Wirtschaft von oben #139 – Ressource Sand Dieser Raubbau macht den Bauboom erst möglich

05.01.2022: Sandabbau auf dem Mekong in Kambodscha: Einige der Schiffe in der Mitte des Flusses, im Bild blau und rot, saugen den Sand ab. Quelle: LiveEO/ESA

Für das Baugewerbe ist Sand der wichtigste Rohstoff. In China und am Mekong werden Gewässer nahezu geplündert, um den Bauboom des Kontinents zu bedienen, wie exklusive Satellitenaufnahmen zeigen. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Die gewöhnlich ruhigen Gewässer in der Haeju-Bucht vor Nordkorea erinnern am 16. Mai 2019 eher an die geschäftigen Häfen von Singapur und Schanghai. Etwa 100 Schiffe, das zeigen Satellitenaufnahmen von LiveEO, liegen an diesem Tag vor Ort. Die Besatzungen haben einen ganz bestimmten – illegalen – Auftrag: Sand vom Meeresboden abzusaugen, um mit diesem den Bauboom in China und anderswo am Leben zu halten.

Die Aktion, über die das US-amerikanische Center for Advanced Defense Studies (C4ADS) zuerst berichtete, verstieß gegen die Nordkorea-Sanktionen der UN. Doch das schreckte die Hinterleute offenbar nicht ab. Denn das Geschäft mit dem Sand ist sehr lukrativ. Keine natürliche Ressource außer Luft und Wasser kommt in der Industrie mehr zum Einsatz. In jedem Fenster, in Zahnpaste und Farbe, in Handybildschirmen und Siliziumchips steckt sie drin.

Wenn nicht auf Sand, sind moderne Städte mindestens aus Sand gebaut. Und in diesen Städten wollen immer mehr Menschen leben. In den vergangenen 70 Jahren hat sich die Zahl der Stadtbewohner verfünffacht. Heute sind es rund vier Milliarden.


Ob in Nordkorea, Indien, Marokko, am Poyang-See in China oder am Mekong in Südostasien – in vielen Ländern, legal oder illegal, ist Sand ein riesiges Geschäft. Es ist so groß, dass Expertin Kiran Pereira, Gründerin der Organisation SandStories, und Journalist Vince Beiser, Autor des Buches „Sand. Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinnt“, schon seit langem über mafiöse Strukturen berichten, die auch vor Morden an unliebsamen Anwohnern, Aktivistinnen und Journalisten nicht zurückschrecken. Die Folgen des meist unregulierten Marktes sind sichtbar, ganz unmittelbar für die Menschen in den Abbaugebieten und auch aus dem All, wie die exklusiven Aufnahmen zeigen.

In Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, nimmt der Bauboom absurde Ausmaße an. Mit dem Sand, der dem Mekong direkt nebenan entnommen wird, lassen die Firmen nicht nur Häuser und Malls bauen. Weil es an geeigneten Flächen für die Ausdehnung der Stadt fehlt, schütten die Arbeiter zuvor Seen mit dem Sand zu, um Fundamente zu errichten. Den Landwirten, die an den Gewässern anbauen, entzieht das die Lebensgrundlage.


Das Ausbaggern hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt des Flusses selbst. Er kann aus dem Gleichgewicht kommen, wenn mehr Sedimente entnommen werden als auf natürliche Weise einströmen. Sie haben die Gewässer über Jahrhunderte geformt und geben ihnen Stabilität. Im Fall des Mekong zeigt eine Studie aus dem Jahr 2020, dass deutlich weniger Sedimente flussabwärts in Richtung Delta strömen als Material abgeschöpft wird. So wird der Fluss ausgehöhlt und seiner natürlichen Schutzhülle beraubt.

Die Bagger und Saugrüssel vertiefen das Flussbett und weiten es aus. Das C4ADS unterscheidet in erster Linie zwischen Bagger- und Lastschiffen, die das gehobene Gut dann abtransportieren. Deswegen liegt auf den Bildern neben einem Bagger meist auch ein Lastkahn. Und die können schwere Schäden anrichten, etwa wenn Untergrund oder Flussbereiche erodieren. Im schlimmsten Fall hat das unmittelbare Auswirkungen auf den Menschen, wie ein Beispiel aus dem Mai 2021 zeigt: Damals stürzten nördlich von Phnom Penh, in der Gegend, die die LiveEO-Fotos zeigen, Häuser und Geschäfte in den Fluss. Die Besitzer machten dafür Berichten zufolge den Sandabbau verantwortlich.

Je näher am Delta, desto weniger Sedimente im Fluss, desto prekärer die Lage für die Menschen – das bekommen auch die Vietnamesen am Mekong zu spüren. In ihrem Land mündet der Fluss ins Südchinesische Meer. Hier ist das ökologische Ungleichgewicht am größten, bis hierhin kommt kaum noch Sediment durch. Dämme zur Energieerzeugung flussaufwärts in Kambodscha, Laos und China verstärken den Schwund unterwegs noch. Viel von dem sandigen Material bleibt in den Dammbauten hängen. Anders gesagt: Der Sand, der es durch die Staudämme schafft, den fischt spätestens in Kambodscha einer aus dem Wasser.

Doch warum schöpft niemand aus den reichhaltigen Vorkommen in Wüstenregionen? Die Crux mit dem Sand ist: Sand ist nicht gleich Sand. Der aus der Wüste etwa und auch feiner Strandsand sind für Baumaterial nicht geeignet. Sie wurden vom Wind bearbeitet. Der Sand, den die Firmen brauchen, muss gewissermaßen aus der Waschmaschine kommen: Flüsse geben ihm über Jahrzehnte die Konsistenz, die Beton erst haltbar macht. Den Sand, um den es geht, kann man also oft nicht sehen, betont auch Kiran Pereira. Für Land- und Strandaufschüttungen würden enorme Mengen verbraucht, die dann für Wachstum stehen könnten. Doch die Auswirkungen dort, wo der Sand herkommt, würden oft ignoriert, „vor allem wenn es unter Wasser ist“.

Vince Beiser hat viele Abbaugebiete besucht, mit Anwohnern und Universitätsprofessoren gesprochen. Einer dieser Orte, gleichzeitig „die größte Sandgrube der Welt“, ist der Poyang-See in der Provinz Jianxi im Südosten Chinas.

In seinem Buch schreibt Beiser: „Die für den Hausbau benötigten Techniken und Materialien, die vor hundert Jahren noch hauptsächlich den wohlhabenden Ländern des Westens vorbehalten waren, haben sich in den vergangenen 30 Jahren praktisch über die ganze Welt verbreitet.“ Schuld an der Sandkrise sei in erster Linie der Beton. Für dessen Herstellung werde mehr Sand eingesetzt als für Asphalt, Glas, Fracking und das Auffüllen von Stränden zusammen. Und an kaum einem anderen Ort auf der Welt wird so viel Sand abgebaut wie auf dem Poyang. Laut Beiser sind täglich Hunderte Schwimmbagger im Einsatz, „manche von der Größe eines umgekippten Wohnblocks“. Der größte könne 10.000 Tonnen Sand fördern – pro Stunde.


Dass der Poyang zum Hotspot der Sandabbauer geworden ist, hat viel mit Chinas Wirtschaftszentrum Schanghai zu tun. Der Ort ganz im Osten des riesigen Reichs ist innerhalb von nur 30 Jahren zur größten Stadt des Landes erwachsen. Für die unzähligen Gebäude und Wolkenkratzer benötigten die Entwickler schiffeweise Zement, also Sand. Den holten wiederum Dutzende, oft zwielichtige Firmen aus dem Janktsekiang. Die Ausbeutung des Flusses ging so weit, dass Brücken unterspült wurden und Hunderte Meter Ufer abbrachen. Im Jahr 2000 verboten die chinesischen Behörden den Abbau im Janktsekiang.

Also suchten sich die Firmen einen Ausweichort – und fanden ihn, dem Jianktsekiang folgend, Hunderte Kilometer im Landesinneren: der Poyang. Er ist Schätzungen zufolge produktiver als die drei größten Förderstätten in den USA zusammen. Die Kehrseite: Der Wasserstand ist stark gesunken; Forscher sehen die Ursache dafür in der Sandgewinnung.


Aber nicht nur im eigenen Land nutzen chinesische Firmen jede Gelegenheit, um mehr von der kostbaren Ressource zu bekommen. Der 16. Mai 2019 in der Haeju-Bucht vor Nordkorea war dem C4ADS zufolge keine Ausnahme. Vielmehr stellte die Organisation zwischen März und August 2019 immer wieder solche Schiffskolonnen von China nach Nordkorea fest. Seitdem sind zwar keine verdächtigen Schiffe mehr auf den Bildern zu sehen, aber die Schlamm-Schlacht geht weiter.

Dieser Artikel erschien erstmals im Januar 2022 bei der WirtschaftsWoche. Alle Beiträge aus der Rubrik „Wirtschaft von oben“ finden Sie hier. 

Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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