Zwei, drei Monate dauerte es, bis der Tsunami vor der Ostküste Japans auch ein paar abgeschiedene Pazifikinseln erreichte und tonnenweise Plastikmüll auf die weißen Sandstrände spülte. Sogar Teile von zerstörten Fischerbooten, Fernseher und Kühlschränke schwemmten an die Küste: Mahnmale einer regional begrenzten Katastrophe, die in ihrer Mischung aus spektakulärem Naturereignis (Flutwelle) und multimedial verbreitetem Zivilisationsunfall (Nukleardebakel) nicht nur weltweit für Erschütterung sorgte – sondern auch globale Dauerfolgen auslöste.
Und während sich in Japan Tausende Menschen fragen, ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können, wird seitdem in vielen Ländern über die Kernkraft an sich debattiert: Ist die Nutzung der Technik wegen ihrer Unbeherrschbarkeit verantwortungslos? Ein preiswerter Garant für mehr Wachstum? Oder eine klimafreundliche Brückentechnologie ins grüne Zeitalter?
Grüne Lückenfüller
Deutschland hat seine Antwort gefunden und sich infolge der Katastrophe mit der Energiewende in das größte industriepolitische Wagnis seiner Geschichte gestürzt: 2022 soll nach dem Willen der Politik der letzte Atommeiler vom Netz gehen.
Dabei trägt die Kernkraft immer noch 18 Prozent zur Stromversorgung bei. Diese Lücke sollen grüner Strom, ein effizienterer Umgang mit Energie und neue, moderne Gaskraftwerke schließen. Der Plan ist nicht unrealistisch, bedeutet aber einen Komplettumbau der Energieversorgung, mit Folgen für alle – für Verbraucher, Unternehmen und die Menschen in unseren Nachbarländern. Denn das Unglück von Fukushima hat auch das Gefüge der europäischen Energieversorgung durcheinandergebracht.
Der langjährige Stromexporteur Deutschland könne künftig öfter Importeur werden, warnen Kritiker. Exportiert hat Deutschland dagegen die Ausstiegsdebatte: Zu einem ähnlichen Schritt entschloss sich etwa die Schweiz. Und auch im französischen Präsidentschaftswahlkampf spielt das Thema eine Rolle. Selbst Russen debattieren über die Atomkraft – jedoch mit anderen Ergebnissen: Sie wollen neue Meiler bauen, auch, um künftig Deutschland mit Strom zu beliefern.
Abhängigkeit reduzieren
Die Entscheidungen, die seit der Katastrophe von Fukushima gefallen sind, werden die nächsten Jahrzehnte prägen. Sie geben die Richtung vor bei vielen existenziellen Fragen – etwa wie künftig mehr Menschen mit Strom versorgt werden können, ohne das Klima grenzenlos zu belasten, wie wir unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen reduzieren und letztlich auch bei der Frage, wie Unternehmen in Deutschland mit bezahlbarer Energie versorgt werden können.
Wie unterschiedlich die Reaktionen auf das Reaktorunglück waren, zeigt eine Reise durch unsere energiebewegte Welt ein Jahr nach dem Reaktorunglück. Dabei ist vor allem eines unübersehbar: Kein anderes Land hat so hektisch und teils irrational auf das Unglück reagiert wie Deutschland. Anderswo hat man eher versucht, möglichst schnell zum Tagesgeschehen überzugehen.
Deutschland
Berlin
Die deutsche Hauptstadt ist 8759 Kilometer von Fukushima entfernt – doch ist die politische Distanzlosigkeit zum Reaktorunglück nirgends größer als hier. Die Vernunftversorgung des schwarz-gelben Bundeskabinetts ist unter dem Eindruck der Fernsehbilder im März 2011 lahmgelegt. Die Angst vor einem Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg geht um. Die Kanzlerin weiß, dass die meisten Deutschen der Atomkraft skeptisch gegenüberstehen. Und vielleicht ist Angela Merkel als gläubige Naturwissenschaftlerin ja wirklich fassungslos, dass das Atomkraftwerk eines Hochtechnologielandes in die Brüche gehen kann.
Lerneffekt in Deutschland
Wie auch immer – Merkel legt in einer Mischung aus Kalkül und Panik den Schalter um. Sie revidiert die „Revolution in der Energieversorgung“, die sie erst vor wenigen Wochen verkündet hat, und kippt die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke.
Seither haben die Deutschen viel gelernt: Dass die Lichter nicht sofort ausgehen, wenn ein paar Kernkraftwerke weniger laufen. Oder dass Rationalität in der Atomfrage bei den „Technologiefeinden“ lag, weil die Folgen eines Unfalls unbeherrschbar sind. Der Aufstieg der Grünen zur dritten politischen Kraft in Deutschland ist eine Folge des Lernprozesses. Dazu trägt auch ein Politikstil der Redlichkeit bei, wie er den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auszeichnet: Seine Initiative, selbstverständlich auch im Ländle nach einem Endlager für Atommüll zu suchen, hat eine sachgerechte Argumentation in dieser Frage überhaupt erst ermöglicht.
An den politischen Glaubwürdigkeitsschäden des Turn-arounds ändert das nichts. Lustvoll lässt die Regierung die Energiekonzerne nicht nur wie Dinosaurier aus einer energiepolitischen Vorzeit erscheinen; sie scheut sich auch nicht, ihnen schamlos in die Kasse zu greifen (Brennelementesteuer), während Umweltminister Norbert Röttgen Polit-Pirouetten dreht und flugs das Megarisiko Klimawandel gegen das Megarisiko Atomtod austauscht.
Erschüttertes Vertrauen
Kurzum: Das Vertrauen in die Politik ist seit Fukushima erschüttert – und eine sachgerechte Debatte vorerst unmöglich. Kann die Kernkraft helfen, globale Klimaziele zu erreichen? Gehen mit dem forcierten Ausbau der regenerativen Energien Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie einher? Das sind nur zwei von vielen Fragen, die nicht mal mehr diskutiert werden, seit die Politik Fakten geschaffen hat, ohne sich um die Details zu kümmern.
Und die Details haben es in sich. Mit der Förderung der Fotovoltaik päppelt die Politik solvente Eigenheimbesitzer. Der Aufbau der Offshore-Windparks in der Nordsee lahmt. Die Hochspannungsleitungen, die den Strom in den energiehungrigen Süden bringen sollen, müssen erst noch gebaut werden. Und daran, dass in der neuen Energiewelt alte, ölbetriebene Meiler hochgefahren werden müssen, weil die Stromversorgung hakt, werden sich die Deutschen erst noch gewöhnen müssen.
Fazit: Von einer Energiepolitik aus einem Guss, die an der Sache orientiert ist und klima-, atom- und industriepolitische Interessen berücksichtigt, ist die Regierung ein Jahr nach Fukushima weiter entfernt als zuvor.
China
Daya Bay
Dicht bewachsene Hügel prägen die Landschaft im Süden der Provinz Guangdong. Palmen, Bananenbäume und dazwischen immer wieder terrassenförmige Reisfelder ziehen sich durch die Ebene mit ihren zahllosen Fabriken. Die Region nahe der früheren britischen Kolonie Hongkong ist der Exportmotor des Riesenreichs. Spielzeug, T-Shirts, Schuhe, iPads und Weihnachtsschmuck: Von Guangdong aus versorgt China die Welt mit seinen Konsumgütern – und bald mit Atomstrom.
In der Daya Bay will Peking ein gewaltiges Atomprogramm verwirklichen. Trotz der Nähe zu Japan lässt die Regierung dort zwei neue Atomreaktoren bauen, zwei Meiler sind schon am Netz. In der benachbarten Stadt Yangjiang sind sechs Reaktoren im Bau. Auch anderswo im Land rollen die Bagger: Insgesamt will Peking bis 2015 allein 25 Reaktoren ans Netz anschließen, bis 2020 noch einmal so viele. So würde China seine Atomerzeugungskapazitäten um rund 800 Prozent steigern. Der Anteil der Kernenergie liegt derzeit bei rund zwei Prozent, 2020 könnte die Quote im hohen einstelligen Bereich liegen.
Problematische Informationspolitik
Die neuen Meiler seien sicher, beteuern die Behörden. Richtig ist: Peking stützt sich für seine Atomkraftwerke auf Technologie aus Frankreich. Was viel mehr beunruhigt, ist die Informationspolitik der Regierung. Als es 2010 in Daya Bay zu einem Störfall kam, durften die Medien nicht darüber berichten. Bekannt wurde das Leck im Kühlsystem nur durch Artikel in Hongkonger Zeitungen. Die wies der Betreiber des Reaktors daraufhin prompt zurecht.
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima hat die Skepsis gegenüber der Atomkraft in der chinesischen Bevölkerung zugenommen. Immerhin: Auf Druck des Volkes haben die Behörden eine Überprüfung der Sicherheitsstandards angekündigt.
Das größte Problem allerdings ist, dass die Menschen der notorisch lückenhaften Informationspolitik der Regierung nicht trauen – ein fruchtbarer Boden für Gerüchte. Nach dem Unfall in Japan war im ganzen Land das Salz ausverkauft – die Chinesen wollten sich gegen eine angeblich heraufziehende Atomwolke schützen.
USA
Burke County
Es gibt schönere Flecken in den USA als Burke County. In dem trostlosen Landstrich drei Autostunden südöstlich von Atlanta gilt fast jeder dritte Einwohner als arm. Die einzige Sehenswürdigkeit ist das Vogtle-Kernkraftwerk, das Ende der Achtzigerjahre errichtet wurde und mit Abstand der größte Arbeitgeber der Region ist. Jetzt sollen die zwei weithin sichtbaren Atommeiler durch zwei weitere Reaktoren erweitert werden – und 3500 Jobs schaffen. Vogtle markiert einen Wendepunkt in der US-Politik: Über 30 Jahre waren alle Pläne für die Erweiterung von Atomkraftwerken in den Tresoren der Versorger verschlossen.
Zu tief saß der Schock über das Atomunglück von Harrisburg bei Pennsylvania, wo sich 1979 eine Kernschmelze ereignete. Die radioaktive Wolke, die sich über das Land ausbreitete, zog eine Protestwelle gegen Atomkraft nach sich. Politisch herrscht seither ein Patt zwischen Gegnern und Befürwortern der Kernkraft in Washington.
Zu wenig Kernkraftgegner
Dass ausgerechnet jetzt eine neue Baugenehmigung für ein Atomkraftwerk erteilt wird, ist allerdings Zufall: Im Falle Vogtle setzten sich schlichtweg die Befürworter durch – gegen den Widerstand von Gregory Jaczko, dem Chef der Nuklearaufsichtsbehörde NRC. „Ich kann nach Fukushima nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, sagt er. Doch US-Energieminister Steven Chu lässt das kalt. „Wir brauchen die Kernenergie, um unseren Strombedarf ohne zusätzlichen Ausstoß von Treibhausgasen zu decken“, sagt er.
Georgia Power, der Betreiber der neuen Vogtle-Blöcke, könnte sich den 14 Milliarden Dollar teuren Neubau indes allein kaum leisten. Möglich wird das neue Kraftwerk nur durch Subventionen der US-Regierung. Zwar haben Kernkraftgegner Einspruch gegen das Projekt eingelegt. Doch in den USA sind sie in der Minderzahl.
Deutschland
Düsseldorf
E.On-Platz 1. Blumenkübel, viel Grün, Hauseingänge von Eigentumswohnungen. Davor aber, in weißem Travertin-Marmor, erhebt sich der achtstöckige Verwaltungsbau von E.On, Entscheidungszentrum des größten deutschen Atomkraftwerkbetreibers mit elf AKW-Beteiligungen. Und hier stellte sich im Sommer vorigen Jahres – wenige Wochen nach dem Reaktorunglück in Fukushima – der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hin und versuchte verzweifelt, die Gemüter zu beruhigen: Von 80.000 E.On-Beschäftigten sollen 11.000 nach dem Wegfall der Atomgewinne gehen, 6000 davon in Deutschland: „Managementfehler“, donnerte er über den Platz zu den versammelten Gewerkschaftsvertretern der Energiewirtschaft.
Der E.On-Platz 1 steht für die Probleme der gesamten deutschen Energiewirtschaft, in der seit Fukushima nichts mehr ist, wie es einmal war. Zu lange haben sich die Konzerne auf die Atomgewinne verlassen, darauf gehofft, die Politik werde die Laufzeiten ihrer Meiler schon immer weiter verlängern – und zu schlecht sind sie auf das Zeitalter der erneuerbaren Energien vorbereitet.
E.On steht besonders ungünstig da: Fünf Atomreaktoren musste der Konzern abschalten. Das führte bei den Düsseldorfern allein im ersten Halbjahr 2011 zu einem Gewinneinbruch von 70 Prozent auf nur noch 900 Millionen Euro. Das ist viel zu wenig, um die immensen Investitionen in erneuerbare Energien stemmen zu können, mit denen der Konzern zukunftsfähig werden wollte. 7,5 Milliarden Euro wollte E.On in den nächsten fünf Jahren in Wind und Sonne investieren. Eigentlich.
Schmerzliche Verluste
Vor ähnlichen Problemen stehen auch die anderen deutschen Stromkonzerne. Der Gewinn von RWE etwa brach in den ersten drei Quartalen 2011 um 30 Prozent ein, auf 4,3 Milliarden Euro – ein Schockerlebnis: Denn allein die Windkrafttochter RWE Innogy will jährlich eine Milliarde Euro in Grünstromprojekte investieren. Um den Wandel stemmen zu können, müssen 8000 von 71.000 RWE-Mitarbeiter gehen.
Die Anleger kennen auf die Entwicklungen nur eine Antwort: raus aus Energiewerten. Der Börsenwert von E.On – im Herbst 2010 noch 100 Milliarden Euro – sank bis zum März 2011 auf 28 Milliarden Euro und liegt jetzt bei 33 Milliarden Euro.
Den staatlichen baden-württembergische Versorger EnBW, der vor Fukushima seinen Umsatz zur Hälfte aus Kernenergie bestritt, trifft es ebenfalls hart: Die Neunmonatszahlen offenbarten einen schmerzlichen Verlust: Wegen Abschreibungen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro fuhr der Konzern einen Verlust von über einer halben Milliarde Euro ein.
Die Schwäche der Großen wollen nun die 900 deutschen Stadtwerke nutzen. „Stadtwerke sind zwar nicht per se die Gewinner der Energiewende, aber sie haben große Chancen, davon zu profitieren“, sagte jüngst Sven Becker, Chef des Aachener Stadtwerke-Verbundes Trianel. Sie schließen sich zusammen, um gemeinsam große Windkraftprojekte und Gaskraftwerke zu finanzieren, die für die Energiewende dringend benötigt werden.
Stadtwerke sind flexibler als die großen Anbieter und können mit dezentralen, maßgeschneiderten Angeboten schneller auf Kundenwünsche reagieren. „Wir können die Lücken in der Versorgung schließen“, sagt Hermann Janning, der die Duisburger Stadtwerke umgebaut und erweitert hat. Die Energiewende habe zudem „das Misstrauen der Bürger gegen alles Große und Globale erhöht. Stadtwerke sind das Gegenteil, wir sind klein, dezentral und vor Ort.“
Russland
Kaliningrad
Der Rauch über den Ruinen der havarierten Fukushima-Reaktoren war noch nicht verzogen, da qualmten in Moskau schon die Köpfe. Die Russen überlegten, wie sich Profit aus der Atomstromkrise ziehen ließe, die sich im Westen bereits andeutete. Deutschland hatte gerade die Energiewende beschlossen, da reiste Machthaber Wladimir Putin nach Minsk und ließ Verträge für den Bau eines neuen Atommeilers unterschreiben, den der Staatskonzern Rosatom im Tschernobyl-gebeutelten Weißrussland hochziehen soll. Die Russen, so liest sich das heute, wollen den zimperlichen Westen aus allen Rohren mit Strom versorgen.
Konkrete Formen nimmt Russlands neues Selbstverständnis als Atomgroßmacht in der Exklave Kaliningrad an. 13 Kilometer südlich des Städtchens Neman entsteht ein neues russisches Atomkraftwerk: 2016 soll der erste Block mit einer Leistung von 1150 Megawatt ans Netz gehen, zwei Jahre später folgt ein zweiter mit derselben Leistung. Da der Eigenverbrauch überschaubar ist, heißt es beim Moskauer Stromexport-Monopolisten Inter RAO, bliebe genug Strom für den Export gen Westen über.
Export nach Deutschland wird zunehmen
Die Versorger des Kremls wollen die Rolle des Stadtwerks für Deutschland spielen. Die Logik dahinter erklärt Energieminister Sergei Schmatko jedem, der es hören will: Die deutsche Wirtschaft wird infolge des Atomausstiegs Stromknappheit haben. Also muss Strom sowie zusätzliches Gas zur lokalen Stromerzeugung importiert werden – und die Russen drängen sich da auf.
Die Regierung in Moskau baut fest darauf, dass die deutschen Versorger russische wie Gazprom beim Neubau von Gaskraftwerken teilhaben lassen und der Export von Strom und Gas nach Deutschland zunehmen werden. Hierzulande gefällt das nicht jedem: Russisches Gas etwa ist Versorgern wie E.On bereits heute zu teuer. Die Abhängigkeit von den Russen, die aktuell für ein Drittel der deutschen Gasimporte stehen, würde weiter steigen. Vermutlich ist genau das aber der Hintergedanke, den Wladimir Putin im letzten Jahre hegte, als er über die Folgen der Fukushima-Katastrophe sinnierte.
Finnland, Frankreich und Großbritannien
Eurajoki
Die Demonstranten kamen an einem frühen Morgen im August, aber viele waren es nicht: Knapp 50 Atomgegner schlurften vom finnischen Dörfchen Eurajoki durch einen dichten Birkenwald zum Bottnischen Meerbusen – bis zu einem verschlossenen Tor. Der Zugang zur Ostseeinsel Olkiluoto blieb verschlossen. Dort baut der französische Hersteller Areva das größte Atomkraftwerk Europas – und das dritte für Finnland.
Mit Atomstrom versucht die finnische Regierung, die Abhängigkeit von russischem Gas zu mindern. Der Politik stößt indes auf, dass der Meiler statt drei wohl mehr als fünf Milliarden Euro verschlingen wird und statt 2009 erst Ende 2013 ans Netz geht. Die meisten Bewohner der strukturschwachen Gemeinde Eurajoki freuen sich derweil über die Arbeitsplätze, die Bau und Betrieb des neuen AKW mit sich bringen.
Paris
Bei der französischen Präsidentschaftswahl im April und Mai stimmen die Bürger nicht nur über ihr Staatsoberhaupt ab, sondern auch über die Stromversorgung. Bisher beziehen die Franzosen rund 76 Prozent ihrer Elektrizität aus Kernkraftwerken. Geht es nach dem amtierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy, soll das auch so bleiben. Der in den Umfragen führende Kandidat François Hollande aber will im Falle eines Wahlsiegs den Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung um rund ein Drittel reduzieren.
Bei vielen Franzosen lösen diese Pläne Sorgen um steigende Strompreise aus. 72 Prozent von ihnen sind laut Umfragen nicht bereit, bei einem Atomausstieg mehr für Elektrizität zu zahlen. Dennoch versucht Frankreich, den Vorsprung Deutschlands bei erneuerbaren Energien aufzuholen. Bisher liefern Wind und Sonne nur rund zwei Prozent. Doch nun will der teilstaatliche Atomkonzern EDF in den nächsten Jahren bis zu 15 Milliarden Euro vor allem in Windanlagen auf dem Meer investieren. Auf einem alten Militärflugplatz im Nordwesten des Landes plant der Konzern zudem das größte Solarfeld Europas: Über 1,5 Millionen Module mit 115 Megawatt Leistung sollen dort installiert werden.
London
Die Chefs des britischen AKW-Betreibers NIA reagierten auf den Rücktritt des liberaldemokratischen Energieministers Chris Huhne vor wenigen Wochen mit Freude: Denn dem Atomkritiker folgte Parteifreund Ed Davey, der politisch nicht gerade als Schwergewicht gilt. Die mächtigen Konservativen im Kabinett von Premier David Cameron könnten leichtes Spiel dabei haben, den neuen Energieminister auf die Seite der Atombefürworter zu ziehen.
Die Briten stehen vor der Wahl: Setzen sie weiter auf Atomkraft – oder forcieren sie den Ausbau erneuerbarer Energien?
Die Tories meinen wie viele ihrer Landsleute, dass die Atomkraft trotz Fukushima eine Schlüsselrolle beim Klimaschutz spielen muss. In den nächsten 15 Jahren sollen acht neue Kernkraftwerke entstehen. Doch bisher wurde noch keine Baugenehmigung erteilt. Dagegen stellte NIA vorigen Mittwoch das weltweit älteste AKW ab. Energieminister Huhne hatte derweil stets den Ausbau der Windkraft vorangetrieben: Bis 2020 sollte der Anteil regenerativer Energien von heute 6 auf 15 Prozent steigen und vor allem die alten Kohlemeiler ersetzen. Schon heute ist Großbritannien der größte Produzent von Windenergie aus Offshore-Feldern in der Nordsee.
Deutschland
Emden
Wie weit Wunsch und Wirklichkeit bei der deutschen Energiewende auseinanderklaffen, lässt sich 100 Kilometer nordwestlich von Emden beobachten, auf der Baustelle des ersten kommerziellen deutschen Meeres-Windparks Bard Offshore 1. Gut zwei Jahr ist das Projekt verspätet, nun soll alles ganz schnell gehen. Mit Wucht stemmen Bard-Monteure trotz oft widrigem Wetter Fundamente für die tonnenschweren Windräder in den Meeresgrund. Wegen der Verzögerung und den schwierigen Bedingungen in so tiefem Wasser weit vor der Küste sind die Baukosten von geplanten 1,5 auf 2,9 Milliarden Euro in die Höhe geschossen. Und von den 80 Mühlen, die einmal rund 500.000 Haushalte mit Strom versorgen sollen, drehen sich erst 19. Experten sind daher skeptisch, ob die Erlöse aus dem Stromverkauf die Investition jemals decken werden.
Dabei sollen riesige Windparks wie Bard 1 in Nord- und Ostsee nach den Plänen der Bundesregierung schon Ende des Jahrzehnts den Großteil des Atomstroms ersetzen. Doch nach einer Analyse der Bremer Energieexperten von wind:research rückt das Ziel in weite Ferne: Bleibt es beim derzeitigen Ausbautempo fehlen 2030 fast 10.000 der eingeplanten 25.000 Megawatt.
Platzende Träume
Weitere Probleme sind absehbar. Der Netzbetreiber Tennet, der alle Nordsee-Windparks an das deutsche Stromnetz anschließen muss, kalkuliert dafür Kosten von 15 Milliarden Euro und erklärt sich außer Stande, diese allein zu finanzieren.
So platzt jetzt, ein Jahr nach der Energiewende und dem Beschluss zum endgültigen Atomausstieg, ein Traum nach dem anderen – nicht nur der vom billigen Meereswindstrom.
Nur wenige Kilometer Leitungen sind bisher im Bau, um die rasch wachsenden, aber stark schwankenden Mengen an Sonnen- und Windelektrizität in die Netze zu integrieren. Ebenso wenig vorangekommen ist der Bau von Speichern, um das Grünstromangebot zwischenzulagern. Die Folge: Das Stromnetz gerät immer häufiger an die Grenzen seiner Belastbarkeit.
Nicht besser steht es um den Bau schnell regulierbarer Gaskraftwerke, die eigentlich das unberechenbare Angebot an Ökoenergie ausbalancieren sollen. Weil sie unter den jetzigen Rahmenbedingungen nur sporadisch bei Stromengpässen zugeschaltet werden, bringen sie keinen Gewinn – Investoren ziehen sich zurück.
Realistische Konzepte erwünscht
Und weil Umweltminister Röttgen wegen der ausufernden Kosten die Vergütung für Fotovoltaikstrom zusammenstreichen will, bangen in Thüringen und Sachsen-Anhalt Tausende Beschäftigte von Solarmodulherstellern um ihre Jobs.
So lehrt ein Jahr Energiewende eines: Soll die Versorgung sicher und bezahlbar bleiben, muss Schluss sein mit dem bisherigen Illusionstheater. Nichts erwarten alle Beteiligten sehnlicher, als endlich ein realistisches und stimmiges Umstiegskonzept für den deutschen Sonderweg zu haben.