
An der Spitze des Fortschritts marschieren – das schafften sie bei Deutschlands zweitgrößtem Energiekonzern RWE zuletzt nicht so häufig. Umso mehr strahlt Arndt Neuhaus an diesem Montag im Spätsommer. In der alten Bergbaustadt Ibbenbüren bei Münster kann der 49-Jährige, der das deutsche Vertriebs- und Netzgeschäft beim Energieriesen verantwortet, richtig glänzen: Neuhaus nimmt eine der weltweit modernsten Anlagen in Betrieb, die Wasser mithilfe von Windstrom in Sauer- und Wasserstoff trennt.
Der Vorgang heißt Elektrolyse und ist Generationen von Schülern aus dem Physikunterricht vertraut. Vor allem aber gilt das Verfahren als Schlüsseltechnologie, mit deren Hilfe die deutsche Energiewende gelingen soll, der Übergang in eine Zukunft ohne Kohle, Öl und Gas. Wenn diese fossilen Brennstoffe ihrer Klimaschädlichkeit wegen zum Ende des Jahrhunderts im Boden bleiben sollen, wie es die führenden Industrienationen im Juni auf dem G7-Gipfel auf dem bayrischen Schloss Elmau beschlossen haben, muss ein alternativer Energieträger her.
Das Wichtigste über Wasserstoff und Brennstoffzelle
Wasserstoff ist im Gegensatz zum Öl kein begrenzter Rohstoff. Es ist das am häufigsten vorkommende chemische Element. Größter Erzeuger ist die chemische Industrie, die Wasserstoff als Neben- oder Koppelprodukt herstellt. Allein damit könnten in Deutschland nach Angaben des Technologiekonzerns Linde 750.000 Fahrzeuge betrieben werden.
Das Prinzip ist einfach, die technische Umsetzung aber anspruchsvoll: Bei der energieaufwendigen Elektrolyse wird Wasser mit Hilfe von Elektrizität in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Wasserstoff ist ein flüchtiges und reaktionsfreudiges Gas, das nur unter hohem Druck oder extrem gekühlt gelagert werden kann.
In einer Brennstoffzelle erzeugen Wasserstoff und Sauerstoff an einer Membran in einer sogenannten kalten Verbrennung Elektrizität. Dabei entsteht auch Wärme. Das Abgas ist Wasserdampf. In einem Auto kann mit einer Brennstoffzelle ein Elektromotor angetrieben werden.
Umstritten ist aber die Erzeugung des Wasserstoffs. Bislang wird der Energieträger zu 90 Prozent aus dem fossilen Rohstoff Erdgas hergestellt. Während aus dem Auspuff eines Brennstoffzellenautos nur Wasserdampf entweicht, wird bei der Herstellung des Wasserstoffs das klimaschädliche Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) freigesetzt. Wird Wasserstoff aber mit Hilfe von Strom aus Windenergie oder Photovoltaik gewonnen, ist die Klimabilanz deutlich besser.
Die Reichweite von Autos mit Brennstoffzelle ist deutlich größer als die der batteriegetriebenen Fahrzeuge. Ein Beispiel: Eine Mercedes-Benz B-Klasse mit Brennstoffzelle hat nach Unternehmensangaben eine Reichweite von 385 Kilometern, der Elektro-Smart mit Batterie kann bis zu 135 Kilometer zurücklegen.
Nicht nur der RWE-Manager hat dafür vor allem einen Kandidaten im Visier: Wasserstoff. „Das Potenzial der Technik ist riesengroß“, bringt Neuhaus die Erwartungen von Industrie und Forschung auf den Punkt. Denn das reaktionsfreudige Gas lässt sich für fast alle Nutzungsszenarien moderner Industriegesellschaften verwenden.
100 Millionen Euro Entschädigung
Die Elektrolyse könnte ein zentrales Problem der Energiewende lösen: Windräder und Solarpaneele produzieren regional immer öfter mehr Strom, als benötigt wird. Weil Speicher fehlen, schalten die Stromnetzbetreiber die Anlagen ab. Trotzdem bekommen die Betreiber der grünen Kraftwerke für den Ertragsausfall eine Entschädigung. Mehr als 100 Millionen Euro waren es vergangenes Jahr – Geld, das letztlich die Stromkunden zahlen.
Zudem drehen die Preise an der Strombörse immer öfter ins Negative, da sich die Braunkohlekraftwerke bei viel Wind oder Sonne nicht schnell genug drosseln lassen. Wer in diesen Zeiten an der Börse Energie abnimmt, erhält dafür sogar noch Geld. Laut einer Studie der Berliner Denkfabrik Agora Energiewende könnte sich die Zahl der Stunden mit negativen Strompreisen bis 2022 verzehnfachen. In diesem Jahr summierten sie sich schon auf rund 100. Und jedes zusätzliche Windrad verschärft die Situation. Umgekehrt besteht bei Dunkelflauten, also in Zeiten, in denen Wind und Sonne pausieren, akuter Energiemangel – solange Langzeitspeicher fehlen.

Anlagen wie die in Ibbenbüren sollen das Dilemma lösen. Power-to-Gas heißt dieses Konzept. Mit überschüssigem Ökostrom gewonnener Wasserstoff wird in Pipelines, Tanks oder Kavernen gespeichert. Später lässt sich der von Greenpeace wegen der Art seiner Erzeugung „Windgas“ genannte Energieträger nach Belieben nutzen – im Verkehr, in der Industrie oder um Elektrizität und Wärme zu produzieren.
Anders als Batterien können Wasserstoff oder Methan – das sich aus Wasserstoff und CO2 erzeugen lässt – Energie hervorragend über viele Monate speichern. „Wenn wir unseren Energiebedarf überwiegend aus regenerativen Quellen decken wollen, brauchen wir diese Speicher“, sagt Michael Specht vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW).