Aktien Mit jedem ins Bett

Sie denken, Ihr Geldverwalter beim Investmentfonds oder der Versicherung kauft Aktien und lässt sie liegen? Von wegen. Er verleiht sie und schmiert so die Maschinerie aus provisionshungrigen Banken und Hedge-Fonds, die auf die Kurse einprügeln. 

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Das Geschäft mit der Aktienleihe läuft im Verborgenen. Selten nur reißt der Nebel auf, gewährt die Finanzindustrie einen kleinen Blick auf das, was täglich hier passiert. So wie vor ein paar Tagen. Dameldete TUI, dass die Investmentbank Morgan Stanley mehr als zehn Prozent der Aktien des schwächelnden Reisekonzerns halte. TUI-Chef Michael Frenzel heizte Gerüchte um eine drohende feindliche Übernahme an. TUI, ein Übernahmeziel? Für den Kurs wäre das gut, es bleibt aber Bullshit. 

Niemand in Frankfurt glaubt Frenzel die Geschichte. Die Wahrheit ist: Morgan Stanley hat sich die Aktien nur geliehen und gleich an Hedge-Fonds weiterverliehen. Die verkaufen die geliehenen Aktien sofort (Leerverkauf) – in der Hoffnung, sie später billiger zurückkaufen zu können und sie dem Verleiher zurückzugeben. Das TUI-Paket ist rund 250 Millionen Euro wert. 

In der Aktienleihe werden bei anderen Gelegenheiten viel höhere Summen bewegt. Leerverkaufspositionen machen in den USA und Großbritannien zwischen zwei und vier Prozent der Marktkapitalisierung aus. Auf Deutschland übertragen wären dies allein im Dax an Leerverkäufer verliehene Aktien im Wert von 10 bis 20 Milliarden Euro. Über die von zehn großen Investmentbanken gegründete Verleihplattform Equilend liefen in den vergangenen zwei Jahren Geschäfte über 1,1 Billionen Dollar. 

Die ganze Finanzindustrie mischt mit. Verleiher sind deutsche und ausländische Investmentfonds, große Vermögensverwalter und Versicherungen wie die Allianz, die Wertpapiere über Dresdner Kleinwort Wasserstein in London verleiht. 

Die Fonds verleihen die Aktien über Banken an so genannte Prime Broker. Die bieten den Hedge-Fonds ein komplettes Servicepaket an, bestehend aus Handel, Wertpapierleihe, Aufrechnung von Positionen, Abwicklung von Geschäften und die Verwaltung von Depots. Und größter Prime Broker im Geschäft ist Morgan Stanley. Die Amerikaner hatten nach der jüngsten Erhebung des Branchendienstes Euro-Hedge 2002 einen Marktanteil in Europa von rund 45 Prozent. An zweiter Stelle liegt Goldman Sachs, an dritter die Deutsche Bank. Deutsche Fonds dürfen aus Sicherheitsgründen nicht mehr als zehn Prozent ihrer Bestände an eine einzelne Adresse verleihen. „Deshalb steigt in diesem Geschäft jeder mit jedem ins Bett“, sagt ein Banker. 

Die Finanzhäuser lieben Erträge, die sie hereinholen können, ohne ein Risiko einzugehen – Erträge wie zum Beispiel die Zehntel Prozentpünktchen, die bei Leihegeschäften als Gebühr hängen bleiben. „Häufig bilden sich deshalb regelrechte Ketten, in denen jedes Glied mitverdient“, sagt ein Aktienhändler. 

So könnte, rein theoretisch, die ING BHF-Bank ein Paket TUI-Aktien bei Union Investment leihen und es an die Commerzbank weiterreichen. Die wiederum gibt es an Morgan Stanley in Frankfurt. Der Leihetisch der Amerikaner am Main ist ein so genannter Sourcing Desk, der Aktien im deutschen Markt aufspürt und nach London weiterreicht. 

Die britische Metropole gilt als Hauptstadt der Verleihwelt. Hier sitzen alle großen Prime Broker, inklusive der Deutschen Bank. Dort haben die Manager den direkten Kontakt zu den Hedge-Fonds dieser Welt. Diese setzen die Aktien dann ein. Leerverkäufe, um an fallenden Kursen zu verdienen, sind nur eine Variante. Häufiger machen die Hedge-Fonds Arbitragegeschäfte, in denen sie kleinste Bewertungsunterschiede zwischen durch Übernahmeangebote verknüpften Aktien oder zwischen Aktien a und dazugehörigen Anleihen und Derivaten ausnutzen. 

Plattformen wie Equilend erleichtern die Verwaltung der Leihgeschäfte; eine zentrale Börse mit durchschaubaren Preisen aber gibt es nicht. Die Geschäfte laufen durchweg over the Counter (außerbörslich), von Mann zu Mann. „Der Markt pflegt die Intransparenz“, spöttelt ein Frankfurter Banker. Die Leihgebühren für die Aktien bleiben genauso geheim wie die Volumina der einzelnen Geschäfte. „Leihe ist ein Buddy Business“, ein Geschäft unter Freunden, sagt der verantwortliche Manager einer deutschen Privatbank. „Das hat viel mit Vertrauen und Beziehungen zu tun. Wenn ich meine Aktien zurückhaben will, muss ich mich darauf verlassen können, dass der andere zuverlässig liefert. Wer mich einmal reingelegt hat, ist draußen.“ 

Leihverträge laufen fast immer „b. a. w.“ (bis auf weiteres): Der Hedge-Fonds kann die Aktien, einen Tag nachdem er die Leihe gekündigt hat, zurückgeben. Der Verleiher muss dem Leerverkäufer (Shortseller) mindestens drei Tage Zeit lassen, damit der sich die Aktien zusammenkaufen oder bei einer anderen Adresse leihen kann. Liefert er danach nicht, kann der Verleiher auf Kosten des Entleihers ein so genanntes „Buy in“ veranstalten: Die Aktien werden im Markt teuer zusammengekauft, der Entleiher haftet mit den von ihm hinterlegten Sicherheiten. Die sind immer einen Schlag höher als der Wert der verliehenen Papiere. 

Die Teilnehmer kalkulieren die Sätze, zu denen Wertpapiere im Leihgeschäft gehandelt werden, in Basispunkten pro Jahr. Ein Basispunkt sind 0,01 Prozentpunkte. Die Sätze signalisieren, wie stark das Interesse der Leerverkäufer an einer Aktie ist. Für Dax-Werte der ersten Reihe werden üblicherweise zwischen 10 und 15 Basispunkte gezahlt. MDax-Werte liegen zwischen 20 und 30 Basispunkten, bei weniger liquiden oder bei schwankungsanfälligen TecDax-Werten wie Qiagen oder Aixtron können es auch schnell fünf oder zehn Prozent pro Jahr werden. Das TecDax-Schwergewicht T-Online wurde in Zeiten harter Short-Spekulationen für bis zu 1700 Basispunkte verliehen. Jetzt ist die Aktie unten und das Spiel beendet. Der Leihesatz ist auf 20 Punkte gesunken. „In der Aktie ist nichts mehr los“, bedauert ein Leihespezialist. 

Gefragt ist in Frankfurt zurzeit nur eine Aktie: TUI. „Im Moment ist wenig los, deshalb stürzen sich alle auf den einen armen Teufel“, sagt der Banker. Der Leihesatz des Reisekonzerns, dessen Verbleib im Dax ungewiss ist, explodierte von 10 Basispunkten auf mehr als 70 vor Bekanntwerden der Morgan-Stanley-Transaktion und danach noch einmal auf zuletzt 250 und in der Spitze 350 Basispunkte. Viele, die TUI-Aktien zuvor zu günstigeren Sätzen verliehen hatten, forderten ihre Papiere zurück, um sie noch einmal teurer verleihen zu können. Leerverkäufer waren so gezwungen, Aktien an der Börse zurückzukaufen. 

Eine große Fondsgesellschaft, die viele TUI-Aktien in ihren Portfolios hat, forderte in der vergangenen Woche größere Pakete zurück. Deswegen schoss der Kurs am 5. August zunächst um zehn Prozent nach oben (siehe Chart). Noch am selben Tag sackte der Kurs aber wieder zusammen. 

Kaum ein Fonds lässt die Möglichkeit aus, mit Leihgeschäften seine Performance zu verbessern. „Gerade Fonds, die sich eng an einem Wertpapierindex orientieren, können so nette Zusatzerträge einfahren und sich von anderen unterscheiden“, sagt der Manager einer Frankfurter Fondsgesellschaft. Im Schnitt 10 bis 20 und maximal 50 Basispunkte an zusätzlicher Performance lassen sich so herausquetschen. Das kann schon reichen, um in den Ranglisten den einen oder anderen Wettbewerber abzuhängen. Große Fondsgesellschaften nehmen jährlich Leihgebühren in zweistelliger Millionenhöhe ein. 

Der von DWS-Aktienchef Klaus Kaldemorgen betreute Vermögensbildungsfonds I etwa hatte Ende April unter anderem Aktien von Deutsche Telekom, Infineon und TUI verliehen. Gesamtwert: rund 190 Millionen Euro, drei Prozent des Fondsvermögens. Etwas höher ist die Quote beim AriDeka, der Ende 2003 für knapp 170 Millionen Euro Aktien verliehen hatte, darunter gut 5 Millionen Deutsche Telekom. 

Lebensversicherer dürfen maximal fünf Prozent ihrer Aktienbestände verleihen. Fondsgesellschaften, besonders solche, die in Luxemburg registriert sind, drehen ein deutlich größeres Rad. Der 2,4 Milliarden Euro schwere Deka-EuroStocks hatte Ende März Aktien im Wert von 600 Millionen Euro verliehen – rund ein Viertel des Fondsvermögens. Fidelity Investments, die ihre Fonds ebenfalls nach Luxemburger Recht ins Rennen schicken, genehmigen sich eine Ausleihquote von bis zu 50 Prozent des Fondsvermögens. 

Während der großen Übernahmeschlachten steigen die Leihesätze. Denn die mit einer Aktie verbundenen Stimmrechte gehen an den Entleiher über. Vodafone soll sich so zeitweise Mannesmann-Stimmen gesichert haben. Auch die Investorengruppe Cobra, die ein Commerzbank-Paket zusammenraffte, soll einen Teil ihrer Aktien nur geliehen haben. 

Die Beträge, die den Fonds aus den Leihgeschäften zufließen, sind nicht hoch: Wenn ein Fonds zurzeit 200 000 TUI-Anteile einen Monat verleiht, kassiert er weniger als 10 000 Euro. Aber Kleinvieh macht auch Mist – und die Erträge fließen regelmäßig. 

Schade nur, dass sie längst nicht komplett dem Fondsvermögen und damit den Anlegern zugute kommen. Die DWS etwa kassiert seit Jahresanfang die Hälfte der über die Aktienleihe eingenommenen Zinsen für sich selbst „als pauschale Vergütung“. Unumstritten ist das nicht: Die Fondsanleger tragen das Risiko, dass die verliehenen Aktien zu gesunkenen Kursen wieder ins Portfolio kommen, die Fondsgesellschaft kassiert die Hälfte der Zusatzerträge. 

Die meisten deutschen Fonds schreiben die Gewinne aus der Wertpapierleihe deshalb dem Fondsvermögen ihrer Anleger gut, berechnen dafür aber für das zugegebenermaßen aufwendige Geschäft happige Gebühren. So zog die Allianz-Tochter Dit Anlegern ihres Aktienfonds Concentra gut ein Viertel der Erträge ab, beim Thesaurus waren es knapp 16 Prozent an Gebühren für die Abwicklung der Leihe. 

Die Fondsgesellschaften beteuern, dass Aktienleihe den Anlegern nicht schade. Dabei ermöglichen die Geldverwalter mit dem Verleihen von Aktien überhaupt erst das gezielte Einprügeln auf einen bestimmten Wert. Doch „wenig liquide Aktien, die sich Hedge-Fonds nur bei uns besorgen könnten, geben wir nicht heraus“, heißt es unisono in der Branche. 

Bei großen Werten aber gilt: Wenn wir es nicht täten, täte es ein anderer. Vor Leihgeschäften müsse der Fondsmanager zustimmen – nur wenn der die Aktie für stark halte und sie lange im Fonds halten wolle, also eine andere Meinung als der Leerverkäufer habe, werde das Papier verliehen. Viele Fondsmanager mögen die Geschäfte trotzdem nicht. Steht hinter einer Aktie „Gesperrt wegen Wertpapierleihe“, können einige nicht schnell verkaufen – und müssen sich womöglich auf eine Hedge-Fonds-Attacke einstellen. „In der Baisse haben wir gegenüber unserer Zentrale durchgesetzt, dass unsere Aktien nicht verliehen werden dürfen“, berichtet ein Manager einer ausländischen Fondsgesellschaft in Frankfurt. 

Nur bei einem gesetzlichen Verbot der Aktienleihe oder wenn sich alle Fonds, Versicherer und Vermögensverwalter absprechen würden, könnte den Hedge-Fonds das Futter entzogen werden. Das aber will in der Frankfurter Finanzmeile niemand. Banken reagierten äußerst empfindsam auf Gesetzesinitiativen, die nach den Anschlägen vom 11. September darauf zielten, Aktienleihe und Leerverkäufe zu verbieten. „Leerverkäufe und damit auch Leihegeschäfte beschleunigen die Preiskorrektur überbewerteter Aktien“, sagt Holger Pfeiffer, für Wertpapierleihe verantwortlicher Direktor beim Bankhaus Sal. Oppenheim. Vom Gesetzesvorstoß blieb denn auch wenig übrig, außer einer wachsweichen Regel, die der Finanzaufsicht gestattet, im Krisenfall einzugreifen. 

Auf kurze Sicht können Leerverkäufer mit geliehenen Aktien Unheil anrichten, wenn sie es schaffen, Kurse nach unten zu schieben. So drückten Leerverkäufer mit Gerüchten und dem Verkauf geliehener Papiere die deutschen Bankenaktien Ende 2002 auf absurd niedrige Niveaus. Pfeiffer von Sal. Oppenheim warnt dennoch, Aktienleihe und Leerverkäufe zu mystifizieren: „Auch Hedge-Fonds gewinnen nicht häufiger als andere.“ Tatsächlich schnitten gerade Fonds, die vorwiegend short gehen, zuletzt nur mäßig ab (siehe Chart). 

Längst nicht immer gelingen die Angriffe. Anfang August kursierte in Frankfurt das Gerücht, Adidas-Salomon werde sich auf das Abenteuer einlassen, Reebok zu übernehmen. Eine Ente, die aber in der Lage gewesen wäre, den Adidas-Kurs zu drücken. Händler schwören, dass Leerverkäufer das Gerücht gegen Adidas gestreut hatten. „Ein Manöver, das gerade vor Veröffentlichung von Quartalszahlen immer wieder gespielt wird“, urteilt ein Frankfurter Aktienhändler. An Adidas verbrannten sich der Shortseller die Finger. Die Aktien stiegen weiter. 

Hauke reimer 

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