Analyse Versicherungsbranche auf schwierigem Kurs

Die deutsche Versicherungsbranche ist im Umbruch. Neue Gesetze, unzufriedene Kunden und Vertreter machen ihr zu schaffen. Nun mischt auch noch der Finanzvertrieb AWD mit seinem Einstieg beim Rivalen MLP den Markt auf. Was bedeutet das alles für die Kunden? Die Chefs der Konzerne stellen sich in Round Table und Interview den drängenden Fragen. Eine Exklusivstudie zeigt, was die Versicherer tun müssen.

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Ein Kunde füllteinen Antrag Quelle: dpa-dpaweb

Eine ganze Branche ist in Aufruhr. Deutschlands Versicherungen von Ergo bis Talanx, von AMB Generali bis Allianz kämpfen mit unzufriedenen Kunden, ihre Sympathiewerte fallen in den Keller. Die Vertreter gehen auf die Barrikaden und fürchten um ihre Provisionen. Verbraucherschützer kritisieren viele Policen als Abzockerei, an der die Versicherung, aber nicht der Kunde verdient.

Die Politik erhöht über neue Gesetze den Druck, die internationale Finanzkrise verhagelt den Versicherungen die Bilanz. Gleichzeitig müssen sie den Umbau ihrer über jahrzehntelang wie bei Behörden gewucherten Organisationen vorantreiben. Tausende Mitarbeiter werden dabei auf der Strecke bleiben – wird die Beratungsqualität nun besser?

Und wenn es noch eines Beweises bedurfte, welch dramatische Umwälzungen die Versicherungen in den kommenden Monaten und Jahren erwarten, so hat ihn der Finanzdienstleister AWD in diesen Tagen geliefert: Er beteiligt sich am Konkurrenten MLP und mischt damit den Vertrieb von Versicherungspolicen in Deutschland noch einmal kräftig auf.

Unter besonderem Druck stehen Herr Kaiser und seine Kollegen

Was bedeutet das alles am Ende für die Kunden? Wie fair kann Ihre Versicherung in Zukunft zu Ihnen sein? Die WirtschaftsWoche hat die Konzernchefs der größten deutschen Versicherer an einen Tisch gebeten. Herbert Haas, Torsten Oletzky und Dietmar Meister, die Vorstandsvorsitzenden von Talanx, Ergo und AMB Generali stellten sich den bohrenden Fragen. Nur der Marktführer Allianz hielt sich zurück.

In einem Doppelinterview stehen AWD-Chef Carsten Maschmeyer und Rolf Dörig, Verwaltungsrat von Swiss Life, Rede und Antwort. Der Finanzvertrieb gehört seit März dieses Jahres mehrheitlich dem Schweizer Versicherungskonzern. Welche Folgen wird die neue Offensive in Deutschland für die Kunden haben, wie unabhängig kann AWD unter der Führung von Swiss Life noch Versicherungspolicen verkaufen? Und was haben Swiss Life und AWD mit ihrer 27-Prozent-Beteiligung an MLP vor?

Die Unternehmensberatung Bain & Company hat in einer Exklusivstudie für die WirtschaftsWoche aufgezeigt, vor welchen Herausforderungen die Versicherungen insgesamt stehen und wie sie darauf reagieren können – um die Kunden nicht in die Arme neuer Konkurrenten zu treiben.

Die Kernfrage der Branche ist der Vertrieb. Unter besonderem Druck stehen dabei der berühmte Herr Kaiser und seine Kollegen, die klassischen Vertreter, die nur die Policen eines Versicherers verkaufen. Konzernungebundene Makler schnappen ihnen die Kunden weg, die gesetzlichen Anforderungen steigen, die Fluktuation ist enorm. „Von drei Vertretern, die in den Vertrieb einsteigen, überlebt am Markt nur einer“, sagt Ingo Wagner, Partner der Unternehmensberatung Bain & Company und Mitautor der Studie.

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Die Finanzkrise wird die Lage wohl noch verschärfen, der Druck auf die Vertreter wird steigen: Noch verdienen die Versicherer gutes Geld damit, Milliarden aus den Beiträgen ihrer Kunden an den Kapitalmärkten anzulegen. In diesem Jahr wird sich das ändern, denn die Finanzkrise hat die Börsen um 20 bis 25 Prozent abstürzen lassen, einige Versicherungen mussten schon Milliarden abschreiben.

Noch in den Achtzigerjahren hatten die Vertreter das Monopol im streng regulierten Versicherungsmarkt. Doch seit der Liberalisierung Mitte der Neunzigerjahre erobern Makler und Finanzvertriebe wie AWD, MLP und DVAG Marktanteile. Bei den Lebensversicherungen haben sie die Vertreter schon vom Thron gestürzt. Hinzu kommt: Die Versicherer verkaufen ihre Policen auch über Banken und machen ihren Vertretern mit eigenen Direktversicherungen Konkurrenz.

Die Strukturvertriebe kommen zwar jeweils nur auf einstellige Marktanteile, dennoch haben sie genügend Marktmacht, um den Versicherern die Höhe der Provisionen und Ausgestaltung der Produkte zu diktieren – wenn nun AWD und MLP näher zusammenrücken, wird sie noch zunehmen. „Sie können den Versicherern die Pistole auf die Brust setzen“, sagt Heijo Hauser, Managing Director der Beratung Towers Perrin.

Versicherungsmarkt stagniert

Dies trifft die Versicherer in einer schwierigen Situation: Denn insgesamt stagniert der Markt, er schrumpft in einigen Sparten sogar – ein erbitterter Preiskampf etwa bei der Autoversicherung kommt hinzu. Und das werde sich in den nächsten ein bis zwei Jahren auch nicht ändern, sagen Branchenexperten. In der Mittelschicht macht sich Inflations- und Abstiegsangst breit. Das drückt auf das Massengeschäft mit Lebensversicherungen. Zudem wollen sich viele nicht für die nächsten 30 Jahre binden. „Ohne Riester- und Rürup-Policen sähe es bei einigen Versicherern schlecht aus“, sagt Berater Hauser von Towers Perrin.

Vorgaben der Europäischen Union und des deutschen Gesetzgebers erschweren den Verkauf der Policen zusätzlich. Seit vergangenem Jahr müssen die Versicherungsvermittler nicht nur umfangreiche Beratungsprotokolle erstellen und so die Qualität ihrer Arbeit nachweisen. Seit dem 1. Juli dieses Jahres müssen sie auch die Kosten offenlegen, die für den Abschluss einer Lebens- oder Krankenversicherung fällig werden. Das sind meist mehrere Tausend Euro, von denen die Kunden bisher nichts ahnten – und die eine abschreckende Wirkung entfalten könnten. In die private Krankenversicherung dürfen jetzt zudem weniger Menschen, weil die Politik den Angestellten eine dreijährige Wartezeit vor dem Wechsel zu den Privaten auferlegt hat.

Wachstumsfelder sehen die Autoren der Studie von Bain vor allem in der betrieblichen Altersvorsorge und bei Policen, die mit dem Versicherungsmantel eine Geldanlage verbinden. „Die Vorsorge bleibt ein Wachstumsmarkt, allerdings verwischt die Grenze zwischen Bank-, Investment- und Versicherungsprodukt“, sagt Bain-Berater Wagner.

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In den meisten anderen Sparten ist Wachstum meist nur noch möglich, indem sich die Versicherungen gegenseitig Kunden abluchsen. Die Autoren der Bain-Studie gehen von einem sich verschärfenden Verdrängungswettbewerb aus. Mit klaren Gewinnern und Verlierern bei einem „Trend zur Polarisierung“ zwischen den großen Konzernen einerseits und Multispezialisten andererseits. Vor allem für „undifferenzierte Breitenversicherer“ wird es eng. Das sind vor allem mittelgroße Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die ähnlich wie Genossenschaften organisiert sind.

Ein stagnierender Markt und höhere gesetzliche Hürden machen das Neugeschäft also wesentlich schwieriger. Bis zu 30 Prozent könnte bei manch einem Versicherer das Neugeschäft mit Lebensversicherungen nach Schätzungen von Branchenexperten in diesem Jahr einbrechen, in der Krankenversicherung könnte bei einigen Gesellschaften gar ein Minus von bis zu 60 Prozent im Neukundengeschäft stehen.

Die Versicherer müssten sich daher vom „Neugeschäftsjäger zum Bestandspfleger“ wandeln, raten die Experten in ihrer Studie. Doch das ist für einige ein Problem. „Viele Versicherer sagen über sich selbst, dass sie besser Kunden gewinnen als Kunden halten können“, sagt Berater Wagner. Kundenloyalität ist daher neben der Verdrängung das zweite große Zukunftsthema. Versicherer wie die Allianz versuchen das mit großangelegten Kundenbindungsoffensiven. Wenn ein Kunde umzieht, wird er sich von seiner Versicherung künftig nicht mehr an irgendeine Agentur weiterreichen lassen. „Die besten Kunden kommen zu den besten Agenturen“, sagt Wagner.

Studie: Versicherer müssen ihre Bezahlungsmodelle ändern

Um Kunden länger zu halten, müssten die Versicherer auch die Bezahlungsmodelle ihrer Vertreter ändern, fordern die Studienautoren. Bisher bekommen die Vertreter – außer in der Schaden- und Unfallsparte – meist eine hohe Provision, wenn der Kunde einen Vertrag abschließt und nur eine sehr geringe über die Laufzeit des Vertrages.

Der Anreiz, den Kunden nach Abschluss weiter gut zu betreuen, sei gering, bemängeln auch Verbraucherschützer. Im Geschäft mit Schaden- und Unfallpolicen arbeite der Versicherungskonzern Talanx schon an einem neuen Vergütungssystem für seine Vermittler, sagt Talanx-Chef Haas. Das soll stärker auf die Vergütung für die Betreuung der Kunden zielen, ohne dass die Provisionen insgesamt geringer werden. Auch AMB-Generali-Chef Meister kann sich vorstellen, dass der Trend in Richtung flexiblere Versicherungen auch die Bezahlung der Vertreter verändern könnte.

Allianz-Chef Michael Diekmann Quelle: Andreas Pohlmann für WirtschaftsWoche

Die wohl größte Hürde auf dem Weg zu loyaleren Kunden liegt für die Versicherungen in ihrem schlechten Image. Von kaum einer Branche halten die Deutschen so wenig wie von den Versicherern. Die Bain-Experten haben jeweils 100 Kunden gefragt, wie wahrscheinlich es ist, dass sie ihren Versicherer einem Freund oder Kollegen weiterempfehlen. Das niederschmetternde Ergebnis: Bei fast allen Versicherungen ist die Zahl der Kritiker höher als die derjenigen, die den Anbieter weiterempfehlen würden. „Die Versicherer denken noch zu wenig aus Kundensicht“, sagt Wagner.

Deutlich wird dies schon in der Struktur vieler Versicherungen. Traditionell sind bei ihnen die Sparten „Leben“ und „Kranken“ sowie „Schaden- und Unfall“ strikt voneinander getrennt. Policen, die Elemente aus allen Bereichen enthalten, lassen sich so kaum entwickeln – auch wenn sie bei den Kunden auf Interesse stoßen würden. So bestimmt die interne Organisation der Anbieter und nicht der Markt die Produkte. Zumal so der Querverkauf schwieriger ist. Die Folge: Viele Deutsche haben etliche Versicherungen von verschiedenen Gesellschaften. Dies zu ändern ist den Studienautoren zufolge eine der Herausforderungen der Branche.

Oft geht es in puncto Kundenorientierung auch einfach darum, wie der Versicherer den Kunden anspricht. Ein typisches Beispiel aus der Schadensabwicklung: In einem Schreiben erklärt ein Versicherer seinem Kunden auf drei Seiten, warum der Schaden von seiner Police nicht gedeckt ist – um ihm dann auf Seite 4 mitzuteilen, dass er die Rechnung kulanzhalber dennoch übernimmt. „Bis dahin liest der Kunde aber gar nicht“, sagt Wagner. Schon nach der ersten Seite hat der nämlich den Hörer in die Hand genommen und wütend bei seiner Versicherung angerufen. Es wäre so einfach, dem Kunden schon auf Seite 1 zu sagen, dass er sein Geld bekommt. Das hört sich einfach an – kommt bei manchen Versicherungen allerdings einer Kulturrevolution gleich.

Policen kaum noch voneinander unterscheidbar

Hinzu kommt: Für die Kunden sind die Policen selbst heute kaum mehr wirklich voneinander zu unterscheiden. Das Problem wird sich verstärken, denn ein weiterer Trend in der Branche sind sogenannte Versicherungsfabriken. Dabei designt ein Anbieter standardisierte Policen, die er dann unter verschiedenen Markennamen und über verschiedene Vertriebswege verkauft. Der Vorteil für die Konzerne: Sie erhöhen ihre Produktivität.

Der Nachteil für die Kunden: Er verliert womöglich komplett den Überblick. Außer, die Versicherungen schaffen es, die Marken zu Orientierungspunkten zu machen. Die „emotionale Aufladung der Marke“ werde immer wichtiger, schreiben die Bain-Experten. Doch Versicherungspolicen sind eine so komplexe und sperrige Materie, dass sich die meisten Kunden nur ungern damit beschäftigen und kaum ein positives Gefühl für eine Marke aufbauen.

Einen Sportwagen kann sich der stolze Besitzer in die Hofeinfahrt stellen und die neiderfüllten Blicke der Nachbarn genießen; beim Schnäppchen im Schlussverkauf genießt der Konsument vielleicht noch das Glücksmoment eines cleveren Einkaufs. Die Versicherer bemühen in der Werbung seit Jahrzehnten die heile Familienwelt oder versuchen mit Personen wie jenem berühmten Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer eine gewisse Bindung herzustellen.

In Zukunft könnten neue Konzepte das Schema ablösen. Das Thema Fitness etwa; oder einer Versicherung gelingt es, sich als Preisführer darzustellen. Die fränkische HUK Coburg, die zweitgrößte Autoversicherung in Deutschland, hat das geschafft: In den Köpfen der Verbraucher gilt sie als günstigster Anbieter, obwohl sie gar nicht immer die billigsten Policen im Angebot hat. Doch das sind erst die ersten Schritte. Das Problem wird die Versicherungen und ihre Marketingabteilungen noch eine ganze Weile verfolgen.

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