
Spinnennetze sind in vielen Häusern ein Ärgernis. Zeugen sie doch irgendwie davon, dass schon lange nicht mehr geputzt wurde. Anders sehen das Materialexperten der Universität Bayreuth. Spinnenseide ist für sie ein extrem spannendes und vielseitiges Material. Gemeinsam mit der Universitätsklinik Erlangen konnte der Bayreuther Professor Thomas Scheibel Ansätze zeigen, wonach Spinnenseide sich eignen könnte, um Herzgewebe für Herzinfarkt-Patienten wiederherzustellen.
Genauer gesagt geht es um die Proteine, die der Seide Struktur und Festigkeit verleihen. Prof. Felix Engel aus Erlangen konnte zeigen, dass sich die Seide des Indischen Seidenspinners besonders gut als Gerüstmaterial für Herzgewebe eignet. Bisher war es aber nicht möglich, das Protein in großer Menge und gleichbleibender Qualität herzustellen. Doch kürzlich war es soweit: „Uns ist es gelungen, ein rekombiniertes Seidenprotein der Gartenkreuzspinne in größeren Mengen und bei gleichbleibender hoher Qualität zu produzieren“, sagt Scheibel.
Am Thema Tissue Engineering, also Gewebekonstruktion oder -züchtung, werde intensiv gearbeitet, sagt Prof. Wolfram-Hubertus Zimmermann vom Deutschen Zentrum für Herzkreislaufforschung (DZHK) an der Universitätsmedizin Göttingen. Es werde mit vielen Materialien geforscht. Die Ergebnisse aus Bayreuth und Erlangen seien ein „sehr früher Ansatz“. Neu sei die Herstellung der Seide außerhalb des Spinnenkörpers. Es sei richtig, Spinnenseide in diesem Kontext weiter zu testen. Wie die Entwicklung weitergehe, sei jedoch noch völlig offen.
Was die modernen Alchemisten schon herstellen
Die Alchemisten der heutigen Zeit schaffen es zwar immer noch nicht, Gold und Platin herzustellen. Dafür produzieren sie jedoch bereits künstliche Diamanten, Leder, Seide und edlen Schnaps.
Im Herbst stellte Adidas seinen ersten Turnschuh aus Biotech-Seide vor. Der soll nicht nur biologisch komplett abbaubar sein. Er ist auch superstabil. Mit einer bleistiftdicken Schnur aus dem Material ließe sich eine Boeing 747 anheben. Das Material kommt vom Münchner Start-up Amsilk, dass das Material in riesigen Stahltanks produzieren lässt.
Der US-Outdoorausrüster Patagonia hat derweil einen Vertrag mit dem Biotech-Seiden-Start-up Bolt Threads geschlossen. Der Konzern plant nun seine erste Outdoor-Kollektion aus dem Material.
Amsilk aus München arbeitet auch an Anwendungen in der Medizin. So werden beispielsweise Brustimplantate, die mit der Biotech-Seide ummantelt sind, vom Körper besser angenommen.
Dem kalifornischen Unternehmen Lost Spirits ist es gelungen, 20 Jahre alt schmeckenden Rum in sechs Tagen herzustellen. Dafür beschleunigt es in einer Maschine die Bildung von Estern, die sonst beim Reifen im Fass entstehen. Die Ester sorgen beispielsweise für den fruchtigen Geschmack des Rums.
Das Start-up Cleveland Whiskey setzt auf eine andere Technik, um den Geschmack von altem Whiskey zu reproduzieren. Mittels Hochdruck und Vakuum presst das Unternehmen den Schnaps zuerst in das Fassholz und saugt ihn danach wieder raus. Da Cleveland Whiskey zum Reifen Stahltanks benutzt und das Holz einfach mit hineingibt, kann es auch Sorten benutzen, die für die Fassherstellung ungeeignet sind. So hat Cleveland Whiskey auch solche Tropfen im Programm, die nach Kirschbaum oder Zuckerahorn schmecken.
Das New Yorker Start-up Modern Meadow will in Zukunft massenhaft Biotech-Leder herstellen, und damit der umstrittenen Rinderzucht Konkurrenz machen. Das Material soll in Form von Portemonnaies oder Autositzen gezüchtet werden, sodass kaum Verschnitt anfällt. Zudem braucht es weniger Chemie, um die Biotech-Häute zu gerben.
Das kalifornische Start-up, in das auch der Hollywood-Schauspieler Leonardo DiCaprio investiert hat, lässt Kohlenstoff unter hohen Temperaturen und im Vakuum zu Diamanten kristallisieren. Die Steine lässt das Unternehmen, das vom gebürtigen Münchner Martin Roscheisen gegründet wurde, dann nahezu zum Preis von echten Diamanten verkaufen – beispielsweise im New Yorker Nobelkaufhaus Barneys.
Auch der weltgrößte Diamantenkonzern De Beers stellt Diamanten in der Retorte her. Allerdings tut er das, um eine Maschine zu entwickeln, die echte von synthetischen Diamanten unterscheiden kann. So richtig zuverlässig ist die allerdings nicht. In der Vergangenheit deklarierte sie auch immer wieder natürliche Diamanten als synthetisch.
Spinnenseide ist belastbarer als Nylon, Kevlar und alle anderen bekannten Fasermaterialien. Die Idee, sie als Werkstoff zu nutzen, gab es bereits in den 1980er Jahren. Doch namhafte Chemiekonzerne sind an der Großproduktion gescheitert. „Damals hat jeder gesagt, das schafft man nicht“, erinnert sich Scheibel. Spinnen in großer Schar zu züchten und diese zu melken sei unwirtschaftlich. Zudem nehme die Qualität der Seide von Spinnen in Gefangenschaft ab. Verantwortlich für die mechanischen Eigenschaften von Spinnenseide sind ihre kleinsten Bausteine, die Proteine. Daher genügt es, diese in großer Menge zu produzieren.
Nur ist Protein nicht gleich Protein. Und bei den Proteinen der Spinnenseide gibt es ein gravierendes Problem: Sie sind so aufgebaut, dass ein kleiner Anstoß von außen genügt, damit sie sich zu extrem festen Strukturen zusammenlagern. „Das ist essenziell für den Spinnprozess in der Natur, beim Rühren und Reinigen ist das eher hinderlich“, erklärt Scheibel.
In Tierversuchen alle Voraussetzungen erfüllt
Gemeinsam mit zwei Mitarbeitern aus seiner damaligen Arbeitsgruppe an der Technischen Universität München gründete Scheibel im Jahr 2008 das Start-up-Unternehmen AMSilk. Drei Jahre hat es gedauert, bis sie ein Protein aus der Dragline-Seide der Gartenkreuzspinne in einem 120.000 Liter großen Fermenter herstellen konnten. Dazu mussten die Forscher die Spinnenproteine über sogenanntes „protein engineering“ ein wenig verändern und einen besonderen Reinigungs- und Spinnprozess entwickeln. Auf diese Weise entsteht nun ein weißes Garn, das sich äußerlich kaum von anderen Fasermaterialien unterscheidet. Der große Unterschied zu synthetischen Polymeren ist allerdings, dass der biologische Werkstoff komplett recycelbar ist. „In der Natur frisst die Spinne ihre Netze auf“, so Scheibel.
Spinnenseide hat noch eine andere Eigenschaft, die sie für die Medizin so interessant macht: Sie ist steril. „Spinnenseide ist in der Natur deshalb so beständig, weil sie bakteriostatisch ist“, erklärt Scheibel. Ihre Oberfläche ist so aufgebaut, dass sich Bakterien oder Pilze nicht daran festhalten können. Bereits der griechische Philosoph Aristoteles wusste, dass Spinnennetze gute Wundpflaster abgeben.
Die Bayreuther Forscher haben einen Weg gefunden, mit den Seidenproteinen Brustimplantate zu beschichten. Philip Zeplin, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie an der Schlosspark Klinik Ludwigsburg erklärt: „Silikon wird vom Körper nicht so gut akzeptiert.“ Werden unbehandelte Silikonkissen eingesetzt, besteht bei gesunden Menschen ein etwa zehnprozentiges Risiko einer sogenannten Kapselfibrose. Der Körper reagiert mit einer Abstoßungsreaktion und verkapselt das Implantat. Bei Brustkrebspatientinnen liegt das Risiko aufgrund der Bestrahlung bei 26 Prozent. Spinnenproteine allerdings sind im Körper besser verträglich als Silikon.
Im Tierversuch hat die Methode alle Voraussetzungen erfüllt. In Kürze beginnen die Tests am Menschen. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich die Seidenproteine bewähren werden“, so Zeplin. Er glaubt, die Methode wird künftig auch für andere Implantate geeignet sein wie etwa Gefäßprothesen, Dialysekatheter oder Herzklappen. Aber auch die Wirtschaft interessiert sich für die Spinnenseide.
So hat zum Beispiel der Sportartikelhersteller Adidas im vergangenen Jahr Scheibels Spinnenseide für sich entdeckt. Bisher gibt es nach Angaben eines Firmensprechers lediglich einen Prototypen eines Schuhs, der aus biologisch abbaubaren Materialien besteht. Man plane ihn aber auf den Markt zu bringen. Doch wie steht es um die Haltbarkeit? „Spinnennetze halten ewig“, sagt Scheibel. In alten Gebäuden könne man durchaus 500 Jahre alte Exemplare finden.