www-Erfinder Berners-Lee im Interview „Das Netz der Zukunft wird unser Leben grundlegend verändern“

Ende der Achtzigerjahre entwickelte Sir Tim Berners-Lee am europäischen Forschungszentrum CERN das Konzept des World Wide Web (www). Im WirtschaftsWoche-Interview spricht er über das Netz der Zukunft, den Feierabend im Jahr 2015 und die Flut lästiger Werbe-Mails.

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WirtschaftsWoche: Sir Tim, gut 15 Jahre nachdem Sie das World Wide Web ursprünglich als Plattform für den Informationsaustausch unter Forschern entworfen haben, hat sich das Internet zu einem schrill-bunten Multimedium aus Bildern, Videos und Musik entwickelt. Haben Sie sich das damals so vorgestellt? Sir Tim Berners-Lee: So wie sich das Internet heute präsentiert, hat sich das keiner von uns vorgestellt. Es war auch nicht abzusehen, welchen tief greifenden Einfluss das Web auf den Alltag der Menschen haben würde. Andererseits haben wir die Grundlagen für diese Entwicklung damals schon sehr bewusst gelegt. Wir wollten das Web als eine offene, zukunftssichere Plattform anlegen. Es sollte ein Fundament sein für möglichst viele unterschiedliche Anwendungen. Und was sehen Sie, wenn sie in die Zukunft schauen – wie wird das Web in 15 Jahren aussehen? Da muss ich leider passen. Was künftige Programmierer mithilfe der Technologien einmal erschaffen werden, die wir heute entwickeln, kann noch keiner absehen. Fest steht nur, das Netz der Zukunft wird radikal anders sein als das Internet von heute. Ein paar generelle Trends zeichnen sich schon ab. Welche? Das Internet wird die Grenzen der fest vernetzten Welt sprengen. Schon bald wird es mehr Mobiltelefone mit Web-Zugang geben als klassische Schreibtischcomputer. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten und Anwendungen. Stellen Sie sich vor, Sie kommen abends nach Hause, gehen ins Wohnzimmer und Ihr Handy schaltet automatisch das Licht neben Ihrem Lieblingssessel ein, auf dem Plasmabildschirm an der Wand erscheinen die Bilder des großartigen Sonnenuntergangs, den Sie auf dem Heimweg fotografiert haben, und der digitale Videorekorder zeichnet eigenständig den Film auf, den Sie im Büro beim Lesen des TV-Programms auf dem Laptop markiert haben. Diese Kommunikation zwischen den verschiedenen Endgeräten und der selbstständige Austausch der Daten werden unser Leben grundlegend verändern. Und sicher nicht erst in 15 Jahren. Sondern wann? Einige Jahre früher. Allerdings haben wir noch einige Aufgaben zu lösen auf dem Weg zur Ambient Intelligence, der uns überall umgebenden Intelligenz des Netzes. Zum Beispiel, wie wir die Kommunikation der Geräte untereinander regeln? Wer darf überhaupt mit wem Daten austauschen? Und vor allem: Wie können wir sicherstellen, dass vertrauliche Informationen bei all dem Hin und Her nicht an der falschen Adresse landen? Mal sehen, wie wir das in den Griff bekommen.

Eine der ganz großen Innovationen im Internet soll der Aufbau des Semantic Web sein, der neuen, intelligenteren Variante des WWW. An dem Konzept arbeiten Sie bereits seit rund fünf Jahren. Was steckt dahinter? Heute enthalten Internetseiten in erster Linie Informationen – Texte und Bilder –, deren Inhalte wir Menschen erfassen können. Computern hingegen bleibt der Inhalt der Seiten weitestgehend verschlossen. Sie finden dort nicht als eine Ansammlung von Buchstaben. Wir wollen das Web nun so umgestalten, dass alle Dateien, Bilder oder Web-Seiten auch von Computern über alle Anwendungen hinweg verarbeitet und ausgetauscht werden können. Unabhängig davon, mit welchem Programm sie erstellt und mit welchem sie geöffnet werden. Dafür ist es vor allem erforderlich, die Daten in ihrer Funktion und Bedeutung genau zu beschreiben, also semantisch zu definieren. Das klingt ziemlich theoretisch. Wie soll das denn in der Praxis aussehen? Wenn heute jemand seine Auszüge per Online-Banking aus dem Netz holt, dann sieht er zwar, wie viel Geld noch auf dem Konto liegt. Aber nicht immer erfährt er, wohin das Geld in den zurückliegenden Wochen geflossen ist. Im Semantic Web würde ich dazu einfach den digitalen Kontoauszug mit der Computermaus auf den elektronischen Kalender des Rechners ziehen. Der Kalender würde dann beispielsweise unter dem gleichen Datum den Eintrag „Golf“ sowie ein paar Telefonnummern finden, die er automatisch im Adressbuch nachschlägt und zwei Geschäftspartnern zuordnet. Spätestens dann dürfte dem Nutzer wieder einfallen, dass er am fraglichen Tag seinen Vertriebstermin aufs nächstgelegene Green verlegt und die Kunden später zum Mittagessen eingeladen hat.

Wie weit sind wir denn von derartigen Szenarien noch entfernt? Marktreif sind solche Anwendungen noch nicht. Aber die Prototypen funktionieren unter Laborbedingungen bereits. Wichtiger noch: Die erforderlichen Werkzeuge sind fertig, zum Beispiel die Technologie zur Kennzeichnung und Beschreibung beliebiger Informationen im Netz, das sogenannte Ressource Description Framework, kurz RDF. Es ermöglicht, zusammen mit riesigen Online-Datenbanken voller verwandter Begriffe und Interpretationsmöglichkeiten, Worte und Daten auf Web-Seiten computergerecht aufzubereiten. Wird RDF schon in der Praxis genutzt? Im Versuchsstadium ja. Aber auf breiter Front noch nicht. Die meisten Unternehmen beginnen gerade erst, sich mit dem Semantic Web zu befassen. Die Softwareentwickler sind wesentlich weiter. Die jüngsten Versionen der Oracle-Datenbanken beispielsweise sind schon in der Lage, Daten mit RDF-Informationen zu verarbeiten. Und auch die Bildbearbeitungsprogramme von Adobe speichern bereits Zusatzinformationen wie das Datum der Aufnahme RDF-konform ab. Ist die Anzahl der Web-Seiten nicht schon viel zu groß, um das bestehende WWW noch komplett zum Semantic Web umbauen zu können? Das geht sicher nicht von heute auf morgen. Die Vorstellung ist ohnehin illusorisch, dass es irgendwann „Plopp“ macht, und plötzlich ist das neue Web-Zeitalter angebrochen. Die alte und neue Internet-welt werden noch lange nebeneinander existieren. Das Schöne an RDF ist, dass es sich schleichend im Netz verbreiten kann. Erst setzen vielleicht nur ein paar innovative Versicherungen das Format intern ein, um damit Risiken neu zu berechnen. Später können die Verkaufsberater Kundenadressen im neuen Datenformat erfassen. Und irgendwann versteht auch das Online-Vertriebsportal Kundenanfragen, die RDF-konform übermittelt werden. Gibt es denn auch Möglichkeiten, die alte WWW-Welt mit dem Semantic Web zu verknüpfen, ohne alles umbauen zu müssen? Zumindest teilweise. Bei vielen Web-Angeboten – etwa Nachrichtendiensten, Online-Shops oder Reise-Portalen – stammen die Inhalte schon heute aus Datenbanken. Mithilfe der neuen, vom W3C konzipierten Software Sparql lassen sich diese Inhalte auch RDF-tauglich ins Netz stellen. Das klingt trotzdem ziemlich langwierig. Das ist es auch. Aber auch der Aufbau des WWW ging nicht schneller. Es hat einige Jahre gedauert, ehe wir sicher waren, dass sich das Web durchsetzt. Der Boom kam erst in den Neunzigerjahren.

Was für eine Killer-Anwendung könnte den Umbau zum Semantic Web beschleunigen? Ich bin Wissenschaftler, kein Prophet. Und ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte. Nehmen Sie doch das Beispiel Google. Niemand, der damals am WWW-Konzept arbeitete, hat sich vorgestellt, es könnte einmal so eine Suchmaschine geben. Das ist das Tolle an der Arbeit hier am W3C: Wir sorgen nur dafür, dass vom Softwarehersteller bis zum Programmierer alle mit einheitlichen Werkzeugen arbeiten, alle die gleiche technologische Sprache sprechen. Was die Leute später daraus machen, welche neuen Geschäftsmodelle daraus einmal entstehen, wird sich zeigen. Sie propagieren ein intelligenteres Web. Fürchten Sie manchmal, die Entwicklung könnte Ihnen entgleiten? Natürlich. Diese Sorge ist in unserer täglichen Arbeit immer präsent. Schließlich arbeiten wir an Technologien, die tief in den Alltag der Menschen eingreifen werden. Darum hat der Schutz des Individuums und seiner persönlichen Daten eine immense Bedeutung. Sowohl die Wissenschaftler als auch die beteiligten Unternehmen verwenden am W3C sehr viel Zeit darauf, mögliche Konsequenzen unserer Arbeit abzuschätzen. Und wie wirkt sich das aus? Gelegentlich schicken wir Projekte noch einmal auf eine Ehrenrunde, wenn sie noch nicht zu Ende gedacht sind. Die Zeit nehmen wir uns. Allerdings können wir auch damit nicht jedes Risiko ausschließen. Immer wieder tauchen Probleme an Stellen auf, an denen sie niemand erwartet hat. Nehmen Sie nur die neben dem WWW beliebteste Anwendung des heutigen Internet, die E-Mails. Sie sind eine geniale Erfindung, das wird niemand ernsthaft bestreiten. Dennoch haben sie uns die Spam-Plage beschert, die Flut unerwünschter Werbung, die uns die elektronischen Postfächer verstopft. Irgendwo gibt es immer eine Schwachstelle. Das wird beim Internet der Zukunft nicht anders sein.

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