Wir haben uns schon lange daran gewöhnt: Mitten im Winter gibt es frische Paprika, Tomaten und Gurken, die Gemüse- und Obsttheken in den Supermärkten sind gut gefüllt. Von Holland bis nach Spanien sind dafür riesige Treibhäuser entstanden, in denen das Grünzeug reift. Doch nicht nur der Mensch freut sich über Auberginen oder Erdbeeren im Januar – auch für Blattläuse, Spinnmilben oder Fadenwürmer sind sie ein gefundenes Fressen. Unternimmt der Bauer nichts, zerstören sie ganze Ernten.
Nun wollen die Verbraucher aber nicht nur knackiges Gemüse zu jeder Jahreszeit, sondern auch Karotten, Spinat und Salatköpfe, die möglichst frei von Schadstoffen sind. Doch Schädlinge nur mit herkömmlichen, chemischen Pflanzenschutzmitteln zu bekämpfen wird angesichts strengerer Grenzwerte und wachsender Widerstandskraft der Tiere immer schwieriger.
Und so züchtet die lange für ihre chemischen Keulen gescholtene Branche nun immer öfter selbst Insekten, die den Schädlingen den Garaus machen sollen: Marienkäfer, die lästige Blattläuse auf Tomatenpflanzen vertilgen, Tigerfliegen, die gefräßige Heuschrecken jagen, und Raubmilben, die Weiße Fliegen verspeisen, die Kohlpflanzen verschimmeln lassen.
Dabei wollen sie die chemischen Spritzmittel nicht ersetzen, ganz im Gegenteil. „Beide Ansätze gehören zusammen“, versichert Melvin Fidgett, Chef der britischen Zentrale von Syngenta Bioline. Die Tochter des Agrarriesen züchtet eine Vielzahl nützlicher Insekten und Spinnentiere.
Dabei haben die Konzerne den biologischen Pflanzenschutz lange nicht ernst genommen. Zu teuer und zu wenig wirksam erschienen den Managern dort die Produkte. Doch seit konventionell wirtschaftende Landwirte sie verstärkt nachfragen, gehen die Umsätze massiv nach oben. So erlösten die Anbieter der Nützlinge 2011 in der Europäischen Union nach Auskunft des Branchenverbandes International Biocontrol Manufacturers Association rund 200 Millionen US-Dollar, vier Mal so viel wie 2000.
Daneben zählen Mikroorganismen zum Arsenal wie Bakterien, die Schädlinge bekämpfen. Damit machen die Anbieter EU-weit weitere 70 Millionen US-Dollar Umsatz. Hinzu kommen Sexuallockstoffe, die Insekten von der Paarung abhalten.
Zwar ist der Anteil des biologischen Pflanzenschutzes am Gesamtmarkt von 7,5 Milliarden Euro in der EU noch bescheiden. „Doch das Segment wächst viel schneller als der Rest der Branche“, sagt Bayer-Manager Peter Lüth. Folglich haben die Agrarriesen in den vergangenen zwei Jahren reihenweise kleinere innovative Anbieter übernommen. So auch Lüths 2013 von Bayer übernommenes Unternehmen Prophyta auf der Ostseeinsel Poel.
Handfeste Gründe
Zukäufe und Forschung in dem Segment haben sich die Konzerne weit über eine Milliarde Euro kosten lassen. Für diese Investitionen in die Grüne Raubwanze, den Siebenpunkt-Marienkäfer und Co. gibt es vier handfeste Gründe.
1. Druck vom Handel
2006 geriet der Discounter Lidl in die Schlagzeiten. Greenpeace hatte publik gemacht, dass spanische Paprika in den Geschäften der Handelskette weit über die gesetzlichen Grenzwerte mit Spritzmitteln belastet waren. Die Folge waren massive Umsatzeinbußen.
„Die riesige öffentliche Diskussion damals und die Kritik am Einzelhandel haben zum Umdenken geführt“, entsinnt sich Ludger Breloh, gelernter Landwirt und Manager für den Einkauf bei der Rewe-Gruppe. Die sechs großen deutschen Handelsketten – Rewe, Edeka, Aldi, Lidl, Metro und Tengelmann – verpflichteten ihre Lieferanten daraufhin auf eigene, strengere Grenzwerte für chemische Spritzmittel. Meist dürfen die Erzeuger maximal 70 Prozent des gesetzlich festgelegten Wertes erreichen; Lidl gestattet sogar nur 30 Prozent.
„Wir haben den Erzeugern von Gurken, Tomaten und Paprika zudem ins Pflichtenheft geschrieben, neben chemischen Verfahren den biologischen Pflanzenschutz zu nutzen. So kam die Methode in den konventionellen Anbau“, berichtet Breloh. Verstöße gegen die internen Standards werden streng geahndet. Im Wiederholungsfall kündigen die Einzelhändler den Bauern die Lieferverträge.
Aber auch die andalusische Regionalregierung reagierte auf den Skandal. Zu wichtig ist der Gemüseanbau für die Region Almeria. Rund drei Millionen Tonnen Paprika, Tomaten, Zucchini und Auberginen reifen hier unter 300 Quadratkilometer Treibhausplastikplanen; eine Fläche unter der ganz München verschwinden könnte.
Riesige Werbetafeln links und rechts der Straßen informieren heute über Nützlinge, die Schädlinge fressen. Bauern werden im Umgang mit den Tierchen geschult. „Die ganze Produktion in Almeria wurde von chemischen Insektiziden auf 80 Prozent biologischen Pflanzenschutz umgestellt“, sagt der Agrarexperte Lucius Tamm, der am privaten Schweizer Forschungsinstitut für biologischen Landbau arbeitet. Tausende Marienkäfer fressen seither in den Gewächshäusern Läuse von Paprika- und Auberginenblättern; Tigerfliegen jagen Heuschrecken.
2. Mehr Treibhäuser
Ideal für den biologischen Pflanzenschutz sind Treibhäuser. „Denn auf dem Acker fliegen oder rennen die Nützlinge eher davon“, sagt Sabrina Sieger, Managerin beim niederländischen Weltmarktführer für Nützlinge, Koppert Biological Systems. In abgeschotteten Kulturen dagegen können sie nicht ausbüchsen. Deshalb lohnt ihr Einsatz gerade dort.
Analysten zufolge wird der Umsatz mit Produkten aus dem Gewächshaus bis 2016 auch darum weltweit um zehn Prozent jährlich zulegen. Bei einigen Nutzpflanzen ist der Freilandanbau bereits auf dem Rückzug. So pflücken Arbeiter in den USA bald mehr Tomaten in Treibhäusern als auf dem Feld.
Billiger als Chemie
Die Vorteile der Glashäuser: Der Anbau ist kaum vom Wetter abhängig, die klimatischen Bedingungen lassen sich optimal regeln. Der Landwirt kann in sonnenverwöhnten Gegenden das ganze Jahr produzieren. „Alles wächst schneller, weil die Luft mit Kohlendioxid angereichert wird und die Pflanzen so gedüngt werden“, erklärt Felix Wäckers, Forschungschef des belgischen Nützlingsproduzenten Biobest.
Im klimatisch nicht gerade verwöhnten Berliner Umland könnte der Tomatenanbauer Havelia ohne Treibhäuser überhaupt nicht produzieren. Für ihn bedeutet der biologische Pflanzenschutz sogar eine Arbeitserleichterung: Einmal im Treibhaus angesiedelt, verrichten die Nützlinge selbstständig ihren Job. In den leeren, endlos scheinenden Hallen sind im Winter Tausende Florfliegen am Werk: Sie vertilgen verbliebene Läuse und bereiten die Flächen so auf die nächste Saison vor. „Die Tiere schuften gratis für uns“, freut sich Havelia-Controller Sebastian Schornberg. Kämen dagegen Chemikalien zum Einsatz, müssten die alle zwei Wochen von speziell ausgebildeten Arbeitern in teuren Schutzanzügen versprüht werden.
Es waren in erster Linie solch wirtschaftliche Gründe, die das Unternehmen vor sechs Jahren sukzessive auf Hummeln, Raubwanzen und Schlupfwespen umstellen ließen. Biologischer Pflanzenschutz sei schlicht billiger als Chemie, argumentiert Schornberg.
Mit dem Treibhausboom wächst nicht nur die Armada, sondern auch das Können der Nützlinge. So kommen ausgewählte Milbenarten zum Einsatz, die besonders schnell unterwegs sind – der Spitzenwert liegt bei mehr als einem Meter je Minute. So erreichen sie die Schädlinge schneller als bisher. Und die inzwischen eingesetzten Marienkäfer vertilgen mehr als 250 Läuse pro Tag.
Und auf der Messe Fruit Logistica in Berlin stellte Biobest 2013 sogar eine Art fliegende Ärzte vor, Hummeln die bei ihrer Arbeit einen Tunnel mit Sporenpuder passieren, das dann am haarigen Körper und den Beinen haftet. Diese Sporen eines Pilzes bekämpfen als Biopestizid den gefürchteten Grauschimmel bei Erdbeeren und Himbeeren, der zu schweren Ernteeinbußen führt. Beim Bestäuben bringen die Tiere die gesamte Blüte zum Vibrieren und verpassen ihr so verlässlich eine Portion Pflanzenschutz, versichert Forschungschef Felix Wäckers.
3. Rigide Verbote
In den Achtzigerjahren gerieten Bananen in Verruf, weil Bauern ihre Plantagen tonnenweise mit hochgiftigen Chemikalien spritzten. Diese töteten unter anderem Nematoden, Würmer, die die Wurzeln der Stauden zerfressen. Unbehandelt fielen die Bananenpflanzen beim kleinsten Windstoß um. Die meisten der damals verwendeten Spritzmittel sind heute verboten, weil sie das menschliche Nervensystem schädigen können. Neuerdings empfiehlt selbst Hersteller Bayer nur während der Wachstumsphase chemische Mittel einzusetzen, kurz vor der Ernte dagegen ein biologisches Produkt. Es enthält die Sporen eines Pilzes, der die Eier der Fadenwürmer zerstört.
Bei Tests auf den Philippinen kletterten die Erträge mit diesem Biomittel um fünf bis zehn Hektar je Staude – ohne giftige Rückstände. „Da es sehr spezifisch wirkt, ist die Gefahr von Resistenzen gering“, erklärt Bayer-Manager Lüth. Die Pilzsporen haben kürzlich in der EU eine Zulassung erhalten, um wurzelschädigende Würmer an Weinstöcken zu bekämpfen.
Das volle Potenzial ist noch lange nicht erschlossen
Heute haben Bauern oft gar keine andere Wahl mehr, als biologische Pflanzenschutzmittel zu nutzen. Die Furcht vor Gesundheitsschäden wie Krebs lässt weltweit immer mehr Chemikalien vom Markt verschwinden. Vor 1991 gab es etwa 850 zugelassene Pestizidwirkstoffe auf dem europäischen Markt, heute sind es nur noch knapp 450.
4. Neue Resistenzen
Anfang der Achtzigerjahre wurden fremde Fransenflügler-Arten in den US-Bundesstaat Florida eingeschleppt. Seither bangen etwa Tomatenbauern um ihre Ernte und spritzen reichlich Chemie gegen die Blattsauger. Doch die bildeten schon nach kurzer Zeit Resistenzen gegen die Substanzen, mittlerweile helfen sie kaum noch. Biologischer Pflanzenschutz ist in solchen Fällen oft der einzige Ausweg. Bayer experimentiert daher mit der Kombination zweier Mittel auf Basis von Mikroben und Pflanzenextrakten. Mit Erfolg, immer mehr Landwirte schwenken nun auf die wenn auch in diesem Fall teurere Alternative um.
Resistenzbildung kennen viele aus der Medizin, wo Antibiotika nicht mehr gegen Keime wirken. Derselbe Effekt tritt aber auch bei chemischen Spitzmitteln und Insekten auf. Beim Einsatz nützlicher Sechs- und Achtbeiner passiert das seltener, Räuber und Beute bilden stabile Populationen.
„Bio ist die Ware trotzdem nicht“, stellt Rewe-Manager Breloh klar. Denn gegen Unkräuter und Pilzkrankheiten spritzen die Arbeiter weiter Chemikalien, die den Insekten aber nicht schaden. Denn bisher gibt es zum einen nur wenige biologische Mittel gegen Pilze und so gut wie gar keine gegen unliebsames Grün. Zum anderen erhöhen chemische Dünger und Pflanzenschutzmittel die Erträge, weshalb „Biopräparate Chemikalien nie ganz verdrängen werden“, ist sich Breloh sicher.
Das volle Potenzial des biologischen Pflanzenschutzes ist aber noch lange nicht erschlossen: „Bei diesen Mitteln steckt die Forschung in den Kinderschuhen“, sagt Philipp Rosendorfer, Leiter der Pflanzenschutzforschung und -entwicklung bei BASF. „Die Qualität wird deutlich besser und die Produktvielfalt wachsen.“
Sogar die bisher wenig beliebte Gentechnik kommt dabei wieder ins Spiel. So arbeitet das britische Unternehmen Oxitec mit gentechnisch veränderten Olivenfruchtfliegen, um diesen Schädling in Olivenhainen zu dezimieren. Auch gegen diesen Schädling gibt es kaum noch wirksame chemische Mittel, da sich Resistenzen ausbreiten und ältere Produkte verboten sind.
Der Clou: Oxitec setzt massenhaft Männchen frei, deren weiblicher Nachwuchs stirbt, weil ein Gen verändert ist. Da sich die manipulierten Männchen mit wild lebenden Weibchen paaren, schrumpft die Schädlingspopulation, bis sie schließlich zusammenbricht. 2014 möchte die Firma in Europa einen ersten Freilandversuch in einem Olivenhain in Spanien starten. Noch haben die Behörden dem Freisetzungsantrag aber nicht zugestimmt.
Die Technik sei laut Oxitec besonders für Gewächshäuser, aber auch für offene Felder geeignet. Die Firma stützt sich auf Erfahrungen mit der massenhaften Freilassung veränderter Insekten auf der Insel Sansibar.
Dort konnten Forscher die Tsetsefliege komplett ausrotten. Sie überträgt die gefährliche Schlafkrankheit. Funktioniert die Methode auch in der Landwirtschaft, wären die Olivenbauern die lästigen Fruchtfliegen endgültig los.