in der Nähe eines Umspannwerkes bei Schwerin über Felder Quelle: dpa
Die Flagge Österreichs weht auf einem Hausdach Quelle: dpa
Ein Strommast steht neben Windkraftanlagen Quelle: AP
Windräder des Windpark BARD Offshore 1 in der Nordsee Quelle: dpa
Eine Photovoltaikanlage der Solartechnikfirma SMA Quelle: dpa
Euroscheine stecken in einem Stromverteile Quelle: dpa

Am Ende hatten sich die Demütigungen, die E.On-Manager in Moskau über sich hatten ergehen lassen, doch gelohnt. Über Monate hinweg mussten sie trotz vereinbarter Termine immer wieder über Stunden vor laufenden Fernsehkameras im Vorraum der Chefbüros in der Gazprom-Zentrale warten – mitunter sogar unverrichteter Dinge wieder abreisen. Doch schließlich kam der Durchbruch.

Nach zwei Jahren zäher Verhandlungen veröffentlichte der Gasversorger E.On Ruhrgas Anfang Juli eine Mitteilung, die die gesamte deutsche Industrie aufhorchen ließ: Gasexporteur Gazprom hatte mit den deutschen Unterhändlern bestehende Lieferverträge neu austariert. In den starren Strukturen des Gasmarktes war das eine Revolution: Jetzt weichen die Unternehmen die Ölpreisbindung langfristiger Gaslieferverträge auf. Künftig sollen die Preise auf die Entwicklung der Gasbörsen reagieren, flexibel, wie es sich für einen funktionierenden Markt gehört.

Den gab es bislang im Gassektor nicht. Einmal verhandelt, zahlten Konzerne wie E.On oder RWE Jahrzehnte einen an den Ölpreis gekoppelten Tarif. Doch sie bleiben immer öfter auf ihrem russischem Pipeline-Gas sitzen. Denn Stadtwerke, Unternehmen und Kraftwerksbetreiber setzen zunehmend auf das bis zu 40 Prozent billigere, mit dem Schiff nach Europa transportierte Flüssigerdgas, das auch aus Schiefergas-Förderung stammt.

Billiger als Kernkraft

In einigen Jahren könnte die Ölpreisbindung komplett fallen. Davon würden auch die Endkunden profitieren, weil die Versorger Spielraum hätten, ihre Preise zu senken, sagt der Hamburger Kartellrechtler Lutz Becker von der Kanzlei Corinius.

Der Gasboom führt aber nicht nur zu sinkenden Preisen, sondern auch zu Finanzierungsproblemen in der Energiewirtschaft. In den USA ist der Gaspreis mittlerweile so niedrig, dass die Konzerne ihre Milliardeninvestitionen für die Schiefergas-Förderung nicht mehr reinholen können.

ExxonMobil kaufte erst vor zwei Jahren für 35 Milliarden Dollar das größte US-Schiefergas-Unternehmen XTO Energy. Inzwischen erzielt Exxon sogar die Hälfte seines Umsatzes mit Erdgas. Doch wegen des in den USA stark gesunkenen Gaspreises ging der Gewinn des Konzerns im zweiten Quartal 2012 im Vorjahresvergleich um 21 Prozent zurück.

Daher sind Schiefergas-Förderer wie ExxonMobil dazu verdammt, Gas aus den USA exportieren. Auf diese veränderte Situation stellen sich die deutschen Konzerne mit einer neuen Struktur ein: So planen auch E.On, RWE und der EnBW eigene Geschäftseinheiten für LNG aufzubauen.

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Daneben werden auf einmal zig Unternehmen wichtig, die bislang kaum eine Rolle für die Energiewirtschaft spielten: nicht nur Chemiekonzerne wie BASF, die Fracking-Flüssigkeiten herstellen. Vor allem die Produzenten von Weiterverarbeitungsfabriken und Kühlungssystemen wie Linde sind gefragt, ebenso Schiffbauer wie die Meyer Werft, die Gastanker bauen, und Reeder, die sie betreiben. Eine Förderung von Schiefergas in deutschem Boden sehen viele hiesige Energiemanager indes kritisch: Sie glauben nicht, dass diese durchsetzbar sei. Allein ExxonMobil wagt es und sucht in Deutschland nach Reserven.

Ob Deutschland nun dabei ist oder nicht: Ab 2020 wird die Schiefergas-Förderung in Europa zulegen, schätzt A.T. Kearney-Experte Kurt Oswald: auf 30 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2035. Er sieht vor allem Potenzial in Ländern wie Großbritannien und der Ukraine. Oswald glaubt, dass 2035 rund fünf Prozent der europäischen Nachfrage aus heimischen Schiefergas-Reserven gedeckt werden.

Jeffrey Immelt ist überzeugt davon, dass das Gaszeitalter begonnen hat: Der Chef des US-Konzerns General Electric prognostizierte vorige Woche: „Erdgas und Wind“ stünden bei der Energieversorgung der Zukunft im Vordergrund. „Atomstrom lässt sich nur noch schwer rechtfertigen, sehr schwer. Erdgas ist momentan so billig. Irgendwann kann man die wirtschaftliche Seite einfach nicht mehr ignorieren.“

Welche Folgen der Gasboom für die Energiewende hat

Die neuen Gas- und Dampfturbinenkraftwerke des Kraftwerksbetreibers E.On in Irsching (Oberbayern) Quelle: dpa

Wer sich von Ingolstadt dem Dörfchen Irsching nähert, kann sich leicht an den imposanten rot-weiß gestreiften Schornsteinen orientieren, die sich 200 Meter hoch an der Donau in den Himmel recken. Es sind jedoch nicht diese Ungetüme, die das Gelände des Kraftwerksbetreibers E.On zum Anziehungspunkt für Energieexperten aus aller Welt machen. Sie interessieren sich für zwei Neubauten: In den Blöcken vier und fünf rotieren die leistungsfähigsten Gas- und Dampfturbinen (GuD) der Welt. Siemens hat sie konstruiert und gebaut.

Rund 60 Prozent des verbrannten Erdgases wandeln die Maschinen in Elektrizität um. Weltrekord. Sie verbrauchen je erzeugter Kilowattstunde (kWh) ein Drittel weniger Brennstoff als der Durchschnitt der älteren weltweit installierten GuD-Anlagen.

Doch dem Betreiber hilft die außerordentliche Effizienz wenig. Nur relativ selten wird die volle Leistung der 561 und 845 Megawatt starken Turbinen abgerufen. Gaskraftwerke laufen derzeit in Deutschland von 8760 möglichen gerade einmal 2.500 bis 3.000 Stunden im Jahr, berichten Insider. Das macht ihren Bau zum Minusgeschäft. Damit sich die Investition rechnet, müssten die Erzeuger annähernd zehn Cent je kWh erlösen. Tatsächlich erhalten sie gegenwärtig jedoch gerade einmal sechs Cent im Durchschnitt.

Übersicht zur Nachfrageentwicklung nach Gas (zum Vergrößern bitte Bild anklicken)

Die Gasschwemme wird sie aus dieser misslichen Situation nicht befreien. Denn jedes neu montierte Windrad und Fotovoltaikdach senkt wegen des Vorrangs für den grünen Strom tendenziell die Nachfrage nach Energie aus fossilen Quellen. Gas- und Kohlekraftwerke geraten immer mehr in die Rolle des Lückenbüßers.

Kohle bleibt wirtschaftlicher als Gas

Und dabei haben die Kohleverstromer die besseren Karten. Sie können die kWh mit vier Cent rund einen Cent billiger produzieren als Gaskraftwerke – und werden daher zuerst zugeschaltet, wenn Strom knapp wird. Zwar stoßen die Kohlemeiler mehr als doppelt so viel Kohlendioxid aus wie ihre Gas-Pendants. Doch die Preise der Emissionszertifikate, die die Kraftwerksbetreiber für den Ausstoß von Treibhausgasen kaufen müssen, sind mit acht Euro je Tonne CO2 im Keller. Erst ab Preisen von 20 bis 30 Euro je Tonne wären Gaskraftwerke wegen ihres geringeren CO2-Ausstoßes wirtschaftlicher als Kohlemeiler.

Selbst fallende Gaspreise würden den Kostennachteil der Gaskraftwerke nicht ausgleichen. Denn Kraftwerkskohle ist ebenfalls deutlich billiger geworden. Kostete die Tonne Anfang 2011 noch 150 Dollar auf dem Weltmarkt, ist sie jetzt schon für etwas mehr als 100 Dollar zu haben.

So geraten die Gaskraftwerke in Europa ins Hintertreffen. Statt ihrer gleichen immer häufiger die billigeren, aber schmutzigeren Kohleanlagen das schwankende Stromangebot von Wind und Sonne aus.

Und noch einen Effekt haben niedrigere Preise für Gas und Kohle. Der Zeitpunkt, an dem Wind und Sonne Elektrizität zu Kosten erzeugen können wie fossile Kraftwerke, verschiebt sich weiter in die Zukunft.

Wie teuer die Schiefergas-Förderung wirklich ist

Energiewende: Woher kommt der Strom 2020?
Ausblick Energie 2020: Konventionelle Kraftwerke
Ausblick Energie 2020: Windkraft
Ausblick Energie 2020: Geothermie
Ausblick Energie 2020: Biomasse
Ausblick Energie 2020: Wasserkraft
Ausblick Energie 2020: Fotovoltaik
Ausblick Energie 2020: Netzausbau

Es war ein kräftiger Dämpfer für die Gaseuphorie in den USA. Vergangenes Jahr veröffentlichte die „New York Times“ Dutzende E-Mails von Analysten und Gasmanagern, die sich besorgt zeigten, dass der Gasboom in einem Pleite-Tsunami enden könnte. Manche schrieben von einer Blase, vergleichbar mit der des Immobilienmarktes, die 2007 die Finanzkrise auslöste.

In einem solchen Fall wäre ein Großteil der 175 Milliarden Dollar futsch, die Konzerne, Fonds und Banken in Schiefergas-Firmen investiert haben. Ausgelöst hatte die Sorge die Beobachtung, dass die Fördermengen neuer Bohrtürme schneller abnahm als erwartet.

Per Magnus Nysveen hält diese Sorgen für unbegründet. Nysveen ist Partner der norwegischen Beratungsfirma Rystad Energy, und er beliefert Unternehmen und Banken seit Jahren mit Analysen zur Profitabilität der Schiefergas-Förderung. Er glaubt: Ein Rückgang der Produktion bei den Fördertürmen um mehr als 70 Prozent im ersten Jahr sei normal. Danach gehe die Rate aber über 20 Jahre nur noch langsam zurück. Maßstab für diese Annahme seien Förderraten älterer Bohrtürme.

Gas zum Schleuderpreis

Weil der Gasrausch in den USA aber Unmengen des Energieträgers auf den Markt brachte, brach der Preis 2008 von mehr als 13 Dollar pro eine Million BTU (Maßeinheit für Gas. 1 Million BTU entspricht 26,4 Kubikmeter Gas) dort auf weniger als zwei Dollar ein. Erst vor wenigen Tagen kletterte er wegen der Hitzewelle und der vermehrt arbeitenden Klimaanlagen wieder auf über drei Dollar. Ein dauerhaft niedriger Preis würde für die Branche zum Problem. Denn pro Turm fallen zwischen vier und elf Millionen Dollar Investitionen an. Daher brachen die Aktienkurse vieler Schiefergas-Unternehmen wie Chesapeake Energy und Devon ein.

Übersicht zur Entwicklung der globalen Gaspreise (zum Vergrößern bitte Bild anklicken)

Damit sich die Bohrung lohnt, muss der US-Gaspreis bei weit über drei Dollar liegen, einige Experten meinen gar, die Gewinnzone sei erst ab 5,5 Dollar je Million BTU erreicht. In Deutschland liegt diese Schwelle in jedem Fall höher, weil die Reserven hier schwerer zu erschließen sind. A.T. Kearney-Experte Kurt Oswald schätzt, dass die Schiefergas-Förderung in Europa erst ab einem Großhandelspreis von 11,5 Dollar je Million BTU profitabel ist. Derzeit liegt er aber weit unter zehn Dollar.

In den USA könnte der Gaspreis aber schon 2013 kräftig zulegen. Auch weil immer mehr Kraftwerke Gas statt Kohle verbrennen. Dann könnten auch die Verluste der Schiefergas-Förderer sinken.

Geologen halten Fracking und Umweltschutz für vereinbar

Eine Fracking-Pumpe auf einem Feld - Bei dem Verfahren wird ein Cocktail aus Wasser, Sand und Chemikalien in den Boden geleitet, um die Gesteinsschichten aufzubrechen Quelle: dpa

Wenn der Farmer John Fenton – Cowboyhut und Baumfällerhemd – in Pavillion im US-Staat Wyoming auf seiner Terrasse sitzt, blickt er auf das, was ihm am meisten Sorgen bereitet: Vor einer Hügelkette stehen zwei graue Metallbehälter auf der Wiese. Sie sind so hoch wie Fentons Holzhaus und voll mit Fracking-Flüssigkeit für 24 Bohrtürme, die das Unternehmen Encana im Umkreis betreibt. In dem Gemisch, das in die Erde gepresst wird, um die Schiefergesteinsschichten aufzubrechen, findet sich unter 20 teils giftigen Chemikalien auch krebserregendes Benzol.

Vergangenes Jahr rückten Wissenschaftler der US-Umweltbehörde EPA in dem Ort Pavillion an und stellten neben explosivem Methangas auch gesundheitsschädliche Chemikalien im Grundwasser fest. Dennoch beharren Vertreter der Gasindustrie darauf, dass Fracking nicht gefährlicher sei als die herkömmliche Erdgasförderung. Nach 20.000 Fracks in den USA habe es nur knapp 40 Beschwerden wegen verschmutzten Grundwassers gegeben. Eine ordentliche Bilanz, attestierten Forscher der Eliteuni MIT. Wie aber kam das Fracking-Gift ins Grundwasser? Experten vermuten, dass die Chemie aus undichten Auffangbecken oder Förderrohren gesickert ist. Möglicherweise drang die Flüssigkeit aber auch durch die nur 500 Meter dicke poröse Gesteinsschicht nach oben, die zwischen Grundwasser und Gasfeld liegt.

Die Risiken des "Frackens"

Normalerweise trennt bei Schiefergas-Feldern dichtes Gestein von mehr als 1.000 Meter Wasser und Gas voneinander. Dass Chemikalien durch diese unter hohem Druck stehende Barriere in Richtung Grundwasser gelangen, halten Geologen für ausgeschlossen. Gefährlich ist weniger das Fracken selbst, sondern Unfälle und falsche Berechnungen – etwa die Frage, ob das Gestein tatsächlich undurchlässig ist. „Solange sich die Unternehmen an die Sicherheitsregeln halten, sind Fracking und Umweltschutz vereinbar“, urteilt Stefan Ladage von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe.

Um die Risiken zu minimieren, entwickelt die Gasindustrie saubere Fracking-Techniken. Der österreichische Energiekonzern OMV und der US-Multi Halliburton arbeiten an einer Fracking-Flüssigkeit aus Wasser, Quarzsand und Maisstärke. Um die Verträglichkeit zu zeigen, trank Halliburton-Chef Dave Lesar bei einer Konferenz gar einen Schluck des Gebräus.

Bleibt das Klimaproblem. US-Wissenschaftler streiten derzeit heftig darüber, wie klimaschädlich die Schiefergas-Förderung wirklich ist. Fest steht: Mit herkömmlichen Verfahren gefördertes Erdgas verursacht beim Verbrennen 50 Prozent weniger klimaschädliches Kohlendioxid (CO2) als Kohle und ein Drittel weniger als Öl. Für Schiefergas ist die Rechnung komplizierter.

Streitpunkt der Forscher ist, wie viel des Treibhausgases Methan – der Hauptbestandteil von Erdgas – beim Fracken in die Atmosphäre gelangt. Einige nehmen an, Schiefergas sei doppelt so klimaschädlich wie Kohle, weil während der Förderung massenhaft Methan durch undichte Bohrrohre austrete. Erst 2015 ist Abhilfe in Sicht: Dann sind die Unternehmen verpflichtet, ihre Bohrtürme mit Dichtungen und Auffangbehältern nachzurüsten.

Das billige Gas belebt die gesamte Industrie

Kuriose Folgen der Energiewende
Schwierige Löschung von Windrad-BrändenDie schmalen, hohen Windmasten sind bei einem Brand kaum zu löschen. Deshalb lassen Feuerwehrleute sie meist kontrolliert ausbrennen – wie im April in Neukirchen bei Heiligenhafen (Schleswig-Holstein). Quelle: dpa
Tiefflughöhe steigtDie Bundeswehr hat die Höhe bei nächtlichen Tiefflügen angepasst. Wegen Windradmasten kann die Tiefflughöhe bei Bedarf um 100 Meter angehoben werden. Der Bundesverband Windenergie (BWE) begrüßt, dass dadurch Bauhöhen von bis zu 220 Meter realisiert werden können. Die Höhe des derzeit höchsten Windradtyps liegt bei etwa 200 Metern. Quelle: dpa
Dieselverbrauch durch WindräderViele neue Windkraftanlagen entstehen – ohne ans Netz angeschlossen zu sein. Solange der Netzausbau hinterherhinkt, erzeugen die Windräder keine Energie, sondern verbrauchen welche. Um die sensible Technik am Laufen zu halten, müssen Windräder bis zu ihrem Netzanschluss mit Diesel betrieben werden. Das plant etwa RWE bei seinem im noch im Bau befindlichen Offshore-Windpark „Nordsee Ost“. Quelle: AP
Stromschläge für FeuerwehrleuteSolarzellen lassen sich meist nicht komplett ausschalten. Solange Licht auf sie fällt, produzieren sie auch Strom. Bei einem Brand droht Feuerwehrleuten ein Stromschlag, wenn sie ihren Wasserstrahl auf beschädigte Solarzellen oder Kabel halten. Diese Gefahr droht nicht, wenn die Feuerwehrleute aus sicherer Entfernung den Wasserstrahl auf ein Haus richten – aber, wenn sie dabei ins Haus oder aufs Dach gehen. Stromschlagsgefahr gibt es ebenso für Feuerwehrleute, wenn sie nach einem Straßenunfall Personen aus einem beschädigten Elektroauto bergen müssen. Quelle: AP
Störende SchattenWindräder werfen Schatten – manche Anwohner sehen darin eine „unzumutbare optische Bedrängung“, wie es das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ausdrückte. Es gab einer Klage recht, die gegen ein Windrad in Bochum gerichtet war. Im Februar wies das Bundesverwaltungsgericht die Revision des Investors ab. Das Windrad wird nun gesprengt. Quelle: dpa
Gestörte NavigationAuf hoher See wird es voll. Windparks steigern nicht nur das Kollisionsrisiko mit Schiffen. Die Rotoren stören auch das Radarsystem. Der Deutsche Nautische Verein schlägt daher vor, dass Windparks nur genehmigt werden, wenn die Betreiber auch neue Radaranlagen an den Masten installieren. Quelle: dapd
Windrad-LärmWindräder drehen sich nicht nur, dabei machen sie auch Geräusche. Je stärker der Wind, desto lauter das Windrad – und das wollen viele Bürgerinitiativen nicht hinnehmen. Ein Beschwerdeführer aus dem westfälischen Warendorf erreichte im September 2011 vorm Verwaltungsgericht Münster zumindest, dass eine Windkraftanlage nachts zwischen 22 und 6 Uhr abgeschaltet wird. Quelle: dpa

Die niedrigen Gaspreise freuen nicht nur amerikanische Hausbesitzer. Auch die Industrie steht in den Vereinigten Staaten vor einer unerwarteten Renaissance. Vor allem Chemieunternehmen brauchen viel Wärme und Strom. Die niedrigen Energiekosten haben dazu geführt, dass viele von ihnen in den USA wieder wettbewerbsfähig produzieren können. So investiert etwa der US-Konzern Dow Chemical Milliarden in neue Chemieanlagen in Nordamerika.

Zig Studien regen sogar an, dass die USA generell weniger im Ausland produzieren sollten, weil es dank des Gasbooms zu Hause billiger sei, die Lieferketten einfacher würden und neue Jobs entstünden.

Dabei wollen deutsche Wettbewerber nicht nur zusehen. Der Chemieriese BASF aus Ludwigshafen etwa plant eine neue Fabrik im Süden der USA in Louisiana. Von 2014 an wollen die Deutschen dort auch Spezialchemikalien für die Schiefergas-Förderung herstellen. Auch Wacker Chemie investiert 1,8 Milliarden Dollar in eine erste Fertigungsanlage in den USA: Im US-Bundesstaat Tennessee will das Unternehmen ab 2013 Polysilizium für Fotovoltaikanlagen produzieren.

Sparsamer als der Diesel

Gravierend sind die Auswirkungen des Gasbooms auf den Verkehr. Unternehmen rüsten bereits Lastwagenflotten, Dieselloks und sogar Containerschiffe auf Erdgasantrieb um. Allein die Zahl der gasbetriebenen Autos ist in den USA sprunghaft von nahe null auf 110.000 angestiegen. In Deutschland sind derzeit rund 90.000 gasbetriebene Pkws unterwegs. Doch die Bundesregierung plant, die Zahl von Gasfahrzeugen in Deutschland bis 2020 auf 1,4 Millionen zu steigern.

Übersicht zu den Ländern mit den meisten Erdgasautos (zum Vergrößern bitte Bild anklicken)

Die Autohersteller richten sich darauf ein: Audi will 2013 mit einem gasbetriebenen A3 beweisen, dass der Gasantrieb kein eingeschränktes Fahrvergnügen bedeutet. Der Preis soll zwischen 2500 und 4000 Euro über vergleichbaren Benzinern liegen. Das Geld holen Vielfahrer schon nach 30 000 Kilometern wieder rein, weil Gas nur halb so teuer ist wie Benzin. Der Mobilitätsforscher Ferdinand Dudenhöffer von der Uni Duisburg-Essen hält Erdgas „für die einzige Technologie, die zu geringen Kosten die CO2-Emmisionen im Verkehr reduzieren kann“.

Ebenso soll Gas künftig Wolkenkratzer oder ganze Dörfer autark mit Strom und Wärme versorgen. In dem 310 Meter hohen – gerade eröffneten – Londoner Shard Tower ist das bereits Realität: Ein Blockheizkraftwerk der österreichischen General-Electric-Tochter Jenbacher versorgt sämtliche Büros und Wohnungen mit Energie. Sogar ganze Dörfer machen sich mit Gasmotoren vom Netz unabhängig. Im österreichischen Güssing produzieren die Bewohner ihr Gas mit Holzabfällen selbst.

Auch hier hat das Gaszeitalter längst begonnen.

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