Als Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster die Grafik mit den schrumpfenden grauen Balken in die Finger bekommt, ist er gerade auf dem Weg in den Italienurlaub. Nachdem er die Prognose durchgeblättert hat, ist ihm nicht mehr nach Küste und Sonne zumute. Schuster setzt sich an den Laptop und schreibt, seitenlang: über die Herausforderung, seine Stadt für künftige Generationen lebenswert zu gestalten. Er verfasst das Programm für ein "kinderfreundliches Stuttgart". Denn die grauen Balken aus dem Statistischen Amt, die der OB in den Urlaub mitgenommen hat, zeichnen das düstere Bild einer vergreisenden Stadt, in der es in einem Jahrzehnt ein Viertel weniger Kleinkinder geben wird.
Heute, elf Jahre später, sitzt Schuster an einem runden Holztisch in seinem Büro; wieder vor einer Grafik – nun mit gelben Säulen, die immer weiter nach oben ragen: "Jetzt leben 25 Prozent mehr Kinder in Stuttgart", sagt er. Es ist auch sein Verdienst.
Kinderbetreuung und hohe Energieeffizienz
Und nicht nur das. Ohne es so zu nennen, verordnete Schuster seiner Stadt im vergangenen Jahrzehnt ein umfassendes Nachhaltigkeitskonzept – das viele Dimensionen dieses Begriffs vereint: Er engagierte ehrenamtliche Bildungspaten für schwache Schüler und steigerte so den Anteil von Migrantenkindern in Gymnasien auf zwölf Prozent. Kaum eine andere deutsche Großstadt kommt auf einen so hohen Wert. Der CDU-Politiker setzte zudem Anreize für die Dämmung städtischer Gebäude – und bescherte Stuttgart damit bis heute zig Preise für seine Energieeffizienz. Und Schuster verkündete das Ziel flächendeckender Kinderbetreuung. Heute liegt die Stuttgarter Kita-Versorgung bei 36 Prozent – auch das ist ein Spitzenwert unter westdeutschen Großstädten.
Wie weit Schuster seit dem Weckruf in seinem Italienurlaub gekommen ist, zeigt der WirtschaftsWoche-Sustainable-City-Indikator: Unter den 50 größten Städten Deutschlands landet die Schwaben-Metropole auf dem ersten Platz. Dafür haben Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und des Beratungsunternehmens Kiel Economics mit Unterstützung des französischen Umweltkonzerns Veolia einen völlig neuen Indikator für die WirtschaftsWoche entwickelt.
Für künftige Generationen sorgen
Das Zahlenwerk gibt Aufschluss darüber, welche Großstädte nachhaltig wirtschaften – also die Natur schonen, Energie sparen, auf saubere Mobilität setzen und Bildungschancen für Menschen aller Bevölkerungsgruppen schaffen. Der Nachhaltigkeits-Check ergänzt so den jährlich im Herbst veröffentlichten WirtschaftsWoche-Städtetest zu Wirtschaftskraft und Standortqualität.
Der Kerngedanke des Sustainable-City-Indikators: Städte entwickeln sich nur dann nachhaltig, "wenn neben der aktuellen Wohlfahrt auch die künftiger Generationen gesichert ist", sagt CAU-Ökonom Martin Quaas. "Daher müssen wir neben Umweltschutz und Ressourceneffizienz auch soziale Faktoren und die ökonomische Zukunftsfähigkeit berücksichtigen." Damit ist Nachhaltigkeit mehr als ein reiner Ökoindikator – etwa für die Luftqualität oder die Zahl der Bäume im Stadtwald.
Das macht die Sache komplex.
Denn Städte, die wirtschaftlich stark sind, belasten teils überproportional die Umwelt – Düsseldorf zum Beispiel. Um zu ausgewogenen Aussagen zu kommen, haben die Wissenschaftler daher Abertausende Werte für 56 Einzelindikatoren erhoben und diese zu sechs Kategorien verdichtet: Energie & Verkehr, Umwelt, Sozialkapital, Humankapital, Ökonomische Nachhaltigkeit und Transparenz.