Wirtschaft von oben #25 – Versmold Das ist Deutschlands Fettfleck

Nach dem jüngsten Skandal kämpft die mittelständische Wurstbranche um Image und Existenz. Nirgendwo in der Republik zeigen sich die Ängste und Nöte der Unternehmer deutlicher als im ostwestfälischen Versmold – der Wursthauptstadt Deutschlands. „Wirtschaft von oben“ ist eine Kooperation mit LiveEO.

Deutschlands heimliche Wursthauptstadt

Mitten im Städtedreieck Münster, Bielefeld und Osnabrück liegt Versmold mit seinen fünf Stadtteilen Loxten, Peckeloh, Bockhorst, Oesterweg und Hesselteich und rund 22.000 Einwohnern. Versmold, auch Fettfleck Ostwestfalens genannt, ist die heimliche Wursthauptstadt Deutschlands. Gleich drei der größten deutschen Wursthersteller haben in der Wurst-City ihren Stammsitz: Reinert, Nölke und Wiltmann. Früher war auch Stockmeyer in Versmolder beheimatet. Der Wursthersteller zog aber in den Achtzigerjahren in eine Nachbargemeinde. Auf dem Areal der früheren Stockmeyer-Fabrik befinden sich heute Wohn- und Geschäftshäuser und der Wurstträgerbrunnen am Marktplatz, im Volksmund „Schweinebrunnen“ genannt.

Als wäre der Brunnen ein Symbol für die Branche, droht derzeit auch die mittelständisch geprägte Wurstindustrie aus der Balance zu geraten. Keimbelastete Wurstwaren des hessischen Herstellers Wilke rückten sie jüngst ins Zentrum des öffentlichen Interesses – und damit auch die Stadt Versmold. Hier hängen so viele Jobs von der Branche ab wie sonst nirgendwo im Land. Konsolidierung und Preisdruck haben schon Spuren hinterlassen. In Deutschlands heimlicher Wurstmetropole zeigt sich, wie Geschäftsmodelle wanken oder untergehen, wenn Hersteller zwischen die Fronten von übermächtigen Fleischproduzenten und Supermarktketten geraten.

Anfang 2015 schlug die Konsolidierung der Branche erstmals in Versmold ein: Die Zur-Mühlen-Gruppe, die heute zum milliardenschweren Fleischkonzern Tönnies gehört, schluckte den in Versmold beheimateten Wursthersteller Nölke. Die Sorge bei den Einwohnern um Jobs und Standortverlagerungen „war riesig“, erinnert sich Bürgermeister Michael Meyer-Hermann (CDU). „Bisher hat es jedoch keinen nennenswerten Abbau von Arbeitsplätzen gegeben“, sagt er – ergänzt aber, dass einige Festanstellungen durch ausländische Werkverträgler ersetzt wurden. Das Unternehmen ist vor allem für seine Geflügelwurstmarke Gutfried bekannt. Geschäftsführer Frank Nölke begründete den Verkauf damals mit der Sicherung des Unternehmens in einem „schwieriger werdenden Marktumfeld“. Ein Nölke-Manager war es, der im Juli 2009 das Wurstkartell durch seine Tätigkeit als Kronzeuge ins Rollen gebracht hatte. Zu den Kartellanten zählten dabei auch die beiden Versmolder Wettbewerber Wiltmann und Reinert.

Während die Kapazitäten von Nölke in Versmold ausgebaut wurden, machten schon kurz nach der Übernahme die beiden anderen Nölke-Standorte in Waren an der Müritz (Mecklenburg-Vorpommern) und Wusterhausen (Brandenburg) dicht. Vom alten Familienkonzern ist in Versmold nur noch die „Frischdienst Union FDU“ in Nölke-Hand geblieben. Als Untermieter arbeitet der Spezialist für Großverbraucher wie Betriebskantinen, Krankenhäuser oder Mensen, in Geschäftsräumen am Nölke-Standort.

Im Stadtteil Loxten ist der Wursthersteller Reinert beheimatet. Dessen Sommerwurst, die in diesem Jahr 50. Geburtstag feierte, ist die DNA der Familienfirma. Sie hat die Marke Reinert in den Siebziger- und Achtzigerjahren nach vorne gebracht, ist aber nach wie vor eine starke regionale Marke. Mittlerweile ist die Bärchenwurst, die immerhin auch schon 20 Jahre alt ist, die national und international deutlich bekanntere und größere. Sie macht inzwischen mehr als zehn Prozent des Gesamtumsatzes aus.

Zwischen 2014 und 2016 investierte Reinert mehr als 50 Millionen Euro in die Standorte in Versmold und Vörden. Im vergangenen Jahr kam zudem die Marke Herzenssache hinzu. Das Label wirbt mit dem Slogan „aus 100 Prozent antibiotikafreier Aufzucht“. Das Schweinefleisch stammt von dänischen Tieren, die ohne Antibiotika aufwachsen. Acht Artikel gibt es derzeit. Herzenssache habe Potenzial, sagt Reinert. Er will das Sortiment 2020 um Grillfleischprodukte erweitern. Kürzlich fusionierte das Unternehmen mit dem Osnabrücker Familienunternehmen Kemper zum neuen Gemeinschaftsunternehmen „The Family Butcher“. Das neue Unternehmen hat neun Produktionsstätten und 2600 Mitarbeiter. Die Inhaber-Familien Kühnl und Reinert werden je die Hälfte der Anteile des neuen Unternehmens halten.

Im Ortsteil Peckeloh entstand in rund 20 Monaten Bauzeit die Erweiterung des Produktionsgebäudes des Wurstherstellers Wiltmann. Der erste Spatenstich auf dem Firmengelände erfolgte im Frühjahr 2017. Mit dem dreigeschossigen Stahlbetonbau und der angrenzenden Lagerhalle zeigt Wiltmann seine Treue zum Standort im Versmolder Ortsteil Peckeloh. Die rund 9000 Quadratmeter große Halle mit mehreren Ebenen soll dem Wachstum der vergangenen Jahre Rechnung tragen und zugleich Platzreserven für die Zukunft schaffen. Wiltmann-Chef Ingmar Wiltmann ist Deutschlands Salami-König. Die Firma hat er 2017 in fünfter Generation von seinem Vater Wolfgang übernommen. Heute rangiert sie mit 160 Millionen Euro Umsatz unter den Top Ten der Branche. Im laufenden Jahr stünden die Zeichen auf Wachstum, sagte der 34-Jährige kürzlich auf der Welternährungsmesse Anuga in Köln. „Wir sind nicht unzufrieden, um es ostwestfälisch auszudrücken.“

Standorte der Wurstfabriken

Die Nöte einer milliardenschweren Branche ballen sich in Versmold auf wenigen Quadratkilometern. Bürgermeister Meyer-Hermann kennt die Sorgen und Probleme rund ums Schwein. Er wuchs auf einem Bauernhof mit Schweinezucht auf. Seine Eltern haben den Betrieb später verpachtet. „Das Problem sind nicht die Fleisch- und Wursthersteller“, sagt er. Es seien vielmehr Aldi, Lidl und Co. und die Verbraucher selbst, „die glauben, Fleisch und Wurst müssten möglichst billig sein“. Die Entwicklung gehe jedoch „zu weniger und besser“. Und damit könnte Versmold seinen Slogan noch ein Weilchen behalten: „Stadt Versmold ... macht Appetit.“

Standort des Wurstträgerbrunnens

Über Jahrzehnte hat sich in der Kleinstadt alles angesiedelt, was für die Wurstproduktion benötigt wird: Verpackungsproduzenten, Tiefkühlhausbetreibern, Speditionen, Salzlieferanten, Herstellern von Natur- und Kunstdärmen. Meyer-Hermann sagt, es habe sich in Versmold „ein Wurst-Cluster gebildet“, Zyniker geben der Region den Beinamen „Fettfleck Westfalens“.

Der Wurstträgerbrunnen am Marktplatz, im Volksmund liebevoll Schweinebrunnen genannt.

Eigentlich, so erzählt der Versmolder Bürgermeister Michael Meyer-Hermann (CDU), hatte der Künstler den Brunnen die „Rache am Metzger“ getauft. „Schauen Sie“, sagt der 36-Jährige und zeigt auf eines der drei Bronzeschweine, „das rennt von hinten dem Wurstträger in die Beine und bringt ihn aus dem Gleichgewicht.“ Rund um den Brunnen findet im Herbst der Wurstträgermarkt statt, ein verkaufsoffener Sonntag mit einem kleinen Schlemmermarkt. Zum Wurstträgermarkt in Versmold kann Wurst in allen Formen und Geschmacksrichtungen genossen werden.

Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.


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