Das Thema ist nicht neu. Und die Pointe des Buches seit Jahren schon ein Comedy-Hit unter Umweltbewegten: „Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine: ‚Hast schon mal besser ausgesehen!‘ Sagt der andere: `Ich weiß. Hab‘ homo sapiens.‘ Darauf der Erste: ‚Hatte ich auch mal. Geht vorüber.‘“ Und doch ist das Buch von Elisabeth Kolbert ein Volltreffer, ein Musterbeispiel für guten Wissenschaftsjournalismus: auf unterhaltsame Weise lehrreich, aufregend nüchtern und in seinem Beispielreichtum gnadenlos präzise.
Zahlen zur Erderwärmung
...forderte die Hitzewelle von 2003 allein in Frankreich.
...Dollar Mehrkosten für den globalen Küstenschutz.
weniger Hitze in Wüstenstädten dank optimaler Luftströmung.
Versauernde Meere, Korallenskelette und die Entwaldung der Tropen, Iridiumschicht, Aragonitsättigung und Impakthypothese, der Überlebenskampf von Seepocken, Riesenalks und Stummelfußfröschen – aus allen Gegenden der Erde und Himmelrichtungen der Wissenschaft trägt Kolbert faszinierende Fakten zusammen, setzt sie in Beziehung zueinander und verdichtet sie mit texthandwerklicher Sicherheit zu einer großen Erzählung.
Was bleibt von der selbsternannten Krone der Schöpfung?
Im Zentrum dieser Erzählung steht das so genannte „Anthropozän“, in dem der Mensch nicht erscheint (Max-Frisch-Leser wissen: das war im Holozän), sondern seine geologischen Spuren hinterlassen haben wird: „Selbst ein mäßig kompetenter Stratigraf“, so Kolbert, werde in hundert Millionen Jahren erkennen können, „dass in dem Zeitraum, der für uns Gegenwart ist, etwas Außergewöhnliches passiert ist…, obwohl alles, was wir für große Werke des Menschen halten – Bibliotheken, Museen, Städte, Fabriken - zu einer Sedimentschicht verdichtet sein wird, die kaum dicker sein wird als ein Zigarettenpapierchen.“
Außergewöhnlich an diesem Satz ist zunächst einmal der Gedanke, der ihm zugrunde liegt: Nur eine Spezies, die anmaßend genug ist, sich für die Krone der Schöpfung zu halten, kann auch auf die vermessene Idee verfallen, sie könne in die Annalen der Geologie eingehen. Was also ist wirklich dran an der Theorie des Anthropozän? Was genau ist das Außergewöhnliche, mit dem der Mensch in der erdzeitlichen Millisekunde der vergangenen 200 Jahre angeblich nachhaltig in planetarische Prozesse eingreift? Und ist dieses Außergewöhnliche wirklich so außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass 99 Prozent aller Arten, die je auf der Erde in den Genuss von Sonnenlicht und Sauerstoff kamen, längst ausgestorben sind?
Evolutionäres Hintergrundsterben
Elisabeth Kolbert beantwortet diese Fragen nicht mit dem bebenden Ton eines Bestseller-Apokalyptikers. Sondern sie dekonstruiert alle Einwände, Schritt für Schritt, mit analytischer Schärfe und rhetorischem Schliff, in einer Art wissenschaftlichem Indizienprozess, den sie gegen das Virus des modernen Wirtschaftsmenschen führt.
Der Riesenalk zum Beispiel, eine Art Urpinguin, der sich bis zu seiner Entdeckung vermutlich in millionenfacher Auflage von Norwegen bis Italien aufhielt, war für den Menschen als Nahrungsmittel, Fischköder und Matratzenfüllung so ergiebig, dass seine Bestände sich im Laufe des 18. Jahrhunderts drastisch reduzierten. Und weil seine Bälge und Eier unter Adligen damals noch dazu als Trophäen die Runde machten, kann Kolbert uns minutiös nachweisen, dass das letzte Riesenalk-Pärchen im Juni 1844 auf einer kleinen, zur Island gehörenden Insel namens Eldey von drei namentlich bekannten Männern erwürgt wurde.
Die Kollateralschäden der Globalisierung
Eine anekdotische Geschichte, gewiss. Aber wenn man bedenkt, dass sich das natürliche, evolutionäre „Hintergrundaussterben“ in einem viel langsameren Tempo vollzieht - alle 700 Jahre zum Beispiel trifft es eines von insgesamt 5500 Säugetieren -, ist man doch ein wenig geschockt über das Schulterzucken, bei dem man sich soeben ertappt hat.
Zumal das von Menschen absichtsvoll angezettelte Artensterben harmlos ist im Vergleich zu den Kollateralschäden der Globalisierung. In Mittelamerika zum Beispiel meuchelt der aus Europa oder Afrika eingeschleppte Chytridpilz den Panama-Stummelfußfrosch dahin, während die nicht-indigene braune Baumnatter auf Guam alle Singvögel verschlingt - um nur zwei Beispiele von Hunderten zu nennen.