44 Überstunden pro Woche H&M-Lieferanten bekommen laut Studie Armutslöhne

H&M-Lieferanten bekommen Armutslöhne Quelle: dpa

Vor fünf Jahren setzte sich Modekonzern H&M eine Frist: Bis Ende 2018 sollten alle Arbeiter der Produktionskette einen gerechten Lohn erhalten. Doch eine Untersuchung kommt zum Schluss: Davon sind sie weit entfernt.

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Abha Devis Arbeitstag beginnt um 4.30 Uhr. Sie steht auf, putzt das Haus, hängt die Wäsche auf und bereitet das Essen für ihre vier Kinder vor. Viel Zeit hat sie nicht: um 7.30 Uhr beginnt ihre Arbeit in einer Textilfabrik. Kommt sie auch nur eine Minute zu spät, wird ihr der Lohn für die gesamte Stunde gestrichen, erzählt sie. Um pünktlich zu sein, frühstückt sie selten. In der Fabrik ist es schwül, die Luftfeuchtigkeit lässt sie kaum richtig atmen, der Lärm der Maschinen drückt auf den Ohren. Zweimal ist Devi, die eigentlich anders heißt, bei der Arbeit ohnmächtig geworden. Beim zweiten Mal stieß sie sich an einer Maschine und erlitt innere Blutungen.

Sie ist die einzige, die in ihrer Familie Geld verdient. Mit umgerechnet 85 Euro im Monat muss sie sich und ihre Kinder durchbringen. Wenn Devi sich einen Tag frei nehmen möchte oder zu langsam ist, wird ihr der Lohn gekürzt. Um die Bildung ihrer Kinder zu sichern, näht sie jeden Tag elf Stunden lang T-Shirts und andere Kleidungsstücke. „Ich arbeite so hart, damit sie eine bessere Zukunft haben als ich und nicht in einer Bekleidungsfabrik arbeiten müssen“, sagt sie. Häufig mache sie Überstunden, bezahlt würden die nur selten, sagt sie.

Devi ist eine von tausenden Inderinnen, die in den Textilfabriken Asiens und Osteuropas schuften, damit T-Shirts in Deutschland zu Spottpreisen angeboten werden können. Sie arbeitet bei einem Zulieferer für den Modekonzern H&M. Das schwedische Unternehmen produziert keine Kleidung selbst, sondern bezieht alles von Lieferanten. Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen sind bei H&M nicht neu: Vor mittlerweile fünf Jahren setzte sich das Unternehmen zum Ziel, allen Arbeitern in der Produktionskette gerechte Löhne zu zahlen, um ihnen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Im Dezember 2018 läuft die selbst gesetzte Frist dafür aus.

von Henryk Hielscher, Jacqueline Goebel, Mario Brück

Anlass genug für die „Clean Clothes Campaign“ (CCC), die Arbeitsbedingungen bei mehreren Zuliefern der Kette in Indien, Kambodscha, Türkei und Bulgarien genauer zu untersuchen. Mit 62 Arbeiter sprachen die Autoren – und kommen zu einem vernichtenden Ergebnis: „Keiner der interviewten Arbeiter verdient ansatzweise einen existenzsichernden Lohn“, sagt Bettina Musiolek, Autorin der Erhebung und Verantwortliche von CCC. Viele der Arbeiter lebten mit ihren Familien trotz zahlreicher Überstunden unter der Armutsgrenze. Sonntagsarbeit sei die Regel und wenn Arbeiter versuchten, sich gewerkschaftlich zu betätigen, würden sie schikaniert und in vielen Fällen einfach gekündigt. Die von H&M eingeführten „Gold“- und „Platin“-Labels für besonders vorbildliche Zulieferer seien bedeutungslos.

CCC sah sich von März bis Juni dieses Jahres sechs H&M-Zulieferer in vier Ländern an. Die Bestandsaufnahme:

Bulgarien
In den Hallen eines von H&M als „Gold“ klassifizierten Lieferanten sind Arbeiter laut CCC-Beobachtungen gezwungen, zwölf Stunden am Tag und sieben Tage die Woche zu arbeiten, um auf den gesetzlichen Mindestlohn zu kommen. Zur Zeit der Recherche der „Clean Clothes Campaign“ gaben die Befragten an, im Schnitt 44 Überstunden pro Woche zu arbeiten. Besonders an Wochenenden sei die Belastung hoch, durchschnittlich schöben die Arbeiter hier zwölf Überstunden am Tag. Eine Arbeiterin erzählt: „Du betrittst die Fabrik um acht Uhr morgens und weißt nie, wann du sie wieder verlassen kannst. Manchmal gehen wir erst morgens um vier Uhr nach Hause.“

Das bulgarische Arbeitsrecht sieht vor, dass Überstunden während den Wochentagen mit 150 Prozent des Normallohns, an Wochenenden mit 175 Prozent vergütet werden. Nur selten würden diese Zuschläge tatsächlich gezahlt, berichten Arbeiter. Das Durchschnittsgehalt der Befragten liege abzüglich der Überstunden bei durchschnittlich 192 Leva, umgerechnet 98 Euro, pro Monat. Damit verdient ein Arbeiter gerade einmal umgerechnet 51 Cent in der Stunde. Der gesetzliche monatliche Mindestlohn liegt bei 400 Leva (204 Euro).

Im EU-Land Bulgarien sind zwar Kontrollen für Arbeitsbedingungen vorgesehen, doch diese blieben meist wirkungslos: „Staatliche Arbeitsinspektionen bestehen theoretisch zwar, sind aber schlecht ausgestattet und unterbesetzt“, berichtet Studienautorin Musiolek. „Außerdem kündigen sie ihre Kontrollen an, sodass Arbeitnehmer im Vorfeld angewiesen werden können, was sie den Inspekteuren antworten sollen.“ Bulgarien sei ein Land, in dem systematisch Gewerkschaften unterdrückt werden, um Lohnkosten zu drücken - das sei ein Standortvorteil.

Arbeitern bei Lieferanten soll ein existenzsichernder Lohn gezahlt werden, sind sich H&M und Aktivisten einig. Laut CCC könne ein solcher Lohn während einer normalen Arbeitswoche ohne Überstunden verdient werden. Berücksichtigt man den Maßstab der bulgarischen Wirtschaft, müssten Arbeiter allerdings rund 1112 Euro verdienen, um von Ernährung über Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bekleidung, Mobilität, Bildung bis zu Rücklagen von 10 Prozent die Grundbedürfnisse der arbeitenden Person und ihrer Familie abzudecken. Nach dieser Rechnung beträgt das Gehalt des untersuchten bulgarischen Zulieferers „Koush Moda“ gerade einmal neun Prozent eines existenzsichernden Lohn.

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