Interview Innovationsforscher Radjou: "Mangel macht erfinderisch"

Rohstoffmangel, Schulden, Überalterung: Die globalen Probleme zwingen die High-Tech-Industrie zum Umdenken: Erfolgreiche Produkte der Zukunft sind einfacher, billiger und effizienter, sagt der renommierte Innovationsforscher Navi Radjou. Wie man die entwickelt, lernen Konzerne ausgerechnet in armen Ländern.

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Managementberater Navi Radjou im Interview mit der WirtschaftsWoche Quelle: Robert Houser für WirtschaftsWoche

Für deutsches Ingenieurdenken ist allein der Gedanke pure Provokation: Statt Produkte mit immer neuen Funktionen und technischen Finessen hochzurüsten – und dabei zugleich die Entwicklungs- und Fertigungskosten in die Höhe zu treiben –, muss Innovation künftig als „Mehr aus Weniger“ definiert sein.

Mit dieser These befeuert der renommierte US-Innovationsforscher Navi Radjou aktuell die Diskussionen in den Vorstandsetagen der High-Tech-Welt. Mit seinen Kollegen Jaideep Prabhu und Simone Ahuja hat er das Buch „Jugaad Innovation“ verfasst. Der Begriff Jugaad steht in der nordindischen Sprache Hindi für Einfallsreichtum und umschreibt die Kunst erfolgreicher Unternehmer in Schwellenländern, den Mangel an Ressourcen und Kapital nicht als Wachstumshemmnis, sondern als Innovationstreiber wirken zu lassen.

Jugaad Innovation, think frugal, be flexible, generate breakthrough growth. Wiley, 2012, 23,99 Euro, noch nicht auf Deutsch erschienen (zum Vergrößern bitte Bild anklicken) Quelle: Presse

Frugale Innovationen

Das Prinzip, so glauben die Autoren, werde im globalen Innovationswettlauf für neue Regeln sorgen: Auf Dauer können westliche Konzerne in den dynamischen Märkten der Schwellenländer nur erfolgreich sein, wenn sie das Konzept der sogenannten frugalen Innovationen übernehmen. Forscher verstehen darunter neue Produkte, die mit minimiertem Ressourcen- und Geldeinsatz entwickelt werden. Sie sind einfach zu bedienen, technisch simpel, billig herzustellen und robust.

Das dabei gewonnene Know-how nützt den Konzernen nicht nur in Entwicklungsländern. Es ist zugleich ein Wettbewerbsvorteil in etablierten Märkten. Auch dort müssen Regierungen sparen und aufgrund steigender Rohstoffpreise Ressourcen aller Art effizienter einsetzen.

Beim Technologiekonzern Siemens ist die Botschaft angekommen: Konzernchef Peter Löscher hat den Gedanken zur Chefsache gemacht. Ihm geht es dabei nicht nur darum, von High-Tech-Produkten Billigversionen für Märkte zu entwickeln, die sich die teuren Originale nicht leisten können. „Die Produkte müssen neu entwickelt werden“, sagt Löscher. Beispiel dafür ist ein neuer Herzschlag-Monitor für Babys. Die zigarettenschachtelgroße Box ermöglicht es mit einfachsten Mitteln, den Puls von Ungeborenen zu analysieren. Bislang war dafür ein Ultraschallgerät nötig, das 4.000 bis 6.000 Dollar kostet. Das neue Siemens-Gerät nutzt kein Ultraschall, sondern feine Mikrofontechnik und ist daher für einen Bruchteil des Geldes zu haben.

Mit Weniger Mehr erreichen

Starke Aktien mit Schwellenländer-Plus
Ein Mann sitzt vor einem Laden der Adidas-Marke Reebok in Indien Quelle: dapd
Zwei Hände halten Zigaretten der Marke Gauloises Quelle: dapd
Ein Chinese telefoniert Quelle: REUTERS
Frauen machen in China Werbung für Coca Cola Quelle: AP
Eine Frau vor einem Regal mit Danone-Produkten Quelle: Reuters
Ein Glas voll Guinness Quelle: REUTERS
Eine Hand nimmt eine Flasche Heineken aus dem Regal Quelle: REUTERS

WirtschaftsWoche: Herr Radjou, was können wir von Unternehmern in Schwellenländern lernen?

Navi Radjou: Wie man unter widrigen Bedingungen mit weniger mehr erreicht. Wir nennen das frugale Innovation. Die dortigen Unternehmer sind täglich mit Mangel konfrontiert, sei es finanzieller Art oder durch fehlende oder anfällige Infrastruktur. Dadurch sind sie sehr erfinderisch, müssen mit winzigen Budgets Produkte ersinnen und oft auch noch gleichzeitig innovative Geschäftsmodelle dafür erfinden.

Zum Beispiel?

Wie der indische Chirurg Devi Shetty, der die Kosten für Herzoperationen mittels günstiger Technologie und Standardisierung bei gleichzeitig hohem Niveau gesenkt hat. Oder der Energieunternehmer Harish Hande, der Solarmodule an Ladenbesitzer in indischen Dörfern verleast, die den erzeugten Strom über Akkus an ihre Kunden verkaufen können.

Not macht erfinderisch.

Genau. Shetty wollte sich nicht damit zufriedengeben, dass sich viele Inder keine Herzoperation leisten konnten. Hande wollte nicht akzeptieren, dass Solarenergie für die Landbevölkerung unerschwinglich sein soll. Diese Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, bis an die Grenzen auf der Suche nach Lösungen zu gehen, fehlen westlichen Firmen oft, oder es gibt Widerstände gegen sie. Vor allem haben die Unternehmer in Entwicklungsländern eine Gabe, die im Westen mehr und mehr verloren geht.

Und zwar?

Sie können Produkte und Dienstleistungen schaffen, die tatsächliche Probleme lösen.

Das würde jeder westliche Unternehmer auch von sich behaupten.

Kann sein. Aber in der westlichen Welt – besonders hier im Silicon Valley – laufen wir Gefahr, das zu verlernen. Oft wird ein Produkt ersonnen und danach ein Markt dafür gesucht, wofür oft Unsummen von Geldern ausgegeben werden. Diesen Luxus kann sich ein Unternehmer in Indien oder Brasilien nicht erlauben.

Aber inwieweit berührt uns das?

Stärker, als wir es wahrnehmen. Denn wir stehen auch im Westen wegen der hohen Schulden vor einer neuen Ära. Rohstoffe und Energie werden teurer, und Regierungen wie Verbraucher müssen sparen. Das verstärkt den Druck auf Unternehmen, ebenfalls Kosten zu senken und schonender mit Ressourcen umzugehen.

Wo sehen Sie das?

Ganz stark im Gesundheitssektor, beispielsweise in den USA. Versicherungen und Krankenhäuser suchen hier nach neuen Heilmethoden, die zwar ebenso erfolgreich sind wie alles Bisherige, die aber weniger kosten. Es geht bei alledem aber nicht nur um Produkte und Geschäftsmodelle, sondern auch um den Einfluss von Ideen. In einer globalisierten Welt können wir uns nicht mehr abschotten.

Ein Auto für Alle

Die billigsten Autos der Welt
Am Billigauto kommt kein Hersteller mehr vorbei, der Weltmarktführer werden will. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Center Automotive Research (CAR) der Universität Duisburg-Essen. So werden die Verkäufe von 6,5 Millionen Einheiten an Fahrzeugen für weniger als 8.000 Euro im Jahr 2011 auf gut 25 Millionen Autos im Jahr 2030 steigen. Nicht in den gesättigten Märkten von Europa und Nordamerika treibt das Billigauto bei der Motorisierung voran; vielmehr sind in den Schwellen- und Entwicklungsländer, die Zukunftsmärkte der Automobilindustrie zu finden. Und dort gibt es jetzt bereits die billigsten Fahrzeuge der Welt, die umgerechnet ab rund 2.000 Euro zu haben sind, wir unser Marktüberblick zeigt. Im Bild: der Bajaj RE 60. Quelle: Pressefoto
Platz 1: Unschlagbar im Preis ist der Nano BS III aus dem indischen Tata Motors-Konzern, zu dem inzwischen auch Jaguar, Land Rover und Rover gehören. Das viertürige Wägelchen hatte zwar seine Startschwierigkeiten in den vergangenen Jahren, doch der Titel des billigsten Autos der Welt ist ihm sicher. 141.898 indische Rupien oder umgerechnet 2.043 Euro kostet der Wagen. Von dem im Januar 2008 vorgestellten Auto wurden die ersten 100.000 Fahrzeuge zum Festpreis von nur 100.000 Rupien verkauft ... Quelle: Pressefoto
Ermöglicht wird der günstige Preis, wie bei vielen weiteren in dieser Bilderstrecke gezeigten Fahrzeugen hauptsächlich durch den Verzicht auf Komfortelemente wie Servolenkung, zweiter Seitenspiegel, Klimaanlage, Autoradio, oder elektrische Fensterheber, Verzicht auf einige Sicherheitstechnologien (Airbags, ABS), hoher Anteil an Kunststoff- statt Metallblechverarbeitung, und demzufolge geklebte statt geschweißter Chassis- und Karosserieverbindungen, sowie natürlich die geringen Arbeits- und Materialkosten in den Billig-Produktionsländern wie Indien ... Quelle: Pressefoto
Allerdings ist der Tata Nano bisher deutlich hinter seinen Verkaufszielen zurück geblieben.  Das eigens für den Nano gebaute Werk ist für 200.000 Fahrzeuge pro Jahr ausgelegt. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2011 wurden aber gerade mal  16.535 Fahrzeuge verkauft. Auf das Jahr 2012 hochgerechnet werden deutlich unter 50.000 Nano von Tata verkauft werden. Bisher ist der Tata Nano ein Flop, obwohl er fast für 40 Prozent der Pkw-Verkäufe von Tata steht. Quelle: Pressefoto
Platz 2 und 3: Nur wenig teurer als der Nano von Tata sind zwei Modelle des chinesischen Herstellers Jiangnan - Zotye. Der Alto Zotye (hier im Bild) kostet 18.800 Renminbi (CNY) bzw. umgerechnet 2.256 Euro, das Modell Jiangnan TT kommt auf 20.800 Renminbi bzw. 2.496 Euro. Aus europäischer Sicht darf man das Design des Wagens sicher als nicht ganz auf der Höhe der Zeit bezeichnen. Zur Spezialität des erst 2005 gegründeten Unternehmens zählen Lizenznachbauten, wie die Namen Multipla und Alto in der Modellpalette bereits andeuten. Quelle: Pressefoto
Nur wenig teurer als der Nano von Tata sind zwei Modelle des chinesischen Herstellers Jiangnan - Zotye. Der Alto Zotye (hier im Bild) kostet 18.800 CNY bzw. umgerechnet 2.256 Euro, das Modell Jiangnan TT kommt auf 20.800 CNY bzw. 2.496 Euro. Aus europäischer Sicht darf man das Design des Wagens sicher als nicht ganz auf der Höhe der Zeit bezeichnen. Zur Spezialität des erst 2005 gegründeten Unternehmens zählen Lizenznachbauten, wie die Namen Multipla und Alto in der Modellpalette bereits andeuten. Quelle: Pressefoto
Platz 4: Den Suzuki Maruti 800 gab es schon 1984, und damals sah er nicht viel anders aus als heute. Der Name täuscht ein wenig, das Motörchen ist 660 ccm groß. Immerhin gibts aber eine klassische Steilheckform mit großer Heckklappe, vier Türen, große Fenster und damit gute Rundumsicht. Das aktuelle Modell 800 Std BS III kostet umgerechnet 2.979 Euro - und wird wie die meisten Fahrzeuge der Konzern-Kooperation in Indien verkauft. Quelle: Pressefoto

Was meinen Sie damit konkret?

Ein gutes Beispiel ist der indische Geschäftsmann Ratan Tata mit seiner Idee, mit dem Tata Nano das günstigste Automobil der Welt zu konstruieren. Automanagern im Westen war schnell bewusst, dass diese Idee auch Auswirkungen auf ihr Geschäft haben wird. Carlos Goshn, der Chef von Renault-Nissan, hat deshalb die Pläne mit seinem Logan, einem Auto im 10.000-Dollar-Preissegment, vorangetrieben. Goshn war klar, dass er nicht so radikal wie Tata sein kann. Aber er hat mit diesem Beispiel seine Ingenieure herausgefordert und angespornt. Die hätten sonst zu schnell aufgegeben. Tata zeigte, dass es machbar ist.

Nun gilt der Tata Nano nach dem ersten Hype nicht gerade als Erfolgsmodell.

Aber die Idee von seinem supergünstigen Auto ist geblieben. Tata hat mit dem Nano die Automobilbranche verändert. Das Problem war, dass der Nano quasi als das Auto für Arme vermarktet wurde anstatt als smarte Wahl für preisbewusste Käufer. Kaum jemand wollte sich die Blöße geben, dass er sich nur ein Auto für Arme leisten kann.

Einfach nur eine Billigversion von einem westlichen Produkt auf den Markt zu bringen funktioniert also nicht?

Das geht schon deshalb nicht mehr, weil es selbst in Indien in jedem Dorf Fernseher gibt. Die Menschen kennen die Produkte und wollen sich nicht mit billigen Kopien abspeisen lassen. Sie sind sogar sehr markenbewusst. Die Herausforderung ist es, mithilfe der Kreativität von einheimischen Ingenieuren zu vertretbaren Kosten wettbewerbsfähige Produkte zu entwickeln.

Welche Unternehmen sind vorbildlich?

Es gibt erst wenig erfolgreiche Beispiele. Aber ihre Zahl wächst: Renault, Danone, PepsiCo, Procter & Gamble – aber auch SAP und Siemens gehören dazu.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass unter dem Denkmantel der frugalen Innovation die Entwicklungsbudgets gedrückt werden, was zu minderwertigen Produkten führen kann?

Damit würden Unternehmen scheitern. Gerade heutzutage, wo Kunden im Internet ihrem Ärger Luft machen können, würde sich rasch herumsprechen, wenn die Qualität leidet. Unternehmen müssen allerdings schon unterscheiden, was sie unter Qualität verstehen: Ist ein mit Funktionen vollgestopftes Produkt wirklich besser als eins, dessen Funktionen auf das wirklich Wesentliche reduziert worden sind? Manchmal ist gut eben gut genug. Auch das kann man von den Schwellenländern lernen, nämlich wie man ein Produkt von Komplexität befreit. Der Herzmonitor von Siemens ist nicht nur portabel, sondern auch so automatisiert, dass er sich ohne große Schulung einsetzen lässt.

Sie nennen in Ihrem Buch Steve Jobs als einen Unternehmer, der die frugale Innovation verstanden hat. Der hätte Sie aber auf der Stelle gefeuert, wenn Sie ihm mit „Gut ist gut genug“ gekommen wären.

Jobs ist als Perfektionist bekannt. Aber er ist auch für seine Kunst des Weglassens berühmt, wenn dies Produkte vereinfacht hat. Nicht zuletzt hat Jobs mit seiner Idee, Musik für 99 Cent zu verkaufen, den Handel mit Online-Musik etabliert und für viele erschwinglich gemacht. So wie Konsumgüter-Riesen wie Procter & Gamble sich von indischen Geschäftsleuten abgeschaut haben, dass man Shampoo auch in kleineren Portionen verkaufen kann, damit sich die Kunden das leisten können.

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