Wirtschaft von oben #172 – Russischer Luftverkehr Hier parkt Aeroflot neue Airbus A350, um sie auszuschlachten

Quelle: LiveEO/Planet Labs PBC SkySat

Während Flughäfen in Europa diesen Sommer unter dem Ansturm von Reisenden ächzen, machen neueste Satellitenaufnahmen auf dem Moskauer Hauptflughafen Scheremetjewo ein anderes Drama sichtbar: Seit dem Ukrainekrieg wird dieser immer mehr zu einem Flugzeugfriedhof. „Wirtschaft von oben“ ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Im März 2020 war Vitaly Saveliev noch euphorisch. „Mit dem modernsten Langstreckenflugzeug der Welt heben wir ab heute unseren Service auf ein neues Niveau und bekommen neue Möglichkeiten im stark umkämpften Fernstreckengeschäft“, prahlte der damalige Chef der russischen Staatslinie Aeroflot, als er den ersten Airbus A350 am größten Moskauer Flughafen Scheremetjewo begrüßte. Bis Jahresende sollten elf Maschinen folgen, bis 2023 sieben weitere. Sie sollten nach New York, Osaka, Singapur oder Havanna fliegen, Aeroflot zu einem Topspieler machen, vor allem im damals noch stark wachsenden Verkehr zwischen Europa und Asien.

Heute ist der 68-Jährige Transportminister Russlands – und von seinen Ideen nicht viel übrig, wie aktuelle Satellitenaufnahmen von LiveEO zeigen.

Die Coronazeit hat Scheremetjewo zwar glimpflich überstanden. Der Verkehr war nur um rund die Hälfte eingebrochen. Doch jetzt, wo im Rest Europas Flughäfen wieder auf Hochtouren laufen und zur Ferienzeit immer wieder ihre Kapazitätsgrenze überschreiten, sind in dem auf bis zu 60 Millionen Reisende ausgelegten Flughafen in Moskau von insgesamt sechs Abfertigungsgebäuden nur die zwei im Norden und das für Geschäftsreisende geöffnet. „Von den drei Passagierterminals D, E und F im Süden des Airports ist seit Mitte März auch das letzte komplett geschlossen“, berichtet ein Insider.


Zwar stehen einer aktuellen Aufnahme zufolge hier jede Menge Flugzeuge an den Gates. Doch sie sind nur scheinbar bereit, Fluggäste aufzunehmen. Ein genauer Blick zeigt, dass die Fluggastbrücken zurückgefahren sind. Ein Foto, das eine Woche zuvor geschossen wurde, zeigt keine Veränderung. Ein klares Zeichen dafür, dass die Terminals stillgelegt sind.

Veränderungen lassen sich zwar hier und da erkennen, einige Maschinen wurden zwischen den beiden Aufnahmen an eine andere Position gefahren. Das jedoch erklären Experten damit, dass die Fluglinien ihr Gerät regelmäßig bewegen müssen, weil nur so die Fahrwerke beweglich und die Maschinen verkehrstüchtig bleiben.


An den Gates im Süden sind auch mindestens zwei der sieben neuen Airbus-A350-Jets der russischen Staatslinie Aeroflot abgestellt. Das zeigt eine Detailanalyse der Aufnahmen. Hierfür hat die WirtschaftsWoche die Flugzeuge vermessen und nach typischen Merkmalen wie den nach oben gebogenen Flügelspitzen untersucht.

Weder Airbus noch andere Flugzeugexperten waren in der Lage, die Maschinen mit hundertprozentiger Sicherheit auf den aktuellen Aufnahmen zu identifizieren. Daten von Flightradar24 zeigen aber, dass von sieben Aeroflot-Flugzeugen mit den aktuellen offiziellen Registrierungscodes RA-73151-7 drei mindestens 90 Tage nicht abgehoben sind. Das neueste Exemplar mit der Airbus-Seriennummer 466 und der ursprünglichen Zulassung VP-BYF hat nach Lage der Dinge sogar noch gar keinen zahlenden Passagier befördert, seit Aeroflot es aus dem Werk im südfranzösischen Toulouse am 24. Februar diese Jahres geholt hat, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine.


Dass diese Hightech-Jets, nach denen sich andere Airlines derzeit sehnen, einfach herumstehen, deutet auf ein verstecktes Drama hin. Vor wenigen Tagen berichtete die als staatsnah geltende Tageszeitung „Iswestija“, dass Transportminister Vitaly Saveliev prüfen lässt, nach welchen Regeln die Fluglinien des Landes ihre geparkten Maschinen als Ersatzteilspender nutzten können. Eine Regelung solle Anfang kommenden Jahres in Kraft treten. Wie Insider der WirtschaftsWoche bestätigen, ist das Ausschlachten aber bereits in vollem Gang. Und eines der ersten Flugzeuge ist ein A350. „Der erste dieser rund 300 Millionen teuren Wunderwerke wurde bereits kannibalisiert“, kommentiert der Insider. „Und es sieht so aus, dass die beiden anderen derzeit dauerhaft geparkten auch bald drankommen.“

Grund für den aus Sicht von Flugzeugfans grausamen Akt ist die pure Not. Seit die westlichen Staaten in Folge des Überfalls auf die Ukraine die Lieferung von Flugzeugen und deren Komponenten weitgehend verbieten, sind Ersatzteile knapp. Denn anders als Konsumgüter unterliegen die anspruchsvollen Geräte strengen Ausfuhr- und Verbleibskontrollen. „Wir wissen gerade bei den Teilen neuer Modelle immer ziemlich genau, wo die gerade sind“, teilt ein Airbus-Manager mit. Daher ist es schwer, das Embargo über eine Art Schwarzmarkt zu umgehen.

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Aeroflot und andere russische Linien treffen diese Sanktionen ins Mark. Denn laut einer Statistik des russischen Transportministeriums beförderten sie bislang 90 Prozent ihrer Passagiere in Maschinen aus westlicher Produktion. Zwar stammen offiziell 470 der 1287 zugelassenen Zivilflieger aus heimischen Werken – das ist ein Drittel. Doch weil die Tupolews und Iljuschins kleiner und älter sind, werden sie seltener eingesetzt.

Hinzu kommt, dass auch ein Teil der im Land hergestellten Modelle wie der Superjet SSJ100 von Suchoi nicht ohne westliche Teile auskommt, beispielsweise bei den Triebwerken. Ohne neue Regeln bei Ersatzteilen, so das Ministerium laut einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Interfax, seien von den zurzeit noch gut 800 ausländischen Jets spätestens 2025 keine 300 mehr einsatzfähig. Dafür sorgen vor allem die strengen Regeln bei der Sicherheit. Um Risiken zu vermeiden, gilt eine Maschine schon dann als nicht mehr startfähig, wenn nur eines der vielen Hunderttausend wichtigeren Teile nicht mehr funktioniert, selbst wenn es wie ein Bordcomputer mehrfach vorhanden ist.

Die kannibalisierten Teile sind da ein guter Ersatz. Aber auch das gilt nur begrenzt. Mit den Innereien der drei geparkten A350-Maschinen können die vier aktiven Geschwister zwar im günstigsten Fall bis zu drei Jahre hinkommen, wenn die Jets nur wenige Stunden am Tag genutzt werden, schätzt der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. „Doch das gelingt nur, wenn nichts Größeres passiert. Ein Engpass sind vor allem verschleißintensive Komponenten wie Reifen, Bremsbeläge und Bremsscheiben.“


Aber nicht nur die für die Ausschlachtung vorgesehenen A350 erwartet ein trauriges Schicksal. Auch die vier noch genutzten Jets fliegen weit unter ihren Möglichkeiten. Sie sind derzeit fast ausschließlich auf den Routen Moskau-Krasnojarsk und Moskau-Sotschi unterwegs – beides Destinationen, bei denen Aeroflot bequem morgens hin- und nachmittags zurückfliegen kann. Sotschi hat dabei eine doppelte Funktion. Zum einen ist die Schwarzmeermetropole eines der wichtigsten Flugziele für russische Touristen, seit andere in Europa nicht mehr erreichbar sind. Allein am 12. August gab es 64 Flüge von den drei größten Moskauer Flughäfen in den Badeort, der inzwischen als eine Art russischer Ballermann gilt.

Doch der Austragungsort der Olympischen Winterspiele von 2014 hat inzwischen noch eine weitere Funktion: Er ist Russlands einziges Drehkreuz für Flüge ins Ausland. Betrieben wird es fast nur mit den kleinen Superjets aus russischer Produktion. Die haben zwar eine begrenzte Reichweite, können dank der Randlage von Sotschi im Land aber viele Orte wie Dubai oder Delhi erreichen. Von Moskau oder St. Petersburg aus wäre das nicht möglich. Also steigen die wenigen Auslandsreisenden notgedrungen in Sotschi um.

Dass die russischen Airlines nicht länger ihre Airbus- und Boeing-Jets mit den deutliche höheren Reichweiten nutzen, ist eine Folge der Sanktionen. Zum einen riskieren sie, die Maschinen zu verlieren: Denn nach dem Beginn des Embargos haben die Gesellschaften die Maschinen nicht wie verlangt an westliche Leasingfirmen zurückgegeben. Nun riskieren sie, dass Leasinggeber sie bei einem Flug ins Ausland mit einem lokalen Gerichtsbeschluss festsetzen und zurückfordern. „Man kann sicher sein, dass die Leasinggeber bei FlightAware oder Flightradar24 Alarmfunktionen installiert haben und sie ihre Anwälte in Marsch setzen, sobald eines davon jenseits des russischen Luftraums auftaucht“, erklärt Großbongardt.

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Mit guter Aussicht auf Erfolg. In Ägypten und Sri Lanka wären zwei russische Maschinen beinahe dauerhaft festgesetzt worden. Am Ende konnten sie zwar wieder starten. Doch es war knapp. „Es lag wohl eher daran, dass auf Anweisung der Regierung dem ohnehin verschlungenen Rechtsweg noch kurzfristig ein paar Verschlingungen hinzugefügt wurden“, mutmaßt ein Insider. Das werde künftig wohl nicht mehr passieren, weil die EU und die USA Konsequenzen angedroht hätten, meint ein Leasingmanager: „Nun ist es selbst in den wenigen noch mit Russland befreundeten Ländern nicht mehr sicher, dass sich alle Gerichte dem politischen Druck des Kreml beugen“, freut sich der Flugzeugfinanzier. 

Aber auch wenn die Leasingfirmen die Jets nicht reklamieren, würden die Sanktionen greifen. Russische Airlines könnten sich nicht sicher sein, dass sie bei einer Panne im Ausland auch alle nötigen Ersatzteile bekommen. „Und dann ist schon Ende Gelände, wenn das Ding einen Platten hat“, bemerkt Großbongardt. Selbst wenn sich bei weit verbreiteten Modellen wie der Boeing 737 oder einem Airbus A320 Teile eventuell noch hinfliegen lasen. Bei Großraumfliegern vom Kaliber Boeing 777 und eben der A350 kann die Logistik sehr schwierig werden.



Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Aeroflot das Paradeflugzeug A350 nun auf einer Strecke verheizt, die wie die ähnlich lange Route Frankfurt-Madrid typisch für Mittelstreckenflieger a la A320 ist. Viel sinnvoller wäre der Einsatz von Moskau nach Wladiwostok, eine Strecke etwa so lange wie Frankfurt-New York. Doch die Maßnahme dient dazu, die A350 zu schonen. „Wenn die Maschinen nur vier Stunden am Tag fliegen, halten sie deutlich länger und brauchen weniger Ersatzteile“, stellt ein Insider fest.

Langstreckenverbindungen innerhalb Russlands werden heute mit großen Boeing 777-300ER bis zu fünf Mal am Tag in jeder Richtung geflogen. Können die nicht mehr abheben, hätte das in einem zentralistischen Staat wie Russland nicht nur wirtschaftliche Folgen, sondern würde auch den politischen Zusammenhalt des riesigen Landes beeinträchtigen. Die Transsibirische Eisenbahn braucht schließlich nach dem aktuellen Fahrplan fast sieben ganze Tage.


Somit dürfte das einstige Drehkreuz Scheremetjewo noch eine Weile Parkplatz und Ersatzteilspender bleiben. Mehr als ein Dutzend Jumbojets der russischen Frachtlinie AirBridgeCargo beispielsweise sind rund um die südlichen Terminals abgestellt. Flightradar24-Daten zeigen, dass keine der Boeing-747-Maschinen in den vergangenen Monaten abgehoben ist. Die Linie flog vor dem Krieg regelmäßig den Flughafen Leipzig/Halle an, betrieb dort sogar ein Wartungsterminal.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes wurde ein Detailfoto eines A350 falsch verortet. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten um Entschuldigung.

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