Urban Wiesing im Interview „Die Grenzen der Pluralität“

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Wovon sprechen Sie? Von Schwangerschaftsabbrüchen?

Nein, die lassen wir mal außen vor. Wenn die Lebensschützer wirklich Embryonen schützen wollen, müssten sie sich der Spirale, einigen Formen der Mini-Pille und der „Pille danach“ zuwenden, denn diese Maßnahmen hindern Embryonen millionenfach daran, sich aus jenem frühen Stadium weiterzuentwickeln, das geschützt werden soll. Diese Verhinderung des Weiterlebens früher Embryonen geschieht mit Teilfinanzierung der Krankenkassen, ohne zwingenden Grund und ohne das Dilemma ungewollter Schwangerschaften. Hier ließe sich viel mehr für den Embryonenschutz tun. Zudem lagern Zehntausende befruchtete Eizellen im Vorkernstadium in deutschen Laboren, weil sie nach dem Wortlaut nicht unter das Embryonenschutzgesetz fallen, und unklar ist, was mit ihnen geschieht. Wer also ernsthaft Embryonen in quantitativ bedeutsamem Maß schützen wollte, hätte auf anderen Gebieten viel mehr zu tun als bei den 20 bewilligten Anträgen zur embryonalen Stammzellforschung bis Anfang 2007.

Möglicherweise ist diese Problematik den Diskutanten gar nicht klar?

Natürlich ist sie das, denn Forscher weisen seit Jahren, seit die Debatte in Deutschland läuft, immer wieder darauf hin, wie unglaubwürdig die Argumentation ist.

Warum gehen die Lebensschützer Ihrer Meinung nach nicht darauf ein?

In dem Augenblick, in dem die Lebensschützer zugeben würden, man könnte beim Embryonenschutz mit guten Argumenten anderer Meinung sein, müssten sie ihre Meinung als eine Partikularmeinung ansehen und der Liberalisierung zustimmen. Sie könnten dann nur noch für ihre Wertegemeinschaft, beispielsweise für ihre Kirche, sprechen. Weil sie ihre Auffassung aber für ein unverzichtbares Fundament einer Gesellschaft halten, soll der Pluralität hier eine Grenze gesetzt werden. Man dürfe hier nicht unterschiedlicher Meinung sein.

Wie kommen die Parlamentarier aus dem Entscheidungsdilemma?

Ein säkularer Staat, der zu diesem Streit eine übergeordnete Position einnehmen sollte, muss meiner Meinung nach argumentieren, dass man die Argumente bestimmter Wertgemeinschaften wie etwa der katholischen Kirche eben nicht für alle Mitglieder unserer Gesellschaft verbindlich machen kann, sondern allenfalls für die Mitglieder dieser Wertegemeinschaften. Und deshalb sollte der Staat die Embryonenforschung in sehr engen Grenzen erlauben. Denn ich glaube nicht, dass die Pluralität unserer Gesellschaft beim Embryonenschutz aufhören muss. Und wir werden nicht unsere moralische Basis zerstören , wenn wir die Forschung an embryonalen Stammzellen zulassen und die Grenzen etwas weiter fassen als bisher.

Andere Länder wie Großbritannien, Schweden und sogar Spanien tun das ja schon.

Eben. Doch diese und weitere Länder müssten wir dann konsequenterweise aus der Gruppe zivilisierter Länder streichen. Das ist doch hochmütig. Ich maße mir nicht an, Israel und andere Länder aus dem Kreis der zivilisierten Nationen auszuschließen, nur weil sie mit guten Gründen und innerer Überzeugung Embryonenforschung erlauben.

Was für einen Ausgang erhoffen Sie sich für die nächste Bundestagsdebatte?

Ich hoffe auf eine Anpassung des 2002 gefundenen Kompromisses an die neuen Gegebenheiten, damit deutsche Forscher nicht ins Hintertreffen geraten. Für den weltweiten Fortgang der Stammzellforschung ist das allerdings vermutlich unerheblich. Stellvertreterkriege sind in der Regel für die Sache, um die gekämpft wird, weitgehend irrelevant. Wie sie ausgehen, hat kaum eine Bedeutung. Und so ist es auch in dieser Debatte. Es mag ernüchternd klingen, aber was der Bundestag in Kürze entscheiden wird, dürfte langfristig allenfalls als Fußnote in die Geschichte der Stammzellforschung eingehen. Sie wird international auf jeden Fall weitergehen.

Und was heißt das für Deutschland?

Dass die Forschung hier zum Erliegen kommt, wenn die Weichen gegen die Forschung gestellt werden. Doch keine Sorge: Sobald etwas Nützliches aus der Stammzellforschung hervorgeht, wird Deutschland nicht darauf verzichten, genau dieses zu nutzen, schon gar nicht, wenn es um Gesundheitsleistungen geht. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive ist die Debatte ein Ausdruck verantwortungsloser deutscher Scheinheiligkeit in der Entwicklung und Nutzung neuer Technologien – nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

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