Tracking der Energiewende #31 Darum bleibt das größte Solar-Potenzial noch ungenutzt

Quelle: imago images

Zügig schreitet der Ausbau der Solarenergie voran – auf Wohnhäusern und freien Feldern. Das größte Potenzial aber bleibt weitestgehend ungenutzt: die Dächer von Logistikhallen und Industriebetrieben. Wie die Politik dies mit ein paar Kniffen ändern könnte.

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Das Industriegebiet Billbrook-Rothenbergsort ist ein Gigant, in fast jeder Hinsicht. Mit mehr als 700 Hektar Fläche ist das größte Gewerbegebiet Norddeutschlands kaum kleiner als der Tegernsee. Als hier am Osterwochenende ein Autolager brannte, entwickelte sich, na klar, ein Großbrand, der Himmel über der Hamburger Innenstadt verdunkelte sich zeitweise.

In den mehr als 1000 Betrieben arbeiten mehr als 20.000 Menschen, Hunderte Lkw fahren hier täglich ein und aus, auf den vielen Kanälen können die meisten Betriebe auch vom Wasser aus erreicht werden. Von oben betrachtet gleicht dies einem Wimmelbild aus Straßen, Wasserwegen, Fahrzeugen, Parkplätzen und: vielen, vielen grauen Dächern.

Matthias Lingg jedoch erkennt in Satellitenbildern wie dem aus Billbrook vor allem einen Mangel: „Viel zu wenig Dächer von Gewerbeimmobilien werden für die Solarenergie genutzt. Das Potenzial ist in Deutschland nach wie vor riesig“. Klar, Lingg muss das sagen, mit seinem Unternehmen Enviria lebt er davon, von Unternehmen Dachflächen zu mieten, um dort Solaranlagen zu betreiben oder diese gleich im Auftrag der Firmen auszubauen. Dennoch hat Lingg, der beim Marktführer Enviria die Planung neuer Projekte verantwortet, einen Punkt: Während der Ausbau von Solaranlagen auf Privathäusern und ebenso auf freien Flächen derzeit deutlich zunimmt, tut sich auf Gewerbehallen noch verhältnismäßig wenig. Zu wenig, ist deren Potenzial für die Energieerzeugung doch immens. Gut 21 Millionen gewerbliche Bauten gibt es in Deutschland, dem gegenüber stehen gut 19 Millionen Wohnhäuser. Und die Dachflächen von Gewerbebauten sind im Durchschnitt deutlich größer als jene von Wohnhäusern, vermutlich um den Faktor 7 bis zehn, so Schätzungen, konkrete Zahlen gibt es nicht.

Genutzt aber werden diese Flächen kaum, wie etwa der Blick auf Billbrook zeigt. Von den vielen Bauten sind nur wenige Dutzend mit Solaranlagen bedeckt. Auf einigen weiteren finden sich ein paar wenige Einzelanlagen, die jedoch nur einen kleinen Teil des Dachs bedecken. "Ein Problem ist noch, dass die Errichtung einer Photovoltaikanlage immer durch den Gebäudeeigentümer entschieden wird. Dieser hat das letzte Wort, was mit dem Dach passiert", schildert Enviria-Gründer Melchior Schulze Brock ein typisches Hindernis. "In der Praxis kommt oft das Problem auf, dass die gewerblichen Mieter, die den Strom nutzen, eine Solaranlage einbauen möchten, der Eigentümer jedoch erst überzeugt werden muss."

Keine Kritik zu erwarten

Aus gesellschaftlicher Sicht ist das ein Ärgernis. Um die Ziele für den Umbau des Energiesystems zu erreichen, muss sich die Zahl der Solaranlagen im Land bis 2030 mehr als verdreifachen. Schon jetzt gibt es immer wieder Streit um Freiflächenanlagen, die große Gebiete belegen, die sonst etwa landwirtschaftlich genutzt werden könnten. Bei der Nutzung der Dächer von Logistikhallen und Industriebetrieben sind solche Dispute nicht zu erwarten. Entsprechend einig sind sich die politischen Parteien deshalb auch dabei, den Ausbau solcher Anlagen für eine gute Sache zu halten.

Zumindest ganz grundsätzlich. In der Praxis aber, darüber klagen nicht nur betroffene Unternehmen wie Enviria, hat die Politik selbst viele Hürden für den Ausbau erst geschaffen oder wider besseres Wissen belassen. Und auch ein paar praktische Hürden sprechen dagegen, dass die auf dem Papier immensen Potenziale von Solaranlagen auf Gewerbedächern tatsächlich vollständig ausgeschöpft werden.



Zunächst nämlich haben diese Gebäude zwei Vorteile gegenüber privaten Wohnhäusern: Die Dächer sind zumeist flach, was eine optimale Ausrichtung der Solarmodule möglich macht. Zudem wird der Strom in Unternehmen, anders als in Privathäusern, vor allem während der üblichen Arbeitszeit am Tag verbraucht, wenn auch die Sonne scheint. Größere Verluste durch Speicherung können so vermieden werden.

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Dem gegenüber stehen jedoch zwei Argumente: Zum einen müssen Gewerbedächer überhaupt in der Lage sein, viele Fotovoltaikanlagen zu tragen, was vor allem bei großen Logistikhallen, bei denen Wände und Dach allein die Funktion einer Außenhaut haben, zum Problem wird. Aus Sicht der Anbieter aber ist das in der Praxis nur noch selten ein echter Hinderungsgrund. "Aktuell gibt es wirklich wenige Projekte, die daran scheitern", so Schulze Brock. "Aktuell werden größtenteils Ost-West-Systeme auf Flachdächern gebaut. Vor zehn Jahren wurden nur nach Süden ausgerichtete Anlagen gebaut. Man benötigte daher aufgrund einer größeren Windangriffsfläche mehr Aufdachballast."

 Zum anderen müssen die Betriebe all den Strom überhaupt gebrauchen können. Gerade dort aber, wo die Dachflächen wie etwa bei Lagerhallen besonders groß sind, ist der Strombedarf oft sehr gering.

Regulatorisches Zwitterdasein

Womit die Politik ins Spiel käme. "Es sollten keine Anlagen wegen ihres hohen Eigenverbrauchsanteils kleiner gebaut werden", erläutert  Schulze Brock. Große Solaranlagen auf Gewerbedächern jedoch lohnen sich nur dann, wenn der Strom auch ins Netz eingespeist werden kann. Genau das aber ist bis dato oftmals eher unattraktiv. Ein Haken ist etwa der Netzanschluss, für den sich die Betreiber der Netze mitunter viel Zeit lassen. „Wartezeiten von mehreren Monaten sind Standard“, klagt Lingg. Hinzu kommen die Kosten solcher Anschlüsse, die gerade bei eher kleinen Gewerbeanlagen ins Gewicht fallen, wie er vorrechnet: Wer beispielsweise eine Anlage von 0,5 Megawatt ans Netz anschließen will, müsse allein dafür Kosten von 180.000 Euro einplanen. Solarverbände schlagen deshalb vor, die Kosten für den Netzanschluss zu deckeln, um solche Extreme zu verhindern.

von Florian Güßgen, Daniel Goffart, Nele Antonia Höfler, Silke Wettach

Insgesamt stecken die großen Dachanlagen auf Gewerbeflächen oft in dem Dilemma, dass sie regulatorisch betrachtet eine Art Zwitterdasein führen: Wie kleine Privatanlagen sind sie auf Dächern montiert, erbringen dabei aber Leistungen, die eher mit großen Anlagen auf dem freien Feld zu vergleichen sind. Welche Folgen das hat, zeigt sich etwa beim sogenannten Repowering, also dem Austausch alter Solarmodule gegen leistungsfähigere neue. Da bei solchen Umbauten keine Anschlusskosten anfallen und kaum ein Aufwand entsteht, sind sie ein Mittel, um relativ einfach viel neue Leistung zu erzeugen. Entsprechend großzügig werden sie gefördert: Wird eine alte Anlage durch eine neue ersetzt, bleiben die Ansprüche auf Vergütungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz – die bei neuen Großanlagen schon länger nicht mehr gezahlt werden – erhalten. Diese Regel gilt aber nur für Freiflächenanlagen, Dachanlagen, egal welcher Größe, sind ausgenommen.

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Die Branche muss nun auf die Solarstrategie hoffen, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für Anfang Mai angekündigt hat. Ein erster Entwurf kursiert bereits – der keinerlei Maßnahmen für die speziellen Probleme großer Dachanlagen vorsieht. Derzeit läuft die Konsultationsphase, die betroffenen Verbände haben sie zum Appell an den Minister genutzt. Auf dass die Lagerhallen von Hamburg-Rothenburgsort bald auch dann von sich reden machen, wenn gerade keine von ihnen abbrennt.

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