Stromnetze Die Energiewende wird zum Drahtseilakt

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Raumfahrttechnik fürs Netz

Das bittere Fazit aus einem Jahr Energiewende
Kühltürme des Braunkohlekraftwerkes der Vattenfall AG im brandenburgischen Jänschwalde (Spree-Neiße) Quelle: dpa
Freileitungen verlaufen in der Nähe eines Umspannwerkes bei Schwerin über Felder Quelle: dpa
Die Flagge Österreichs weht auf einem Hausdach Quelle: dpa
Ein Strommast steht neben Windkraftanlagen Quelle: AP
Windräder des Windpark BARD Offshore 1 in der Nordsee Quelle: dpa
Eine Photovoltaikanlage der Solartechnikfirma SMA Quelle: dpa
Euroscheine stecken in einem Stromverteile Quelle: dpa

Ursprünglich für Raumfahrt und Rennfahrzeuge entwickelt, hat das Material den Vorteil, sich auch bei hohen Temperaturen kaum auszudehnen. Gängige Aluminium-Stahlseile dagegen beginnen ab 80 Grad Celsius durchzuhängen. An wärmeren Tagen ohne Wind sind die schnell erreicht. Sicherheitshalber schicken die Netzbetreiber heute selbst bei Minusgraden nur so viel Strom durch die Leitungen, wie diese im Sommer aushalten würden.

Die mit Keramikfasern verstärkten Verbundwerkstoffdrähte der Amerikaner hängen frühestens bei Temperaturen von mehr als 240 Grad gefährlich durch. Zudem transportieren sie bis zu drei Mal mehr Strom. Weshalb Jürgen Germann, Leiter der deutschen 3M-Elektrosparte, sie als „ein Element im Baukasten der schnellen Netzertüchtigung“ verkauft. Unter dem Motto „Neue Seile statt neue Trassen“ bieten auch der belgische Konzern Lamifil, das österreichische Unternehmen Lumpi-Berndorf Draht- und Seilwerk, die WDI-Westfälische Drahtindustrie aus Hamm und ThyssenKrupp VDM in Werdohl eigene Hochtemperaturseile an.

3M hat seine Stromleiter inzwischen schon nach China, Russland, Frankreich und sogar auf die Bahamas verkauft. In Deutschland testen alle vier Netzbetreiber das Produkt.

Deutsche Netzbetreiber halten sich zurück

Am mutigsten geht 50Hertz vor. Die Berliner haben einen mehrere Kilometer langen Teilabschnitt der sogenannten Südwestkuppelleitung zwischen Thüringen und Bayern mit den neuartigen Seilen ausgestattet. Weitere Abschnitte, bei dem die 50Hertz-Ingenieure auch Konkurrenzprodukte erproben, sollen folgen.

Noch ist die Branche zurückhaltend. Zum einen sind die ACCR-Stromadern noch nicht ausreichend langzeiterprobt. So ist offen, ob sie die wirtschaftlich erforderliche Lebensdauer von mindestens 30 Jahren erreichen. Außerdem kostet jeder Kilometer Seil mindestens das Fünffache herkömmlicher Leitungen.

Gäbe es eine Garantie, dass ACCR-Leitungen lange genug halten, würde sich ihr Einsatz wegen der höheren Leistungsfähigkeit dennoch rentieren. Das hat Armin Schnettler, Leiter des Instituts für Hochspannungstechnik an der RWTH Aachen ermittelt. Danach beläuft sich die Investition für eine 200 Kilometer lange, nachgerüstete Stromtrasse auf 219 Millionen Euro – gerechnet über 25 Jahre. Eine konventionell ertüchtigte Strecke wäre 50 Millionen Euro teurer.

Amprion-Geschäftsführer Hans-Jürgen Brick bleibt dennoch vorsichtig. Er will das ACCR-Potenzial, erheblich mehr Strom transportieren zu können, erst einmal nur verwenden, wo akute Netzengpässe bestehen. „Da kann es sinnvoll sein.“

Streit um Solarförderung

Lieber vertrauen die Netzbetreiber bewährter Leitungstechnik. Um die Kapazität ihrer Starkstromtrassen dennoch deutlich zu erhöhen, tauschen sie in großem Umfang 220.000-Volt- gegen 380.000-Volt-Leitungen aus. Dank der höheren Spannung verdreifacht sich die Übertragungsleistung.

Aufrüsten kostet weniger als der Bau neuer Trassen. Und die Masten sind schon genehmigt, sofern sie nicht erhöht werden. Im Schwarzwald will TransnetBW nach der Umrüstung auf 380.000 Volt sogar 120 Kilometer des 220.000-Volt-Netzes komplett abreißen. Langfristig will das Unternehmen – wie Amprion – sein ganzes Netz auf 380.000-Volt-Leitungen umstellen.

Doch selbst deren Kapazität reicht nicht, um die gigantischen Mengen Wind- und Solarstrom aufzunehmen, die an manchen Stunden in die Netze schießen. So produzierten die über Deutschland verstreuten Windräder am stürmischen 5. Januar dieses Jahres 500 Millionen Kilowattstunden. Alle deutschen Kernkraftwerke hätten an diesem Tag allenfalls 300 Millionen Kilowattstunden liefern können.

Auch Solarstrom erreicht Größenordnungen, die das heutige Netz gefährden. Am sonnigen 2. Juni dieses Jahres etwa flossen mittags 135 Millionen Kilowattstunden aus allen deutschen Solarzellen.

Auch die Kosten für die Solarförderung sind enorm, doch die ursprünglich geplante Kürzung wurde im Bundesrat gestoppt. Im Vermittlungsausschuss ist nun ein Kompromiss gefunden.

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