44 Überstunden pro Woche H&M-Lieferanten bekommen laut Studie Armutslöhne

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Kleidungsindustrie: Unwürdiges Gehalt und Ohnmacht vor Erschöpfung

Türkei
Knapp über dem Mindestlohn liegt laut CCC das Gehalt, welches die Angestellten beim Istanbuler Zulieferer „Pameks Giyim“ verdienen. Doch innerhalb einer Woche kämen durchschnittlich mehr als 23 Überstunden hinzu, klagen die Befragten. Die Arbeitszeit sei geregelt von „täglich acht Uhr morgens bis Mitternacht“ - ein Verstoß gegen das türkische Arbeitsgesetz. „Manchmal sieht mich, wenn ich nach Hause komme, niemand mehr aus der Familie. Ich falle nur noch ins Bett“, berichtet ein Arbeiter.

Doch aus Angst vor Lohnkürzung und Entlassung bleiben sie still. Umgerechnet 365 Euro netto im Monat verdienen die Arbeiter demnach, rund 1000 Euro weniger als die türkische Armutsgrenze für eine Familie. Gehaltsabzüge für Pausen oder zu langsames Arbeiten seien an der Tagesordnung. Auch dieser Standort ist von H&M als Lieferant mit einem „Gold“-Status bewertet. 1133 Euro müsste ein Arbeiter verdienen, um seine Grundbedürfnisse abzudecken und etwas zu sparen, rechnet eine türkische Gewerkschaft vor. „Pameks Giyim“ zahlt laut CCC gerade mal ein Drittel davon als Lohn.

Kambodscha
Den Lieferanten Eastex Garment and Seduno Investement Cambo Fashion klassifiziert H&M als „Platin“-Lieferanten. Schon 2016 wurde die Fabrik von CCC untersucht, Ergebnis: Arbeiter bekommen den Mindestlohn - auch ohne Überstunden leisten zu müssen. Doch Geld ist nicht alles: „Zwei Drittel der Befragten sind schon einmal während der Arbeit ohnmächtig geworden und alle bestätigten, dass sie bereits einmal Glucose-Infusionen gegen Dehydrierung erhalten mussten. Im Allgemeinen schien sich der gesundheitliche Zustand der Arbeiter im Vergleich zu 2016 verschlechtert zu haben“, berichtet CCC-Verantwortliche Musiolek.

85 Prozent der von CCC Befragten gaben an, einen befristeten Vertrag zu haben. Dieser müsste laut kambodschanischem Gesetz nach zwei Jahren in eine feste Anstellung übergehen. Zwei Drittel der Befragten seien aber schon länger in der Fabrik. “Alle interviewten Arbeiter berichteten von Lohnabzügen als Disziplinarmaßnahmen, was jedoch nach kambodschanischem Arbeitsgesetz illegal sowie nach H&M's Verhaltenskodex nicht zulässig ist“, erläutert Musiolek. Die Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre machten darüber hinaus nicht einmal die Inflation wett.

von Henryk Hielscher, Mario Brück, Jacqueline Goebel

Indien
Zehn Stunden dürfen indische Arbeitnehmer in einer Fabrik maximal arbeiten. Mehr als elf Stunden schuften die Männer und Frauen durchschnittlich bei zwei „Gold“-H&M-Zuliefern in Indien, fand die „Campaign Clean Clothes“ heraus. Aus Angst vor Disziplinarstrafen gaben die Befragten den Namen ihrer Firma nicht an. Bezahlt würden sie bar und auf Stücklohn-Basis, berichten einige der Arbeiter. Ohne Gehaltsabrechnung gebe es keine Möglichkeit, Verstöße gegen die gesetzlichen Regelungen nachzuvollziehen. Auch die Aufschläge für Sonntagsarbeit, die ihnen zustehen, würden verweigert.

Umgerechnet 97 Euro Nettogehalt bekommen die Arbeiter im Monat laut CCC-Erhebung. Indische Gewerkschaftsbunde fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 224 Euro. Das niedrige Gehalt führe über Umwege zur Mangelernährung, erklärt Bettina Musiolek. Eine Arbeiterin sagt: „Wir kaufen minderwertige Lebensmittel, die sind einfach günstiger.“ Um zu überleben, sparen die meisten Befragten in ersten Linie an ihrem Essen. Um ein würdevolles Leben zu führen, müssten sie das Dreifache verdienen.


„Ich recherchiere seit über 20 Jahren in der Bekleidungsindustrie Europas und Asiens, aber wie schlecht die Situation bei Vorzugslieferanten von H&M ist, hat mich doch geschockt. Sieben Tage zwölf Stunden lang arbeiten zu müssen und dann noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn zu erhalten, ist eines EU-Mitgliedsland unwürdig“, sagt Musiolek. Wie die Labels „Gold“ und „Platin“ zustande kämen, sei ihr völlig schleierhaft. Funktionäre von H&M würden meist nur mit dem Management der Fabriken reden und sich damit zufrieden geben, meint sie.

H&M sieht das freilich anders. Vergangene Woche veröffentlichte der Konzern einen Zwischenstand seiner „Fair Living Wage Strategy“ : Bei 500 Lieferanten, die 67 Prozent der Kleidung von H&M produzierten, sei das Lohnsystem überarbeitet und verbessert worden, heißt es dort. 594 Fabriken hätten demokratisch gewählte Arbeitnehmervertreter. „655 Fabriken, die insgesamt 84 Prozent unserer Produktion umfassen, verbessern ihr Lohnsystem, lassen Vertretungen für Arbeitnehmer demokratisch wählen oder machen beides. Die Änderungen umfassen 930.000 Arbeiter“, resümieren die Schweden.

„In allen von der „Clean Clothes Campaign“ genannten Fabriken haben wir sofort Nachforschungen eingeleitet“, kommentiert eine Sprecherin von H&M. Diese ergaben demnach keine Hinweise auf die Vorwürfe. Um zu garantieren, dass Lieferanten die Mindestanforderungen einhielten, habe das Unternehmen im vergangenen Jahr mehr als 1700 Mal Fabriken überprüft. Es sei ungewöhnlich, dass ein Lieferant versäume, notwendige Verbesserungen vorzunehmen, aber wenn das passiere, beende H&M die Geschäftsbeziehung in verantwortungsvoller Weise, sagt die Sprecherin. Dem Konzern ist wichtig, zu betonen, dass die Arbeiter in den Produktionshallen nicht von H&M direkt bezahlt würden, für Lohnverhandlungen seien die Zulieferer zuständig. Oft ist das Unternehmen jedoch einer der größten Kunden für Textilfabriken.

Wie die Kette zu ihren Schlussfolgerungen kommt, ist für Bettina Musiolek unerklärlich. „Wir haben von H&Ms Ankündigung, ein transparentes Lohnmanagement anzubieten, nichts gemerkt – im Gegenteil: Die meisten Arbeiter verstehen ihre eigenen Lohnzettel nicht“, kontert sie. Nach den Vorsätzen von 2013 habe sich nichts grundlegend verbessert. Dabei sei ein konsequentes Engagement der Konzerne wichtig: „Konsumenten haben wenig Chancen, etwas zu ändern, da sie von fast allen Händlern Produkte aus Niedriglohnländern bekommen. Die Marken haben die Macht, Zulieferer und Regierungen dazu zu bringen, Gesetze und Standards einzuhalten.“

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