Urbanisierung Die größte Völkerwanderung der Geschichte

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Bedürfnisse der Stadtbewohner

Zukünftig kommt es bei der Städteplanung mehr denn je darauf an, bestehende Kapazitäten intelligenter zu nutzen. Quelle: AP

Doch es geht noch um mehr: Die US-Soziologin und Stadtforscherin Saskia Sassen rechnet damit, dass sich künftig nur solche technologischen Systeme durchsetzen, die sich den vielfältigen Bedürfnissen der Stadtbewohner anpassen können. Es ist ein fortwährender Suchprozess. Sassen glaubt, dass Autos in nicht allzu ferner Zukunft in vielen Städten zu einem puren Personenbeförderungsmittel werden. Zumindest in den Stadtzentren könnten dann kleine selbststeuernde Elektromobile die Bewohner wie heute Taxis zum jeweils nächsten Ziel transportieren. Sie wären ständig in Bewegung, statt wie heute die meiste Zeit wertvollen Stadtraum als Parkplatz zu missbrauchen.

Der Tod der Fahrpläne

In der Vision des italienischen Ingenieurs und Architekten Carlo Ratti, der am angesehenen Massachusetts Institute of Technology lehrt, durchziehen in wenigen Jahren Sensornetze lückenlos Straßen und Gebäude. Sie registrieren sämtliche Verkehrsströme und leiten zum Beispiel öffentliche Busse flexibel dorthin, wo gerade der höchste Bedarf herrscht. Fahrpläne sind passé. Ratti ist überzeugt: „Die digitale Technologie erobert die Städte.“ So hat in den Metropolen rund um den Globus ein aufregender Wettbewerb um die besten Ideen begonnen.

Not macht erfinderisch

Zur Avantgarde gehört die südbrasilianische 1,8-Millionen-Einwohnerstadt Curitiba: Weil der Stadt das Geld für zusätzliche Müllkippen fehlte, beschloss die Regierung, möglichst viel Abfall wiederzuverwerten. Seither sammeln die Einwohner, ganz nach deutschem Vorbild, Papier, Kunststoffe und Metalle in separaten Tonnen. Für die ärmeren Bewohner ist die Mülltrennung zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden. Sie erhalten im Gegenzug Lebensmittel und Schulhefte.

Auch der öffentliche Transport ist in Curitiba effizient gelöst: Statt unbezahlbare U-Bahn-Röhren unter die Stadt zu betonieren, legte sie schnelle Bustrassen an. An den Haltestellen schützen Röhren aus Stahl und Plexiglas die Fahrgäste. Sie besteigen die 28 Meter langen, mit Biodiesel betankten Gelenkbusse über fünf Doppeltüren. Bis zu 250 Personen passen in die XXL-Busse. Die Fahrer schalten per Knopfdruck eine grüne Welle. Zu Stoßzeiten rauscht alle 55 Sekunden ein Bus heran.

Anders als in Curitiba gäben sich viele Stadtplaner stets noch der Illusion hin, der zunehmenden Bevölkerung mit einem Wachstum der Stadtfläche begegnen zu müssen, kritisiert der Urbanisierungsforscher Jayant Kalagnanam aus Singapur. Es gehe aber darum, bestehende Kapazitäten intelligenter zu nutzen. „Die neuen Techniken schaffen dafür jede Menge Spielraum“, sagt er.

Doch bis der Umbau der Städte überall an Fahrt gewinnt, werden noch einige Jahre vergehen. Jahre, in denen die Bewohner São Paulos früh aufstehen müssen.

Dort, an der Avenida Berrini, spielt sich jeden Morgen ein seltsames Ritual ab: Spätestens ab vier Uhr stellen Beschäftigte der exklusiven Geschäftsmeile mit ihren Autos die wenigen Parkplätze in den Nebenstraßen zu. Dann klappen sie die Sitzlehnen nach hinten und schlafen noch drei Stunden bis zum Arbeitsbeginn. Der Grund: Als das Zentrum geplant wurde, hatte schlicht niemand an Parkplätze gedacht.

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